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NZA Editorial

 

  • Superstreik

    Professor Dr. Richard Giesen, ZAAR, Ludwig-Maximilians-Universität München

    Heft 7/2023

    Autor NZA-Editorial Heft 7/2023, Richard Giesen

    Die jüngere Geschichte der richterrechtlichen Arbeitskampfordnung ist eine Folge erstaunlicher Tauschgeschäfte. Diese Geschäfte verliefen nach folgendem Muster. Ein richterrechtlich etabliertes Rechtsinstrument wurde durch ein anderes richterrechtliches Rechtsinstrument ersetzt, das in der weiteren Judikatur so weit dekonstruiert wurde, dass es faktisch verschwand: Im Jahr 1971 wurde vom BAG das „ultima ratio“-Prinzip ausführlich begründet, wonach der Arbeitskampf nur letztes Mittel sein kann, wenn keine Einigung gelingt (BAGE 23, 292 = NJW 1971, 1668). Deshalb mussten vor jedem Kampf Verhandlungen für gescheitert erklärt werden. 1976 wurde davon eine Ausnahme für kurze Warnstreiks geschaffen (BAGE 28, 295 = NJW 1977, 1079). Weil aber Warnstreiks immer länger wurden, beseitigte das BAG im Jahr 1988 diese Ausnahme, was dazu führte, dass die Erklärung des Verhandlungsscheiterns entfiel. Die „ultima ratio“ wurde durch den – schon 1971 begründeten – Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ersetzt, so dass der Eindruck blieb, es gäbe dennoch eine Rechtsprüfung (BAG NZA 1988, 846). Doch im Jahr 2007 tauschte das BAG die bisherige „Verhältnismäßigkeit“ gegen eine neue „Verhältnismäßigkeit“ ein. Nun war es Sache der kampfführenden Gewerkschaft und nicht des Richters, über Geeignetheit und Erforderlichkeit zu entscheiden (BAG NZA 2007, 1055). Somit wurde der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zum Untoten. Er taumelt umher, aber er lebt nicht.

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  • Fidschi oder Frankfurt – „workation“ Fragen über Fragen!

    Fachanwalt für Arbeitsrecht iR Dr. Georg-R. Schulz, München

    Heft 6/2023

    Autor NZA-Editorial Heft 6/2023, Georg-R. SchulzDas Zauberwort (work vacation) verheißt: Arbeit im Urlaub! Man stelle sich vor: Frau und Kinder lustig im Pool, der gestresste Mann vor dem Laptop im Schatten. Was für den workaholic selbstverständlich ist, taugt eher dem single im Büro. Bei ADIDAS, Bosch und SAP ist workation „grundsätzlich schon erlaubt“. (Werner, Süddeutsche Zeitung v. 9.1.2023, 13). Wünscht der Arbeitnehmer das Arbeitsmodell, kann er es mit der HR-Abteilung aushandeln, es sei denn, es gilt eine transparente erdumspannende Versetzungsklausel. In jedem Fall droht Ungemach: Die Zeitverschiebung verursacht einen Zwang zur pausenlosen „Rund-um-die-Uhr-Bereitschaft (§§ 3, 4 ArbZG!) und das Recht auf Nichterreichbarkeit bleibt auf der Strecke. Zum Lesen von SMSen als Arbeitszeit siehe instruktiv Bayreuther NZA-Beilage 2018, 103. Die Gesundheit des „Vacationworkers“ steht auf dem Spiel, denn Selbstausbeutung liegt nahe (§ 17 I ArbSchG!).

