Die Unterscheidung zwischen wertbegründenden bzw. wertbeeinflussenden und wertaufhellenden Ereignissen stellt in der Bilanzierungspraxis oft ein Abgrenzungsproblem dar. Besonders schwierig ist die Frage, welche Vorgänge des abgelaufenen Jahres noch in die Bilanz des aktuellen Jahres einfließen, wenn die Auswirkungen dieser Ereignisse erst im neuen Jahr konkret erkennbar werden. Um eine klare Trennung zwischen Wertaufhellung und Wertbegründung zu ermöglichen, wird in diesem Beitrag auf die bereits seit Langem in der Unternehmensbewertung etablierte Wurzeltheorie zurückgegriffen. Hiermit lassen sich die meisten Bilanzierungsfälle in der Praxis relativ einfach einordnen.
Praxis-Info!
Problemstellung
Die Wurzeltheorie ist ein bedeutendes Konzept in der Wirtschaft und im Rechnungswesen, das sich mit der Bewertung von Vermögensgegenständen und Sachgesamtheiten befasst. Diese Theorie besagt Folgendes: Wertveränderungen, die nach einem bestimmten Bewertungsstichtag auftreten, dürfen berücksichtigt werden, sofern ihre Ursachen bereits vor diesem Stichtag liegen. Dies ermöglicht eine realistischere und genauere Darstellung der finanziellen Lage eines Unternehmens, da alle vorhersehbaren Risiken und Verluste, die bis zum Bilanzstichtag entstanden sind, in die Bewertung einfließen. Die Anwendung der Wurzeltheorie ist besonders relevant bei der Erstellung von Jahresabschlüssen und bei der Bewertung von langfristigen Investitionen, da sie eine transparente Finanzberichterstattung fördert.
Lösung
1. Konkretisierung der bilanziellen Wertaufhellung
Im Kontext der bilanziellen Wertaufhellung bedeutet dies: Alle vorhersehbaren Risiken und Verluste, die bis zum Bilanzstichtag entstanden sind, müssen in die Bewertung einfließen, selbst wenn sie erst nach diesem Stichtag bekannt werden. Dies ist im Handelsgesetzbuch (HGB) unter § 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB geregelt.
Die folgende Betrachtung überträgt die schon 1973 vom BGH für die Unternehmensbewertung entwickelte Wurzeltheorie auf die Bilanzierung. Sowohl bei der Unternehmensbewertung als auch bei der Erstellung des Jahresabschlusses ist der Stichtag ein entscheidendes Kriterium. Im Bilanzrecht ist das Stichtagsprinzip durch § 242 Abs. 1 HGB festgelegt und wird in den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung (GoB) durch den Grundsatz der Periodenabgrenzung konkretisiert. Dabei kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass das Stichtagsprinzip sowohl in der Unternehmensbewertung als auch im Jahresabschluss angemessen ist. Die Anwendung der „Wurzeltheorie“, die im steuerrechtlichen Kontext durch die Berücksichtigung sog. wertaufhellender Tatsachen ihre Entsprechung findet, ist daher rechtlich zulässig.
Obwohl die relevanten Kommentierungen des Handelsrechts den Begriff der „Wurzel“ nicht direkt zur Konkretisierung der Wertaufhellung im Zusammenhang mit der Abgrenzung von vorhersehbaren Risiken verwenden, ist der zugrunde liegende Gedanke der Wurzeltheorie in der Literatur an verschiedenen Stellen zu finden. Es wird allgemein anerkannt, dass vorhersehbare Risiken dann in die Bilanz einbezogen werden müssen, wenn ihre Ursache bereits vor dem Bilanzstichtag liegt. Dabei kommt es nicht darauf an, ob diese Risiken zum Abschlussstichtag bereits erkennbar waren, wenn man ein objektives Verständnis von Wertaufhellung zugrunde legt.
