Dr. Hans-Jürgen Hillmer
BFH-Urteil vom 22.8.2012, X R 23/10
Eine Rückstellung für hinterzogene Mehrsteuern kann erst zu dem Bilanzstichtag gebildet werden, zu dem der Steuerpflichtige mit der Aufdeckung der Steuerhinterziehung rechnen musste.
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Problemstellung
Im Streitfall betrieben Eheleute eine Pizzeria als Einzelunternehmen und ermittelten den Gewinn durch Betriebsvermögensvergleich. Im Rahmen einer 2005 für die Jahre 2001 bis 2003 angesetzten betrieblichen Außenprüfung fielen sehr niedrige Rohgewinnaufschlagssätze, Kalkulationsdifferenzen sowie Fehlbeträge in einer Geldverkehrsrechnung auf, weshalb die Steuerfahndung eingeschaltet und noch in 2005 ein Steuerstrafverfahren eingeleitet wurde (bekannt gegeben am 17.5.2005). Die Fahndungsprüfung wurde im weiteren Verlauf auf die Jahre 2004 und 2005 erweitert und am 13.12.2007 durch eine tatsächliche Verständigung über die Hinzuschätzung bestimmter Betriebseinnahmen sowie umsatzsteuerlicher Entgelte für die Jahre 2001 bis 2005 abgeschlossen.
Streitig war nun, zu welchen Zeitpunkten Rückstellungen für hinterzogene Mehrsteuern anzusetzen waren und ob dabei zwischen Mehrsteuern aufgrund der Außenprüfung bzw. der Steuerfahndungsprüfung zu unterscheiden war. Das Finanzgericht stellte sich insoweit weitgehend auf die Seite des Pizzabäckers und befürwortete zusätzliche Rückstellungen schon für die Jahre 2001 und 2003: Es vertrat die Auffassung, die höchstrichterliche Rechtsprechung könne nicht überzeugen; demzufolge dürften Mehrsteuern, die aufgrund einer Fahndungsprüfung festgesetzt werden, erst in dem Zeitpunkt passiviert werden, zu dem der Steuerpflichtige mit der Aufdeckung der Hinterziehung habe rechnen müssen. Gerade die Bilanz eines Steuerpflichtigen, der mit Hinterziehungsabsicht handle, sei von Anfang an – auch hinsichtlich der in zu geringer Höhe ausgewiesenen Aufwendungen für Betriebssteuern – subjektiv unrichtig und müsse daher im Zeitpunkt des Fehlerursprungs berichtigt werden.
Lösung
Was der juristische Laie in seinem Rechtsempfinden vielleicht als „gerecht“ ansehen mag, überzeugte den BFH aber ganz und gar nicht: Er ließ diese Auffassung mit ungewöhnlich scharfen und direkt auf die Argumentation des Finanzgerichts (FG) zielenden Worten nicht gelten. Aufhören lassen auch die Teile der Begründung, die mit nur wenig Fantasie als der Vorwurf von handwerklichen Fehlern und Unlust an der Sachverhaltsaufklärung der FG-Richter interpretiert werden können.
Der BFH kommt zu dem Ergebnis, die Entscheidung des FG, bereits in den Streitjahren eine Rückstellung für die hinterzogenen Steuern zuzulassen, verletze Bundesrecht. Im Streitfall konnte der Pizzabäcker zu den streitgegenständlichen Bilanzstichtagen (31.12. der Jahre 2001 und 2003) noch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit von seiner Inanspruchnahme von Mehrsteuern ausgehen, die erst im Jahr 2008 festgesetzt wurden.
Ausgangspunkt des BFH sind die Vorschriften, nach denen für ungewisse Verbindlichkeiten Rückstellungen zu bilden sind. Dies „setzt eine betrieblich veranlasste, aber ungewisse Verpflichtung gegenüber einem Dritten voraus, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit entstehen und zu einer Inanspruchnahme des Steuerpflichtigen führen wird und die ihre wirtschaftliche Verursachung im Zeitraum vor dem Bilanzstichtag findet“.