    Der Verstoß gegen § 8 BurlG ist evident. Gelten Schriftform- und Ausschlussklauseln auch im outback? Ab wieviel Prozent ist es schon work und bis wieviel Prozent noch vacation? Was liegt rechtlich vor: Arbeitnehmerentsendung, Arbeit auf Abruf, „home office extrem“, mobile working oder Arbeit in ausländischer Niederlassung? Auch Werkvertrag, freelancing oder Solo-Selbstständigkeit kommen in Betracht. Daher stellt sich die Frage: Wer muss wen, wo und wogegen versichern? Außerdem: Wer zahlt wo welche Steuern und setzt was davon ab? Klar ist wenigstens, dass der Arbeitgeber den Laptop stellt und die Aufgaben verteilt. Das ArbG München verneinte mit Urteil vom 27.8.2021 (12 Ga 62/21BeckRS 2021, 27679, dazu Stück, ArbRAktuell 2021, 534) den Anspruch einer Arbeitnehmerin darauf, ihre Arbeitsleistung für vier Wochen aus der Schweiz zu erbringen. Auf eine Erlaubnis im Arbeitsvertrag, einer Betriebsvereinbarung oder einem Tarifvertrag konnte sie ihr Begehren nicht stützen. Das ArbG verwies auf § 106 GewO und akzeptierte, dass die Arbeitgeberin die mit einer Auslandstätigkeit verbundenen „Kosten (für Gutachten oder die Einholung rechtsverbindlicher Auskünfte) nicht tragen“ wollte.

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  • Bundesrat stoppt das Hinweisgeberschutzgesetz

    Rechtsanwalt Dr. Boris Dzida, Freshfields Bruckhaus Deringer, Hamburg

    Heft 5/2023

    Autor NZA-Editorial Heft 5/2023, Boris Dzida

    Wenn das Hinweisgeberschutzgesetz (HinSchG) in Kraft tritt, wird es ein Meilenstein für das deutsche Recht sein. Erstmals werden wir in Deutschland einen weitreichenden Schutz von Hinweisgebern haben. Doch nun hat der Bundesrat dem Gesetz in seiner Sitzung am 10.2.2023 die Zustimmung verweigert. Die Gründe hierfür sind gewichtig: Der sachliche Anwendungsbereich sei zu weit, der bürokratische Aufwand sei zu hoch. Die vorgesehene Pflicht zur Einrichtung anonymisierter Meldekanäle berge Missbrauchspotenzial, und zwar auch für die Persönlichkeitsrechte anderer Arbeitnehmer. Die Nutzung interner Meldestellen des Arbeitgebers sollte Vorrang vor der externen Meldestelle beim Bundesamt für Justiz haben.

    Ein Meilenstein wie das HinSchG sollte von einem möglichst breiten Konsens getragen sein. Dies gilt insbesondere für den sachlichen Anwendungsbereich des Gesetzentwurfs, der weit über die Vorgaben der EU-Whistleblowing-Richtlinie hinausgeht. Neben den vorgegebenen europarechtlichen Gegenständen sollen überschießend auch Regelungen des nationalen Strafrechts und bestimmte Normen des Ordnungswidrigkeitenrechts einbezogen werden. Die Befürworter des weiten Anwendungsbereichs argumentieren, bei einem engen Anwendungsbereich, der sich auf die europarechtlichen Gegenstände beschränkt, würden sich Abgrenzungsschwierigkeiten ergeben: Der Hinweisgeber könnte nicht rechtssicher einschätzen, ob der von ihm gemeldete Verstoß eine Norm mit europarechtlichem Hintergrund betrifft. Dieses Argument überzeugt nicht. Beim Anwendungsbereich eines Gesetzes gibt es immer Abgrenzungsschwierigkeiten, egal wie weit man ihn fasst. Ein Beispiel aus dem vorliegenden Gesetzentwurf illustriert dies: Hiernach wäre ein Verstoß gegen die Unterrichtungspflicht nach § 106 II BetrVG vom sachlichen Anwendungsbereich des Gesetzes erfasst (Ordnungswidrigkeit nach § 121 BetrVG), ein Verstoß gegen die Unterrichtungspflicht nach § 80 II BetrVG dagegen nicht. Auch bei dem aktuell sehr weit gefassten Anwendungsbereich kann also keine Rede davon sein, dass Hinweisgeber ohne weiteres einschätzen können, ob der sachliche Anwendungsbereich des Gesetzes eröffnet ist.

