Der BFH hat mit seinem Urteil vom 11.10.2012 (I R 66/11, BStBl. II 2013, 676) entschieden, dass Finanzierungskosten bei der Bemessung der Rückstellung für die Aufbewahrung von Geschäftsunterlagen als notwendiger Teil der Gemeinkosten im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 3a Buchst. b EStG auch dann zu berücksichtigen sind, wenn die Finanzierung im Rahmen einer sog. Poolfinanzierung erfolgt ist.
Von einer Poolfinanzierung spricht man, wenn ein Steuerpflichtiger seine gesamten liquiden Eigen- und Fremdmittel in einen „Pool“ gibt und daraus sämtliche Aufwendungen seines Geschäftsbetriebs finanziert.
Im zugrunde liegenden Urteil war Aufbewahrungspflichtiger ein Kreditinstitut. Die Grundsätze des Urteils sind jedoch auch bei anderen Steuerpflichtigen anzuwenden.
1. Ansatz in der Steuerbilanz
1.1. Poolfinanzierung
Bereits die ursprüngliche Anschaffung bzw. Herstellung der Archivräume muss poolfinanziert gewesen sein. Sind die Gebäude oder die Gebäudeteile (in denen sich die Aufbewahrungsräume befinden) durch unmittelbar zuzuordnende Einzelkredite finanziert worden, scheidet insoweit ein Ansatz von Poolfinanzierungskosten aus. In einem solchen Fall sind die Zinsen aus dem Einzelkredit direkt den Archivräumen zuzuordnen (z.B. nach Nutzflächenanteil).
Der Aufbewahrungspflichtige hat in geeigneter Weise glaubhaft zu versichern, dass die ursprüngliche Anschaffung bzw. Herstellung der Aufbewahrungsräume im Rahmen eines Pools finanziert wurde und diesbezüglich keine Einzelkreditaufnahme erfolgt ist.
1.2. Verursachungsgerechte Kostenschlüsselung
Voraussetzung für die Berücksichtigung von Finanzierungsaufwendungen als Gemeinkosten ist, dass die Zuordnung auf einer kaufmännisch vernünftigen, d.h. angemessenen und verursachungsgerechten Schlüsselung der Finanzierungskosten beruht. Bei einer Poolfinanzierung werden Eigen- und Fremdkapital untrennbar vermischt, sodass Kreditmittel nicht einer bestimmten Ausgabe konkret und unmittelbar zuordenbar sind. Aus diesen Gründen ist eine sachgerechte Schätzung erforderlich.
Es wird von der Annahme ausgegangen, dass eine kongruente Finanzierung der Aktiva vorliegt, d.h., der Zinsaufwand entfällt anteilig nach den Buchwerten auf die einzelnen Aktivposten (sog. Gleichverteilungshypothese).
Nach Ansicht des BFH besteht die Vermutung, dass der Zinsaufwand den für Archivierungszwecke genutzten Räumen nach der Fremdkapitalquote des Finanzierungspools zum Zeitpunkt der Anschaffung/Herstellung zuzurechnen ist.
Die Fremdkapitalquote des Finanzierungspools des Aufbewahrungspflichtigen im Zeitpunkt der Anschaffung/Herstellung der Archivräume ist zu ermitteln. Eine reine Schätzung der Quote zum Zeitpunkt der Anschaffung/Herstellung aufgrund der derzeitigen Quote ist nicht ausreichend. Es ist jedoch nicht zu beanstanden, wenn der Aufbewahrungspflichtige durch geeignete Berechnungen die ursprüngliche Quote aus der derzeitigen Quote ableitet (z.B. Verlauf der Fremdkapitalquote in den letzten Jahren in der Branche o.Ä.).
Ein weiteres zentrales Merkmal der Berechnung des Finanzierungskostenanteils ist der sog. durchschnittliche Passivzinssatz (vgl. 1.6. Beispiel zur Berechnung des Finanzierungskostenanteils). Der Zinssatz ermittelt sich als Quotient aus den tatsächlich gezahlten Zinsen und dem Fremdkapital:
1.3. Höhe des Fremdkapitalanteils in den Wirtschaftsjahren nach Anschaffung/Herstellung
Es ist zu überprüfen, ob der Fremdkapitalanteil des Finanzierungspools in den Jahren nach der Anschaffung/Herstellung der Archivräume unter den bei der ursprünglichen Anschaffung/Herstellung bestehenden Anteil gesunken ist. Sollte dies der Fall sein, so ist nach Ansicht des BFH davon auszugehen, dass die auf die Archivräume rechnerisch entfallenden Refinanzierungsschulden anteilig durch einen höheren Einsatz von Eigenkapital getilgt worden sind. Bei diesem niedrigeren Ansatz verbleibt es dann auch, wenn der Fremdkapitalanteil in nachfolgenden Jahren wieder ansteigt (vgl. BFH vom 11.10.2012, BStBl. II 2013, 676, Rz. 30).
