Dr. Hans-Jürgen Hillmer
Bilanzskandale hat es immer wieder einmal gegeben: Herstatt, Flowtex, Comroad etc. sind manchem Bilanzexperten noch in Erinnerung. Jetzt aber werden mit dem Wirecard-Fall neue Dimensionen erreicht, die über Aspekte der Bilanzfälschung und Marktmanipulation durch einzelne Unternehmen hinaus mittlerweile das Aufsichts- und Enforcementsystem der Rechnungslegung insgesamt infrage stellen.
Praxis-Info!
Problemstellung
Weiterhin hohe oder sogar zunehmend brachiale Wellen verursacht der Fall Wirecard: Seit etwa zwei Wochen kommen beinahe täglich neue Aspekte ans Licht. Mittlerweile wird gegen den CEO Markus Braun nicht nur wegen Bilanzfälschung und Marktmanipulation ermittelt, sondern es geht auch um Betrug. Fraglich ist aus Sicht der in diesem Beitrag adressierten Bilanz- und Controllingexperten insbesondere, welche Verantwortung hierbei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) und der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR) zukommt.
Das untersucht auch die EU-Kommission, die gemäß Mitteilung vom 26.6.2020 ein mögliches Aufsichtsversagen in Deutschland im Fall Wirecard aufklären will. Dazu wurde die europäische Wertpapieraufsicht ESMA (European Securities and Markets Authority) eingeschaltet. Sollte die vorläufige Untersuchung der ESMA Mängel bei der Durchsetzung der EU-Vorschriften zur Finanzberichterstattung durch die deutsche Finanzaufsicht BaFin aufdecken, solle die EU bereit sein, Konsequenzen einzufordern. Hier geht es um das für die Kapitalmärkte so wichtige Vertrauen in die Finanzberichterstattung (siehe dazu auch hier). „Die Anleger müssen sicher sein, dass sie ordnungsgemäße und wahrheitsgemäße Informationen bekommen ... und dass die Bereitstellung dieser Finanzinformationen ordnungsgemäß überwacht wird“, sagt der Exekutiv-Vizepräsident Valdis Dombrovskis und warnt vor einem direkten Eingreifen (siehe unter https://ec.europa.eu/germany/news/20200626-wirecard_de): „Die EU-Transparenzrichtlinie überträgt den nationalen Aufsichtsbehörden wie der BaFin klare Verantwortlichkeiten, um sicherzustellen, dass die Unternehmen ihren Verpflichtungen einer korrekten Finanzberichterstattung nachkommen. Die europäische Wertpapieraufsichtsbehörde ESMA mit Sitz in Paris legt gemeinsame Durchsetzungsprioritäten für nationale Aufsichtsbehörden fest und kann in bestimmten Fällen auch direkt in die nationale Aufsicht eingreifen.“ Damit sind die BaFin und die DPR, aber auch die Aufsichtsorgane in den Unternehmen und die Wirtschaftsprüfer unmittelbar adressiert. Was also haben deutsche Rechnungsleger zu erwarten?
Lösung
Um das System zu verstehen, hilft ein Blick zurück auf eine Festveranstaltung anlässlich des 10-jährigen DPR-Bestehens, die am 3.7.2015 in Berlin stattfand; sinnigerweise hatte sich die auch landläufig als Bilanzpolizei bezeichnete Prüfinstitution als Veranstaltungsort das Konzerthaus am Gendarmenmarkt ausgesucht. Seit dem Jahr 2005 ist die DPR für die Durchsetzung von Rechnungslegungsnormen in Deutschland zuständig. Dabei bildet sie – neben Abschlussprüfer und Aufsichtsrat – die dritte Säule des Enforcements, der Sanktionierung von Regelverstößen (zur Grafik und mehr zu den Inhalten der Vorträge siehe unter https://www.frep.info/dpr_10_jahre.php).