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  • Die Arbeitszeit von Richterinnen und Richtern

    Fachanwalt für Arbeitsrecht Professor Dr. Stefan Lunk, Hamburg

    Heft 4/2023

    Autor NZA-Editorial 4/2023, Stefan LunkDas BAG hat am 13.9.2022 (1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616) das CCOO Judikat des EuGH (C-55/18, NZA 2019, 683) „umgesetzt“ und die Praxis „gerockt“. Unabhängig von einer Bewertung der Entscheidung ist sie nun der Goldstandard und verlangt von Arbeitgebern, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen, mit dem die von jedem Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann.

    Gilt das auch für die Richterschaft? Das erscheint angesichts der richterlichen Unabhängigkeit, Art. 97 I GG, und des faktischen Beamtenstatus abwegig. Das sah offenbar soeben auch das BVerwG so, als es einem Richter den Anspruch auf ein Lebensarbeitszeitkonto verwehrte. Ausweislich der bisher nur vorliegenden Pressemitteilung (3/23 v. 12.1.2023), aber in Übereinstimmung mit der Vorinstanz (VGH Kassel 28.10.2021 – 1 A 2254/17BeckRS 2021, 32497), entschied es, der Umfang des richterlichen Einsatzes werde nach Arbeitspensen bemessen und nicht wie bei Beamten nach konkret vorgegebenen Arbeits- bzw. Dienstzeiten. Ein Lebensarbeitszeitkonto setze aber die normative Festlegung einer Wochenarbeitszeit voraus.

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  • Eingruppierung von Servicekräften und das BVerfG

    Präsident des LAG Baden-Württemberg Dr. Eberhard Natter, Stuttgart

    Heft 3/2023

    Autor NZA-Editorial Heft 3/2023, Eberhard NatterEs lässt aufhorchen, wenn es Entscheidungen des BAG zum Eingruppierungsrecht des öffentlichen Dienstes bis zum BVerfG „schaffen“. Was war geschehen? Mit zwei Grundsatzurteilen vom 9.9.2020 – 4 AZR 195/20 (NZA 2022, 296) und 4 AZR 196/20 (BeckRS 2020, 40752) – hatte der 4.Senat zwei in der Justiz tätigen Servicemitarbeiterinnen eine Vergütung nach der EG 9a (anstatt bisher nach der EG 6) zugesprochen und damit eine Entscheidung vom 28.2.2018 – 4 AZR 816/16 (AP BAT-O §§ 22, 23 Nr. 47) bestätigt. Tausende Servicekräfte waren hiervon betroffen. Angesichts einer beträchtlichen betragsmäßigen Differenz zwischen den beiden Entgeltgruppen lösten die beiden Urteile in den Finanzministerien Unruhe aus.

    In dieser Situation entschlossen sich das prozessbeteiligte Land Berlin und die Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) im Frühjahr 2021 zur Einlegung einer Verfassungsbeschwerde gegen die beiden Urteile. Die Beschwerdeführer beriefen sich darauf, das BAG habe bei der Auslegung des zentralen Tarifbegriffs des Arbeitsvorganges den gemeinsamen (!) Willen der Tarifvertragsparteien missachtet – einen Willen, den der Tarifpartner ver.di so nicht sehen mochte.

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  • Gerichtliche Videokonferenzen – Missachtung der Arbeitsgerichtsbarkeit

    Präsident des LAG Hessen a. D. Dr. Peter Bader, Frankfurt a. M.

    Heft 2/2023

    Autor NZA-Editorial Heft 2/2023, Peter Bader„Die Beratung und Abstimmung sollen … weiterhin vor Ort in Präsenz aller zur Entscheidung berufener Richterinnen und Richter erfolgen. Diese Regelung erfolgt im Einklang mit der weiterhin erforderlichen Präsenz aller zur Entscheidung berufener Richterinnen und Richter im Sitzungszimmer während der mündlichen Verhandlung und soll der herausragenden Bedeutung der unmittelbaren Mitwirkung der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter an der Verhandlung Rechnung tragen.“