Der Verlauf der Fremdkapitalquote ist durch geeignete Maßnahmen nachzuweisen. Kreditinstitute sind z. B. verpflichtet, jährlich ihre Fremdkapitalquote an die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) zu melden. Die Meldung kann als geeigneter Nachweis für den Verlauf der Fremdkapitalquote herangezogen werden.
Der durchschnittliche Passivzinssatz hingegen kann sich in den Wirtschaftsjahren nach der Anschaffung/Herstellung verändern, d.h., er ist nicht auf die Höhe im Zeitpunkt der Anschaffung/Herstellung begrenzt.
1.4. Minderung der Rückstellung in den Wirtschaftsjahren nach Anschaffung/Herstellung
Der BFH sieht es als sachgerechte Schätzung an, dass die auf die Archivräume entfallenden Zinsaufwendungen durch den (abschreibungsbedingten) Rückgang der Gebäudebuchwerte gemindert werden. Dies ist ein Ausfluss der kaufmännischen Schätzung, dass die den Aufbewahrungsräumen zugeordneten Kredite, ausgerichtet an der Nutzungsdauer, zurückgeführt werden (vgl. BFH vom 11.10.2012, BStBl. II 2013, 676, Rz. 31).
1.5. Höchstgrenzen bei Kreditinstituten
Handelt es sich bei dem Aufbewahrungspflichtigen um ein Kreditinstitut im Sinne des § 1 KWG, so unterliegt die Schuldzinsenschlüsselung einer Obergrenze. Diese Kreditinstitute müssen bestimmte Solvabilitätsgrundsätze beachten (vgl. § 10 KWG), d.h., der Fremdkapitalanteil darf bestimmte Grenzen nicht überschreiten. Dies stellt auch gleichzeitig die Obergrenze für die Kostenschlüsselung dar.
Die Regelungen, wie hoch die Fremdkapitalquote eines Kreditinstituts sein darf, sind sehr komplex. Die gesetzliche Grundlage findet sich in § 10 Abs. 1 Sätze 9 und 11 KWG i.V.m. § 2 der Verordnung über die angemessene Eigenmittelausstattung von Instituten, Institutsgruppen, Finanzholding-Gruppen und gemischten Finanzholding-Gruppen (Solvabilitätsverordnung – SolvV). Das aufbewahrungspflichtige Kreditinstitut hat im Einzelfall durch geeignete Mittel nachzuweisen, dass es die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt. Die Kreditinstitute sind verpflichtet, der Deutschen Bundesbank vierteljährlich ihren Bestand an Eigenmitteln mitzuteilen (§ 6 SolvV). Diese Mitteilungen sind geeignete Nachweismittel.
1.6. Beispiel zur Berechnung des Finanzierungskostenanteils
Der anteilige Buchwert (BuWe) der Archivräume beträgt zum 31.12.01 10.000 €, die jährliche AfA beträgt 300 €. Im Jahr 01 beträgt der durchschnittliche Passivzinssatz 3,5%, im Jahr 02 beträgt er 3,6%. Die Geschäftsunterlagen sind 6 Jahre aufzubewahren. Im Zeitpunkt der Anschaffung der Archivräume betrug das Eigenkapital im Pool 20.000 € und das Fremdkapital 80.000 €. Die Quote ist bis einschließlich 01 konstant geblieben. Im Jahr 02 beträgt die Fremdkapitalquote des Finanzierungspools 79%.
Berechnung:
Rückstellung zum 31.12.01:
Jahr | Anteiliger Buchwert | × | Fremdkapitalquote | × | durchschn. Passivzinssatz |
02 | 9.700 | × | 0,8 | × | 0,035 | = | | 272 |
03 | 9.400 | × | 0,8 | × | 0,035 | = | | 263 |
04 | 9.100 | × | 0,8 | × | 0,035 | = | | 255 |
05 | 8.800 | × | 0,8 | × | 0,035 | = | | 246 |
06 | 8.500 | × | 0,8 | × | 0,035 | = | | 238 |
07 | 8.200 | × | 0,8 | × | 0,035 | = | | 230 |
| | | | | | | | 1.504 |
Die durchschnittlichen Kosten pro Jahr betragen somit (: 6 Jahre) = | | | 251 |
Die jährlichen durchschnittlichen Kosten sind mit dem Faktor 3,5 zu multiplizieren | = | 879 |
Der Anteil der Finanzierungskosten in der Rückstellung für die Aufbewahrung von Geschäftsunterlagen zum 31.12.01 beträgt somit 879 €.