Abb.: Enforcement (Sanktionierung von Regelverstößen in der deutschen Rechnungslegung)
Wer nun Aufklärung durch eine am 1.7.2020 herausgegebene DPR-Mitteilung erwartete, wird enttäuscht sein. Von der DPR – und auch von den zuständigen Abschlussprüfern – sind bislang keine Stellungnahmen zu lesen, die auf Fehlererkenntnis oder gar -beseitigung in den eigenen Reihen hindeuten. Stattdessen hat sich die Bilanzpolizei hinsichtlich des Wirecard-Bilanzbetrugs für nicht zuständig erklärt. In der Pressemitteilung vom 1.7.2020 hat die DPR sogar die Ordnungsmäßigkeit ihrer Prüfungen insgesamt bekräftigt und dabei ausdrücklich den Fall Wirecard eingeschlossen. Wörtlich wird festgestellt, „dass im Fall Wirecard zu keinem Zeitpunkt Mängel im Prüfablauf vorlagen und die Prüfung jederzeit streng nach den Vorgaben des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) und des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) erfolgt ist. Auch die Kommunikation mit der BaFin hat im üblichen Maß und in der etablierten Frequenz stattgefunden“.
Die DPR sieht ihre Aufgabe eng begrenzt lediglich darin, zu überprüfen, ob die Bilanzen nach den Rechnungslegungsgrundsätzen erstellt wurden. Das Aufspüren von Bilanzbetrug und daran anknüpfende Ermittlungen seien nicht Bestandteil des Aufgabenkatalogs. Zur Begründung wird angeführt, dass die „DPR als privatrechtlicher Verein – anders als ein Regierungsorgan – nicht mit den Durchgriffsrechten etwa einer Staatsanwaltschaft ausgestattet“ ist. Und weiter heißt es: „Sie ist immer auf die kooperative Mitwirkung des Unternehmens angewiesen.“ Man fragt sich: Wurde da vielleicht zu viel kooperiert und zu wenig geprüft?
Auch die Verteidigungsstrategie der BaFin konzentriert sich nun offenbar auf eine Nichtzuständigkeitsdebatte. Nachdem deren Chef Felix Hufeld am 23.6.2020 im Rahmen einer Tagung noch Selbstkritik geäußert und hinsichtlich Wirecard von einer „Schande“ für Deutschland (vgl. FAZ vom 23.6.2020, S. 15) gesprochen hatte, ging es in einer Anhörung nur eine Woche später um technisch anmutende Zuständigkeitsaspekte dahingehend, ob die Wirecard AG als Finanzholdung anzusehen ist oder nicht. Und die Pressemitteilung vom 1.7.2020 ist noch viel dürftiger als die der DPR: „Herr Hufeld hat zu keinem Zeitpunkt in der Sitzung des Finanzausschusses im Deutschen Bundestag vorgetragen, dass die Einstufung von Wirecard als Finanzholding an der Europäischen Zentralbank (EZB) gescheitert sei. … Die Wirecard AG sei bislang nach Einschätzung aller beteiligten Institutionen nicht als Finanzholding einzustufen gewesen.“
Schenkt man den Handelsblatt-Angaben vom 1.7.2020 Vertrauen, hatte die BaFin schon früh Hinweise auf Unregelmäßigkeiten und Probleme bei Wirecard erhalten. Da Wirecard nicht als Finanzholding eingestuft worden sei, konnte die BaFin nach Hufelds Darstellung aber lediglich die DPR mit einer Prüfung beauftragen. Das sei das schärfste Schwert einer Bilanzprüfung. Das erstaunt denn doch: Denn die DPR ist eher wohl das stumpfeste aller Schwerter, da es nach eigener DPR-Darstellung wegen Unzuständigkeit gar nicht aus der Scheide gezogen werden durfte.