    Gut formuliert und richtig! Das ist ein Regelungsziel, das auch für die Arbeitsgerichtsbarkeit maßgebend sein muss. Entsprechend haben sich die 83. und 84. Konferenz der BAG-Präsidentin und der Präsidentinnen und Präsidenten der Landesarbeitsgerichte geäußert. Die 84. Konferenz in Kiel im Mai 2022 hat ein umfangreiches Diskussionspapier mit dem Titel „Digitalisierung nutzen! Kieler Reformvorschläge für einen besseren Zugang zur Arbeitsgerichtsbarkeit“ verabschiedet (NZA aktuell, Heft 11/2022, S. XIV ff.). Darin wird die Forderung erhoben, dass für das arbeitsgerichtliche Verfahren an der Anwesenheit des Spruchkörpers im Sitzungssaal auch bei Videoverhandlungen festgehalten werden soll (ebenso Francken NZA 2022, 1225 ff.).

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  • Das Arbeitsrecht im Umbruch

    Rechtsanwalt Professor Dr. Achim Schunder, NZA-Schriftleitung, Frankfurt a. M.

    Heft 1/2023

    Liebe Leserinnen, liebe Leser,

    Autor NZA-Editorial Heft 1/2023, Achim Schunderdas Jahr 2022 war noch weitgehend von der Corona-Pandemie und der auch arbeitsrechtlichen Aufarbeitung geprägt. Sowohl der Gesetzgeber als auch die Rechtsprechung haben dafür gesorgt, dass uns die Arbeit auch im neuen Jahr nicht ausgehen wird. An Legislativakten ist insbesondere die Novellierung des Nachweisgesetzes hervorzuheben. Neben der mitunter ungenauen textlichen Fassung der einzelnen Nummern von § 2 NachwG ist der Gesetzgeber mit der Umsetzung der Arbeitsbedingungenrichtlinie zum Teil über die Vorgaben hinausgegangen. So schreiben in Bezug auf die eingeführte Unterrichtungspflicht gegenüber Arbeitnehmern/innen Rolfs/Schmid (NZA 2022, 945): „Zugespitzt liefe eine umfassende Unterrichtungspflicht darauf hinaus, jedem Arbeitnehmer zu Beginn des Arbeitsverhältnisses einen Großkommentar zum Kündigungsrecht an die Hand zu geben“. Allein dies zeigt, dass gerade die Gestaltungspraxis vor mannigfaltigen Problemen bei der Abfassung neuer Arbeitsverträge steht, um die Anforderungen des Nachweisgesetzes zu erfüllen.

    Die Rechtsprechung hat eine Vielzahl interessanter, aber mitunter auch umstrittener Entscheidungen getroffen. Aus der „Pandemie-Judikatur“ möchte ich nur das Urteil des BAG zu coronabedingten Betriebsschließungen und Betriebsrisiko (NZA 2022, 1113) hervorheben. Gegenstand war eine Allgemeinverfügung zur Bekämpfung der Corona-Pandemie, der zufolge der Arbeitgeber die Betriebsstätte schließen und die Arbeitnehmer nach Hause schicken musste. Vergütung für diesen Zeitraum wurde nicht gezahlt, so dass eine Arbeitnehmerin Klage auf Annahmeverzugslohn erhob. Der 5. Senat stellt – zu Recht – klar, dass es für die Frage, ob der Arbeitgeber das Entgeltrisiko trage, auf den Zweck der Anordnung ankomme. Erfolge diese im Rahmen allgemeiner Maßnahmen staatlicher Stellen zur Pandemiebekämpfung, also gleichsam betriebsübergreifend zum Schutz der Bevölkerung vor schweren Krankheitsverläufen, realisiere sich gerade nicht ein in einem bestimmten Betrieb angelegtes Risiko. Deshalb entfalle eine Entgeltfortzahlungspflicht des Arbeitgebers.

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  • Pflicht zur Zeiterfassung – Jetzt ist erstmal Weihnachten!