Durch den Faktor 3,5 wird der Tatsache Rechnung getragen, dass sich in den Archivräumen Unterlagen befinden, die noch unterschiedlich lange aufzubewahren sind.
Rückstellung zum 31.12.02:
Jahr | Anteiliger Buchwert | × | Fremdkapitalquote | × | durchschn. Passivzinssatz |
03 | 9.400 | × | 0,79 | × | 0,036 | = | | 267 |
04 | 9.100 | × | 0,79 | × | 0,036 | = | | 259 |
05 | 8.800 | × | 0,79 | × | 0,036 | = | | 250 |
06 | 8.500 | × | 0,79 | × | 0,036 | = | | 242 |
07 | 8.200 | × | 0,79 | × | 0,036 | = | | 233 |
08 | 7.900 | × | 0,79 | × | 0,036 | = | | 225 |
| | | | | | | | 1.476 |
Die durchschnittlichen Kosten pro Jahr betragen somit (: 6 Jahre) = | | | 246 |
Die jährlichen durchschnittlichen Kosten sind mit dem Faktor 3,5 zu multiplizieren | = | 861 |
Der Anteil der Finanzierungskosten in der Rückstellung für die Aufbewahrung von Geschäftsunterlagen zum 31.12.02 beträgt somit 861 €.
Würde die Fremdkapitalquote im oben genannten Beispiel im Jahr 03 wieder auf 80% ansteigen, so dürfte bei der Berechnung der Rückstellung zum 31.12.03 nur die Quote von 79% berücksichtigt werden (vgl. 1.3. Höhe des Fremdkapitalanteils in den Wirtschaftsjahren nach Anschaffung/Herstellung).
Beträgt die Aufbewahrungsfrist 10 Jahre, so ist die obige Berechnung zunächst für 10 Jahre durchzuführen, die Summe durch 10 zu teilen und anschließend mit dem Faktor 5,5 zu multiplizieren.
1.7. Davon abweichende Berechnung in der Praxis
Folgende Berechnung ist nicht zutreffend (Aufbewahrungsfrist 10 Jahre):
Bei dieser Berechnung wird nicht berücksichtigt,
– dass der Finanzierungspool auch einen Eigenkapitalanteil enthält und
– dass die in den zukünftigen Rechnungsperioden auf die Archivräume entfallenden Zinsen nach den in diesen Folgejahren jeweils geminderten Buchwerten zu berechnen sind.
2. Handelsrechtlicher Höchstansatz
Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass entsprechend R 6.11 Abs. 3 EStR 2012 die Höhe der Rückstellung in der Steuerbilanz den zulässigen Ansatz in der Handelsbilanz nicht überschreiten darf (zustimmend BFH vom 11.10.2012, BStBl. II 2013, 676, Rz. 14).
Die Regelung hat vor allem Bedeutung für Zeiträume, auf die erstmals das Gesetz zur Modernisierung des Bilanzrechts (BilMoG – BGBl. I 2009, 1102) anzuwenden ist. Durch das BilMoG wurde im Handelsrecht eine Abzinsungspflicht für Rückstellungen mit einer Restlaufzeit von mehr als einem Jahr eingeführt (§ 253 Abs. 2 HGB). Diese handelsrechtliche Abzinsungspflicht besteht auch dann, wenn steuerlich nicht abzuzinsen ist, weil bei einer Sachleistungsverpflichtung mit der Erfüllung bereits begonnen wurde (vgl. § 6 Abs. 1 Nr. 3a Buchst. e Satz 2 EStG).
Die maßgeblichen Regelungen des BilMoG sind verpflichtend für Geschäftsjahre anzuwenden, die nach dem 31.12.2009 beginnen (Art. 66 Abs. 3 Satz 1 EGHGB). Abweichend davon besteht ein Wahlrecht, die neuen Vorschriften des BilMoG bereits auf nach dem 31.12.2008 beginnende Geschäftsjahre anzuwenden (Art. 66 Abs. 3 Satz 6 EGHGB).
Ergibt sich für den Steuerpflichtigen aufgrund der Neuregelungen durch das BilMoG ein niedrigerer handelsrechtlicher Wertansatz, so ist dieser nach dem Maßgeblichkeitsgrundsatz des § 5 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 EStG auch für die Steuerbilanz bindend. Ein dadurch eventuell entstehender Auflösungsgewinn kann nach R 6.11 Abs. 3 Satz 2 EStR 2012 durch eine gewinnmindernde Rücklage in Höhe von 14/15 des Bewertungsgewinns neutralisiert werden (jährliche gewinnerhöhende Auflösung in Höhe von mindestens 1/15 in den nachfolgenden Wirtschaftsjahren).