Im Streitfall ging es nun um Verpflichtungen, die aus Straftaten resultieren. Hier entsteht die Verbindlichkeit nach den maßgebenden zivil- oder öffentlich-rechtlichen Grundsätzen zwar bereits mit Begehung der Tat. Solange der Steuerpflichtige aber davon ausgehen kann, dass die Tat unentdeckt bleibt, stellt die Verbindlichkeit für ihn keine wirtschaftliche Belastung dar; denn es fehlt an der hinreichenden Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme. Ob eine Inanspruchnahme aus der ungewissen Verbindlichkeit zu erwarten ist, richtet sich nach den Verhältnissen des jeweiligen Bilanzstichtags unter Berücksichtigung der bis zur Bilanzaufstellung bekannt werdenden wertaufhellenden Umstände.
Eine Rückstellung ist erst zu dem Bilanzstichtag zu bilden, zu dem der Steuerpflichtige aufgrund eines hinreichend konkreten Sachverhalts ernsthaft mit einer quantifizierbaren Steuernachforderung rechnen muss, also frühestens dann, wenn der Prüfer eine bestimmte Sachbehandlung beanstandet hat. Dies wird in der Rechtsprechung mit dem Begriff der „aufdeckungsorientierten Maßnahme“ bezeichnet.
Dabei hätte es der BFH nun eigentlich bewenden lassen können, sah sich aber veranlasst, die entgegenstehende Auffassung der Kläger und des FG im Detail als unhaltbar darzustellen. Erkenntnisdefizite, mangelnde Sachverhaltsaufklärung und schlichte Fehlinterpretationen sind der Urteilsbegründung wie folgt zu entnehmen:
(1) Erkenntnisdefizite hinsichtlich der Rechtsprechung
Das FG hat unter Bezug auf die höchstrichterliche Rechtsprechung ausgeführt, es könne keine Kriterien erkennen, die für eine unterschiedliche Behandlung solcher Mehrsteuern, die auf Steuerhinterziehungen beruhen, im Vergleich zu Mehrsteuern infolge „üblicher“ Außenprüfungen sprächen. Das hält der BFH für ein klares Erkenntnisdefizit insoweit, als es eine ständige höchstrichterliche Rechtsprechung lediglich für Rückstellungen aufgrund hinterzogener Mehrsteuern gebe. Demgegenüber sei die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Frage des Zeitpunkts der Berücksichtigung von Mehrsteuern infolge einer Außenprüfung uneinheitlich.
Der vom FG hervorgehobene Umstand, dass im Streitfall bereits Steuerfestsetzungen über die Mehrsteuern vorlagen, ist dem BFH zufolge für den Zeitpunkt der Rückstellungsbildung unerheblich: „Denn nach der vorstehend angeführten Rechtsprechung sind die am jeweiligen Bilanzstichtag erkennbaren Verhältnisse maßgebend. Zu diesen Zeitpunkten brauchte der Kläger aber nicht mit einer Erhöhung der Steuerfestsetzungen zu rechnen.“
(2) Unlust an der Sachverhaltsaufklärung?