    Rechtsanwälte Dr. Ulrich Sittard und Dr. Benjamin Pant, Freshfields Bruckhaus Deringer, Düsseldorf

    Heft 24/2022

    Foto des Autors von NZA-Editorial Heft 24/2022 Ulrich SittardDurch eine methodisch ambitionierte und vom europarechtlich gewollten Ergebnis beeinflusste Auslegung einer Rahmenvorschrift will das BAG (v. 13.9.2022, NZA 2022, 1616) nun entdeckt haben, was bisher verborgen war: Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung gibt es bereits. Dies soll sich aus § 3 II Nr. 1 ArbSchG ergeben, und zwar ab sofort. Oder eigentlich schon seit der CCOO-Entscheidung des EuGH vom 14.5.2019 (NZA 2019, 683). Es hatte nur niemand gemerkt, weshalb viele den Gesetzgeber am Zug sahen. Das ist er aber auch jetzt – der 1. Senat drängt den Gesetzgeber geradezu zu einer Regelung. Ein Referentenentwurf soll schon im ersten Quartal 2023 vorlegt werden. Besteht wegen der sofort geltenden Pflicht für Arbeitgeber Grund zur Panik? Der Eindruck mag beim Blick in die Presse und Social Media entstehen. Aber: Der Zeiterfassungsbeschluss ist eine gerichtliche Entscheidung und kein Gesetz. Es ist zwar naheliegend, dass andere Gerichte und Behörden ihn schon jetzt heranziehen. Das BAG geht in der Sache aber von einer weit verstandenen Rahmenpflicht aus, die beträchtlichen Spielraum zulässt. Besteht ein Betriebsrat, ist dieser an der Ausgestaltung der Zeiterfassung zu beteiligen. Der Arbeitgeber mit Betriebsrat kann die Entscheidung also gar nicht „sofort“ umsetzen.

    Foto des Autors von NZA-Editorial Heft 24/2022 Benjamin PantDie Reaktionsmöglichkeiten für Arbeitgeber sind breit gefächert: Die Einführung von neuen Zeiterfassungssystemen kostet Zeit, personelle Ressourcen und Geld. Sie setzt eine Gefährdungsbeurteilung voraus. Gleichzeitig droht bei der übereilten Neueinführung ausdifferenzierter Systeme die Gefahr, dass das ausverhandelte Ergebnis durch ein neues „Arbeitszeiterfassungsgesetz“ überholt wird. Damit ist niemandem geholfen. Das kann sogar bei einer übergangsweisen „Zeiterfassung light“ (zB Selbstaufzeichnung in Excel/Papier) passieren, weil etwa Mitarbeitergruppen aufgenommen werden, die vom Gesetzgeber ausgeklammert werden. Unseres Erachtens dürfen Arbeitgeber deshalb noch auf konkretere Signale aus Berlin warten. Bußgelder drohen selbst in diesem Fall zunächst nicht.

     

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  • Bloßer Ärger reicht nicht für DS-GVO-Schadensersatz

    Rechtsanwalt Professor Dr. Michael Fuhlrott, Hamburg

    Heft 23/2022

    Foto des Autors von NZA-Editorial Heft 23/2022 Michael RuttloffDatenschutz ist teuer, kein Datenschutz jedoch noch teurer: Dass die Verletzung datenschutzrechtlicher Vorschriften nicht nur auf Art. 83 DS-GVO gestützte Geldbußen im sechs- oder siebenstelligen Bereich nach sich ziehen kann, sondern überdies auch Ansprüche auf immateriellen Schadensersatz gem. Art. 82 DS-GVO des Verletzten begründet, ist angesichts einer zwischenzeitlich ausgeprägten arbeitsgerichtlichen Kasuistik kein für Verwunderung sorgender Befund mehr. Bei der Frage, wie der immaterielle Schadensersatz zu bemessen ist, wird dabei regelmäßig auf Erwägungsgrund 146 zur DS-GVO zurückgegriffen, wonach der Begriff des Schadens „weit“ auszulegen ist und die betroffenen Personen überdies „einen vollständigen und wirksamen Schadenersatz“ erhalten sollen.