Worum geht es eigentlich? Wirecard (Unternehmensgegenstand ist die Abwicklung von bargeldlosen Zahlungen für Händler wie z.B. Aldi-Süd) hatte eingeräumt, dass 1,9 Mrd. €, die das Unternehmen auf Treuhandkonten verbucht hatte, sehr wahrscheinlich nicht existieren. Inzwischen hat der seit knapp zwei Jahren im DAX (DAX30) gelistete Zahlungsdienstleister mit Sitz in Aschheim bei München Insolvenz angemeldet. Die Münchner Staatsanwaltschaft ermittelt u.a. gegen Ex-Vorstandschef Markus Braun nun auch wegen Betrug. Der vom Handelsblatt am 1.7.2020 bekannt gemachte Vorwurf lautet, dass hohe Beträge systematisch aus der Firma herausgeschleust wurden, etwa mittels überteuerter Käufe von Firmen, hinter denen Vertraute steckten. Am 2.7.2020 teilte ein Prozessfinanzierer mit: „Auch wenn es hierzulande bereits den einen oder anderen Fall von Bilanzbetrug gegeben hat, ist die Dimension bei Wirecard für Deutschland doch einzigartig: Eine im DAX30 notierte Gesellschaft muss per Ad-hoc-Mitteilung zugeben, dass rund 1,9 Milliarden Euro, die eigentlich auf Treuhandkonten bei zwei Banken liegen sollten, nicht auffindbar sind. Inzwischen scheint sicher: Das Geld hat es nie gegeben. In der Folge kam es zu einer regelrechten Kernschmelze von Wirecard. Der Kurs der Aktie brach um mehr als 95 Prozent ein, die Gesellschaft meldete Insolvenz an.“
Im Auge des Sturms ist neben der Wirecard AG mittlerweile auch die Prüfungsgesellschaft Ernst & Young (EY): Beispielsweise schätzte Hanns-Ferdinand Müller, Vorstand des Prozessfinanzierers FORIS AG, die Lage laut Mitteilung vom 2.7.2020 wie folgt ein: „Da EY die Wirecard-Bilanzen bereits seit 2009 durchgehend geprüft – und bestätigt – hat, stehen nun die Wirtschaftsprüfer selbst im Rampenlicht, wenn es um die Durchsetzung der milliardenhohen Schadenersatzforderungen geschädigter Anleger geht.“ Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft sehe sich deshalb einer zunehmenden Zahl von Klageankündigungen ausgesetzt. Zwar deutet für Müller zurzeit einiges darauf hin, dass selbst EY sich gewünscht hätte, die Testate für Wirecard nicht bis ins Jahr 2018 uneingeschränkt erteilt zu haben. Allerdings sind den geschädigten Wirecard-Anlegern noch nicht alle Umstände bekannt. „Genau das kann sich in den nächsten Monaten und Jahren ändern, wenn eine ganze Reihe von Behörden, Aufsichtsstellen und Unternehmen die Prüftätigkeiten von EY unter die Lupe nehmen werden“, ist Müller überzeugt, der mit führenden Bank- und Kapitalrechtskanzleien an gemeinsamen Lösungen arbeitet.
- Wer sich über Bilanzskandale in Deutschland informieren möchte, kann an einem in 2017 in 2. Auflage veröffentlichten Buch nicht vorbeigehen: Unter dem Titel „Bilanzskandale – Delikte und Gegenmaßnahmen“ haben die Autoren unter der Führung des renommierten Bilanzexperten Prof. Dr. Volker H. Peemöller (Preisträger des Ehrenpreises der BVBC-Stiftung in 2013) viele Fälle zusammengetragen, die beispielsweise von der Herstatt-Bank (1974) und der Metallgesellschaft (1993) sowie Flowtex (Bohrsysteme, 2000), Philipp Holzmann (Baukonzern, 2002) und Comroad (Telematikanbieter, 2002) über Phenomedia (Software, 2002), MLP (Finanzdienstleister, 2002) bis hin zur Olympus KK (Medizintechnik und Unterhaltungselektronik, 2006–2010), der Beluga Shipping GmbH (Schifffahrt, 2009–2011), der Hess AG (Leuchtenhersteller, 2007–2012) und Let’s GOWEX SA (Wi-Fi-Anbieter, 2009–2014) reichen.