Soweit das FG nicht erkennen könne, welche Feststellungen es hinsichtlich des subjektiven und objektiven Tatbestands der Steuerhinterziehung treffen müsse und wie es den Grad der Wahrscheinlichkeit der Aufdeckung der Steuerhinterziehung beurteilen solle, legt die Entgegnung des BFH den Vorwurf der Arbeitsverweigerung nahe: „Insoweit ist auf die Vorschrift des § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO sowie auf den Grundsatz zu verweisen, wonach im Einzelfall auftretende Schwierigkeiten bei der Sachverhaltsermittlung (die aber, so der BFH, im vorliegenden Verfahren nicht erkennbar seien) es nicht erlauben, eine zutreffende Rechtsanwendung zu unterlassen … Für die Feststellung des Tatbestands einer Steuerhinterziehung gelten dieselben Maßstäbe wie auch in allen anderen Fällen, in denen Finanzgerichte über das Vorliegen eines solchen Sachverhalts entscheiden müssen.“
(3) Fehlende Grundlagenkenntnisse
Soweit das FG Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen der bilanzsteuerrechtlichen und der steuerstrafrechtlichen Beurteilung des Zeitpunkts einer Rückstellungsbildung sieht, verweist der BFH darauf, dass beide Rechtsgebiete ihren jeweils eigenen Zwecksetzungen folgen und die einkommensteuerrechtliche Beurteilung allein nach bilanzsteuerrechtlichen Grundsätzen vorzunehmen sei: „Die strafrechtliche Behandlung ist insoweit unerheblich.“
(4) Thema verfehlt
Auf die vom FG aufgeworfenen Fragen zur Bilanzberichtigung oder -änderung nach § 4 Abs. 2 EStG kommt es, so der BFH unzweideutig, „für die Entscheidung des Streitfalls nicht an“. Denn die ursprünglich vom Kläger aufgestellten Bilanzen für die Streitjahre 2001 und 2003 waren hinsichtlich des Fehlens der Rückstellungen für die hinterzogenen Steuern richtig, weshalb eine Bilanzberichtigung (die gemäß § 4 Abs. 2 Satz 1 EStG einen Verstoß gegen die GoB oder Vorschriften des EStG voraussetze) ausscheide. Auch eine Bilanzänderung (§ 4 Abs. 2 Satz 2 EStG) komme nicht in Betracht, weil hinsichtlich des Zeitpunkts der Passivierung hinterzogener Steuern kein Bilanzierungswahlrecht bestehe.
Eine auf die Anwendung der GoB gestützte Pflicht zur nachträglichen Bildung einer Rückstellung für das Jahr des Entstehens der Steuern ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung für folgenden Fall ausgesprochen worden: Danach ist ein Finanzamt, wenn es bereits im Veranlagungsverfahren anlässlich der Überprüfung der Steuererklärung eine Erhöhung des Gewinns vornimmt, verpflichtet, zugleich eine entsprechende Anpassung der Steuerrückstellungen vorzunehmen. Diese Situation lässt sich nach Auffassung des BFH nicht mit derjenigen nach einer Außenprüfung gleichsetzen. Soweit sich in der Praxis die Handhabung entwickelt haben sollte, dass auch nach Außenprüfungen eine Passivierung zusätzlich anfallender Steuern im Jahr ihrer wirtschaftlichen Verursachung zugelassen wird, könne dies den Senat für seine Beurteilung des Zeitpunkts der Passivierung hinterzogener Steuern nicht binden. Die Zulassung einer nachträglichen Rückstellungsbildung für Steuernachforderungen infolge einer Außenprüfung würde eine Ausnahme von den allgemeinen Bilanzierungsgrundsätzen bedeuten. Der BFH verwahrt sich auch gegen die Unterstellung des FG, im Rahmen der Steuerfahndungsprüfung sei „manipuliert“ worden. Denn nach dem Akteninhalt gebe es für den Anschein einer „Manipulation“ durch die Strafverfolgungsbehörden keine Anhaltspunkte. Diese hatte das FG darin gesehen, dass die Steuerfahndung hinsichtlich des Zeitpunkts der Rückstellungsbildung in verschiedene Richtungen zu „manipulieren“ versucht habe: So seien die Mehrsteuern im Ermittlungsbericht zulasten der Streitjahre abgezogen worden, weil dies für die Strafzumessung von Bedeutung sei. Im Entwurf des Strafbefehls seien die Mehrsteuern dann zulasten des Jahres der Tataufdeckung passiviert worden, weil dadurch die Einkommensteuer des Jahres 2005 auf Null habe reduziert und der Tatvorwurf insoweit habe beseitigt werden können. Für die Rückstellungsbildung reicht es also im Ergebnis weder aus, dass der Steuerpflichtige selbst von der Steuerhinterziehung Kenntnis hat (das käme ja auch quasi einer vorauseilenden Selbstanzeige gleich), noch dass nach allgemeiner Erfahrung im Anschluss an Außen- und Fahndungsprüfungen häufig mit der Festsetzung von Mehrsteuern zu rechnen ist.
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Dipl.-Kfm. Dr. Hans-Jürgen Hillmer, Coesfeld
BC 11/2012
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