    Wie dieser im Einzelnen zu bemessen ist, ist bislang höchstrichterlich weder national, noch supranational entschieden. Zwar hatte im Sommer 2022 der 2. Senat des BAG (5.5.2022 – 2 AZR 363/21, NZA 2022, 1191) durchaus Sympathien dafür anklingen lassen, dass eine bloße Nicht-Beantwortung des datenschutzrechtlichen Auskunftsanspruchs gem. Art. 15 DS-GVO keine Schadensersatz begründende Datenverarbeitung darstellt, musste dies aufgrund rechtskräftiger Feststellungen der Vorinstanz aber nicht abschließend beantworten. Damit ist derzeit ungeklärt, ob bei der Bemessung immateriellen Schadensersatzes eine Erheblichkeitsschwelle einzufordern ist, ob die Kriterien zur Bußgeldbemessung des Art. 83 DSGVO entsprechend herangezogen werden können oder ob dem Schadensersatz auch präventiver Charakter zukommen soll. Das BAG (26.8.2021 – 8 AZR 253/20 [A], NZA 2021, 1713) hatte bereits im Sommer letzten Jahres entsprechende Fragen im Wege der Vorabentscheidung an den EuGH adressiert, eine Klärung steht noch aus.

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  • Droht ein „CGZP-Déjà-vu“?

    Universitäts-Professor Dr. Wolfgang Hamann, Duisburg-Essen

    Heft 22/2022

    Foto des Autors von NZA-Editorial Heft 22/2022 Wolfgang HamannNach dem „CGZP-Desaster“, das durch die Entscheidung des BAG vom 14.12.2010 (1 ABR 19/10, NZA 2011, 289) zur Unwirksamkeit der „Billigtarifverträge“ der nicht tariffähigen Arbeitnehmervereinigung „Christliche Gewerkschaften Zeitarbeit und PSA“ ausgelöst wurde, droht der Zeitarbeitsbranche womöglich ein Déjà-vu. Art. 5 I Richtlinie 2008/104/EG über Leiharbeit stellt den Grundsatz des „equal pay and equal treatment“ zugunsten der Leiharbeitnehmer auf. Absatz 3 ermöglicht den Sozialpartnern, durch Tarifverträge von diesem Grundsatz abzuweichen, allerdings nur unter der „Wahrung des Gesamtschutzes der Leiharbeitnehmer“.

    Zur Klärung dieses Postulats hat das BAG mit Beschluss vom 16.12.2020 (5 AZR 143/19, NZA 2021, 800) ein Vorabentscheidungsverfahren gem. Art. 267 III AEUV eingeleitet (EuGH – C-311/21). Nun lassen die Schlussanträge von Generalanwalt Collins aufhorchen: Jede in einem Tarifvertrag enthaltene Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung zulasten der wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmern müsse durch die Gewährung von Vorteilen in Bezug auf andere wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen iSv Art. 3 I Buchst. f Leiharbeits-RL ausgeglichen werden. Das Arbeitsentgelt sei eine derart fundamentale Beschäftigungsbedingung, dass für jede Abweichung strengste Anforderungen an ihre Rechtfertigung zu stellen seien (Rn. 39). Und weiter: Bei den Ausgleichsvorteilen müsse es sich um solche handeln, die für unmittelbar vom entleihenden Unternehmen eingestellte Arbeitnehmer nicht zur Verfügung stünden (Rn. 48).

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  • Das Direktionsrecht als Mittel gegen die Pandemie

    Dr. David Marski, Berlin/Hannover

    Heft 21/2022

    Foto des Autors von NZA-Editorial Heft 21/2022 David MarskiDas in § 106 S. 1 GewO geregelte Direktionsrecht des Arbeitgebers kann man als Herzstück des Arbeitsvertrags bezeichnen. Nur wegen des Direktionsrechts liegt Weisungsabhängigkeit des Arbeitnehmers in zeitlicher, tatsächlicher und örtlicher Hinsicht vor. Das Direktionsrecht greift nach § 106 S. 2 GewO insbesondere auch für die Ordnung der Arbeitnehmer im Betrieb, also dem arbeitsbegleitenden Verhalten, die den Schutz der Betriebs- und Arbeitsmittel und der geschäftlichen Interessen des Arbeitgebers umfasst.