- Der DPR wird u.a. vorgeworfen, nur einen Mitarbeiter mit der Wirecard-Prüfung beauftragt zu haben. Das ist in der Tat ein berechtigter Vorwurf; denn aus viel weniger bedeutsamen Kontrollprozessen wissen Bilanzbuchhalter und Controller: Zwei wesentliche Prinzipien eines gut funktionierenden internen Kontrollsystems sind das 4-Augen-Prinzip und das Prinzip der Funktionstrennung (siehe den Beitrag von Thurow). Wenn nicht einmal auf quasi höchster Ebene der Bilanzprüfung diese Elementaranforderung beachtet wird, dann muss schleunigst für Abhilfe gesorgt werden, zumal auch im Falle der Beachtung noch genug Versagensquellen drohen. Und dazu benötigt die DPR auch keine in ihrer Mitteilung vom 1.7.2020 offerierten „konstruktiven Gespräche mit den Ministerien im Hinblick auf die zukünftige Ausgestaltung des Enforcementsystems in Deutschland“, denn das könnte sofort umgesetzt werden. Immerhin hat die DPR ein ausführliches Q&A-Dokument (Frage-Antwort-Schreiben) zur Arbeit und zum Auftrag der DPR sowie zu Einzelheiten im Fall Wirecard unter https://www.frep.info/presse/pressemitteilungen.php zur Verfügung gestellt.
- Dennoch: Ob gerade dieses DPR-Statement vom 1.7.2020 geeignet ist, der dem Vernehmen nach vom Bundesjustiz- und Bundesfinanzministerium angekündigten Beendigung des DPR-Vertrags wirksam entgegenzutreten, darf bezweifelt werden. Abzuwarten bleiben überdies die Stellungnahmen der Wirtschaftsprüfer bleiben. Sie sollten aber bald kommen. Denn wer sich mit „aktuellen Mandatsgewinnen“ und einer „gestärkten Reputation“ schmückt, so der EY-Deutschland-Chef Hubert Barth unter https://www.ey.com/de_de/news/2019/10/transformation-der-wirtschaft-treibt-das-geschaeft-von-ey-in-deutschland, sollte sich zu rechtfertigen wissen, warum hier die besonders gerühmten Digitalisierungseffekte offenbar auch Luftnummern nicht erfassen können. „Wir haben uns sehr früh mit der Digitalisierung in der Wirtschaftsprüfung auseinandergesetzt und tätigen seit Jahren große Investitionen in Know-how und neue Technologien. Dazu gehören unsere weltweite digitale Prüfungsplattform Canvas und Tools zur Datenanalyse sowie zur automatisierten Unterstützung der Prüfungsdurchführung. Wir nehmen heute eine Vorreiterrolle bei der Digitalisierung der Abschlussprüfung ein.“ Und unter https://www.ey.com/de_de/digital-audit heißt es selbstbewusst: „Die digitale Abschlussprüfung von EY bietet Sicherheit, Zuverlässigkeit und neue Einblicke in das Finanzwesen und die Prozesslandschaft von Unternehmen.“ Wer, so fragt man sich, war dann auf welchem Auge blind?
- Nach Barth war es „schon immer die Wunschvorstellung jedes Wirtschaftsprüfers, das Zahlenwerk seines Mandanten vollständig erfassen zu können, statt anhand von Belegstichproben zu prüfen“. Heute sei diese Wunschvorstellung zu einem großen Teil Realität. Neue Hardware- und Softwaresysteme machen es möglich, in der Abschlussprüfung die Vorteile der Digitalisierung umfänglich zu nutzen; sich dynamisch entwickelnde Technologien agieren dabei als „Prüfungshelfer“. Helfen könnte es vielleicht auch, einfach mal häufiger auf (noch) analog ausgebildete Bilanzbuchhalter mit dem sog. „gesunden Menschenverstand“ zurückzugreifen, um im Wirecard-Fall zu verhindern, dass 1,9 Mrd. € und damit ein Viertel der Bilanzsumme verschwunden sind bzw. niemals existent waren.
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Dipl.-Kfm. Dr. Hans-Jürgen Hillmer, BuS-Netzwerk Betriebswirtschaft und Steuern, Coesfeld
BC 8/2020
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