3. Verfahrensrechtliche Abwicklung
Durch den BFH-Beschluss vom 31.1.2013 (GrS 1/10, BStBl. II 2013, 317) wurde der sog. subjektive Fehlerbegriff aufgegeben. Demnach kann die Einbeziehung von Finanzierungskosten (wenn die oben genannten Voraussetzungen erfüllt sind) grundsätzlich im ersten noch nicht bestandskräftig veranlagten Veranlagungszeitraum erfolgen. Dies gilt auch dann, wenn die Festsetzung dieses Jahres aus anderen Gründen bisher noch nicht in Bestandskraft erwachsen ist.
Wurde bereits eine Teil-Einspruchsentscheidung im Sinne des § 367 Abs. 2a AO erlassen, so kann die Berücksichtigung der Finanzierungskosten nur erfolgen, wenn diese Besteuerungsgrundlage in der Teil-Einspruchsentscheidung von der Bestandskraft ausgenommen worden ist.
Alle nachfolgenden Veranlagungszeiträume sind dann nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO (rückwirkendes Ereignis) wegen des formellen Bilanzenzusammenhangs zu ändern. Die Ermittlung der Rückstellung ist zum Ende eines jeden Wirtschaftsjahres mit den materiell zutreffenden Werten durchzuführen.
Die Berechnung des Zinslaufs im ersten Änderungsjahr und in den Folgejahren richtet sich nach den normalen Grundsätzen; ein abweichender Zinslauf wird nicht ausgelöst (AEAO zu § 233a, Nr. 10. 3.2).
Praxis-Info!
Die handels- und steuerrechtliche Rückstellungsbewertung beschränkt sich nicht allein auf Zinsen für Kredite, deren Valuten unmittelbar zur Finanzierung der Archivräume verwendet worden sind (Einzelkosten). Auch die im Wege einer Kostenschlüsselung (Schätzung) zuordenbaren Gemeinkosten sind zu berücksichtigen (= nicht unmittelbar der Aufbewahrungsverpflichtung zuzuordnende Zinsaufwendungen). In die Rückstellungsbewertung fließen somit die Vollkosten ein (Einzelkosten und die den einzelnen Kostenträgern (Leistungseinheiten) zuzuordnenden variablen und fixen Gemeinkosten). Voraussetzung: Diese Zuordnung muss auf einer kaufmännisch vernünftigen, d.h. angemessenen und verursachungsgerechten Schlüsselung der Finanzierungskosten (Gemeinkosten) beruhen.
Folgende Kosten sind bei der Rückstellungsbewertung für die Aufbewahrung von Geschäftsunterlagen einzubeziehen: - einmaliger Aufwand für die Einlagerung der am Bilanzstichtag noch nicht archivierten Unterlagen, ggf. Mikroverfilmung bzw. Digitalisierung und Datensicherung,
- Raumkosten (anteilige Miete bzw. Gebäude-AfA, Grundsteuer, Gebäudeversicherung, Instandhaltung, Heizung, Strom). Der anteilige Aufwand kann aus Vereinfachungsgründen entsprechend dem Verhältnis der Fläche des Archivs zur Gesamtfläche ermittelt werden,
- Einrichtungsgegenstände (AfA für Regale, Schränke),
- anteilige Personalkosten, z.B. für Hausmeister, Reinigung, Lesbarmachung der Datenbestände.
Ein Wahlrecht dürfte hingegen hinsichtlich der anteiligen Finanzierungskosten für die Archivräume bestehen (notwendige Gemeinkosten gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 3a Buchst. b EStG). Denn im ersten Leitsatz des BFH-Urteils vom 11.10.2012 (BStBl. II 2013, 676) heißt es: Die Bewertung einer Rückstellung für Aufbewahrungskosten kann Finanzierungskosten (Zinsen) enthalten. Die in der obigen Verfügung des Bayerischen Landesamts für Steuern eingangs erwähnte Berücksichtigungspflicht steht dem entgegen. Nicht rückstellungsfähig sind hingegen (laut Verfügung der OFD Magdeburg vom 21.9.2006, S 2137 – 41 – St 211) - die Kosten für die künftige Anschaffung von Regalen und Ordnern (§ 5 Abs. 4b EStG),
- die Entsorgung der Unterlagen nach Ablauf der Aufbewahrungsfrist sowie
- die Einlagerung künftig entstehender Unterlagen.
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[Anm. d. Red.]
BC 4/2014
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