2. Beispiel zur Anwendung der Wurzeltheorie in der Bilanzierungspraxis
Ein typisches Beispiel zur Anwendung der Wurzeltheorie sind Pauschalwertberichtigungen auf Forderungen. Dabei geht es um die bilanzielle Darstellung eines Risikos, nämlich der Möglichkeit, dass zum Bilanzstichtag bestehende Forderungen – insbesondere Forderungen aus Lieferungen und Leistungen – im folgenden Geschäftsjahr teilweise ausfallen. Dieses Risiko beschreibt „einen am Bilanzstichtag nicht mit Sicherheit vorhersehbaren, zukünftigen und damit nur potenziellen Umstand“. Hierbei bieten „die bisherigen betrieblichen Erfahrungen aus der Vergangenheit wertvolle Anhaltspunkte für die Schätzung, solange sich die Gegebenheiten nicht grundlegend ändern“. Die Prognose des Ausfallrisikos stützt sich daher auf die durchschnittlich in der Vergangenheit verzeichneten Forderungsausfälle, wodurch sich eine hinreichende – wenn auch nicht absolute – Vorhersehbarkeit aus den Erfahrungen vorangegangener Perioden ableiten und sogar statistisch berechnen lässt.
Für eine Pauschalwertberichtigung ist es demnach nicht erforderlich, dass am Abschlusstag konkrete Risiken für einzelne Forderungen bestehen. Es genügt die statistische Wahrscheinlichkeit eines berechenbaren Zahlungsausfalls, um die notwendige Vorhersehbarkeit zu gewährleisten. Da bei der Pauschalwertberichtigung auch solche Zahlungsausfälle berücksichtigt werden, die durch eine erst im neuen Geschäftsjahr eingetretene Zahlungsunfähigkeit einzelner Schuldner verursacht werden, kann die Einbeziehung aller Forderungen überzeugend nur durch die Wurzeltheorie erklärt werden. Denn ein spezifisches, vorhersehbares Ausfallrisiko ist bereits im Kern mit der Entstehung der Forderungen im alten Geschäftsjahr angelegt.
Um als wertaufhellende Ereignisse in die Bilanz des abgelaufenen Geschäftsjahres einfließen zu können, müssen die Ursachen der entstandenen Risiken oder Verluste betrachtet werden. Dieses Vorgehen eröffnet dem Kaufmann Spielräume bei der Gestaltung des Jahresabschlusses, weshalb eine Präzisierung erforderlich ist, um diese Spielräume einzugrenzen. Dies wird erreicht, indem die aus der Unternehmensbewertung bekannte Wurzeltheorie auch auf den Bereich der bilanziellen Wertaufhellung angewandt wird. Dabei ist es notwendig, dass die Ursache (also die „Wurzel“), die vor oder am Bilanzstichtag gelegt wurde, in einem tatsächlichen Zusammenhang mit dem Risiko oder Verlust steht, das bzw. der nach dem Stichtag eingetreten ist.
- Die vorsichtige Bewertung eines Kaufmanns gemäß § 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB erfolgt nicht am Abschlussstichtag, sondern für diesen Stichtag (§ 252 Abs. 1 Nr. 3 HGB). Dabei sind sämtliche vorhersehbaren Risiken und eingetretenen Verluste zu berücksichtigen, selbst wenn diese dem Bilanzierenden erst im Zuge der Erstellung der Bilanz bekannt werden.
- Die Übertragung der Wurzeltheorie auf den bilanzrechtlichen Kontext ist natürlich keineswegs eine neue Entwicklung. Die Praxisbeispiele zeigen, dass diese Theorie in der Bilanzierungspraxis bereits fest verankert ist – auch wenn sie den Anwendern möglicherweise bislang nicht ausdrücklich als „Wurzeltheorie“ bewusst war. In Zweifelsfällen kann der Rückgriff auf diese Denkweise die Zuordnung erleichtern.
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Dominik Römer, PKF Industrie- und Verkehrstreuhand GmbH WPG, München
BC 1/2025
BC20250116