    Der Gesetzgeber hat erkannt, dass dieses Direktionsrecht nicht ohne Grenzen sein kann. So zeigt § 106 S. 1 GewO zwei Schranken. Die äußere Schranke besagt, dass durch Arbeitsvertrag, Bestimmungen einer Betriebsvereinbarung, eines anwendbaren Tarifvertrags oder durch Gesetz das Direktionsrecht eingeschränkt sein kann. Die innere Schranke zeigt, dass das Direktionsrecht nur „nach billigem Ermessen“ ausgeübt werden darf, also verfassungsrechtliche Bewertungen aufgrund des unbestimmten Rechtsbegriffs mit einfließen müssen. Das Einfallstor für eine mittelbare Drittwirkung der Grundrechte führt dazu, dass eine arbeitsrechtliche Weisung des Arbeitgebers stets einer zeitgemäßen rechtlichen Bewertung zugeführt werden kann und muss. 

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  • „Vorübergehend“ und (k)ein Ende?

    Universitäts-Professor Dr. Wolfgang Hamann, Duisburg-Essen

    Heft 20/2022

    Foto des Autors von NZA-Editorial Heft 20/2022 Wolfgang HamannKaum ein Wort dürfte jemals eine derart intensive Diskussion ausgelöst haben wie „vorübergehend“ in § 1 I AÜG. Auslöser war, dass es der nationale Gesetzgeber im Zuge der Umsetzung der Richtlinie 2008/104/EG über Leiharbeit im Jahr 2011 bei einer bloßen Übersetzung der Begriffe „temporarily“ in der englischen bzw. „de manière temporaire“ in der französischen Richtlinienfassung belassen hatte, obwohl bereits während des Gesetzgebungsverfahrens eine Konkretisierung angemahnt worden war. Die längst überfällige Konkretisierung erfolgte im Zuge der AÜG-Reform 2017: gesetzliche Überlassungshöchstgrenze von 18 Monaten mit tariflicher Abweichungsmöglichkeit (nur) durch die Tarifparteien der Einsatzbranche (§ 1 I 1b S. 3 AÜG). Daran entzündete sich neuer Streit. Die Zeitarbeitsbranche fühlt sich übergangen und reklamiert eine Verletzung ihrer Tarifautonomie. Neben anderen interpretiert die 4. Kammer des LAG Baden-Württemberg (Urt. v. 2.12.2020 – 4 Sa 16/20, NZA-RR 2021, 188) § 1 I 1b S. 3 AÜG als „negative Inhaltsnorm“ iSv § 4 I 1 TVG. Normative (Abweichungs-)Wirkung könne der Tarifvertrag nur entfalten, wenn der Leiharbeitnehmer einer der tarifschließenden Gewerkschaften angehöre. Falls nicht, käme es mit Überschreiten der 18-monatigen Überlassungshöchstdauer zu einem Arbeitsverhältnis kraft Gesetzes mit dem Entleiher (§§ 9 I 1 Nr. 1b, 10 I 1 AÜG). Andere, so auch die 21. Kammer des LAG Baden-Württemberg (Urt. v. 18.11.2020 – 21 Sa 12/20, NZA-RR 2021, 176), halten die Regelung für unbedenklich. Es handele sich um eine Betriebsnorm iSv § 3 II TVG.

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  • Living Wage statt marktorientierter Mindestlohn?

    Professor Dr. Christian Picker, Universität Konstanz

    Heft 19/2022

    Foto des Autors von NZA-Editorial Heft 19/2022 Christian PickerIn einer freiheitlich verfassten Rechts- und Wirtschaftsordnung werden Löhne nicht dirigistisch vom Staat festgesetzt. Die Lohnfindung erfolgt vielmehr privatautonom; insbesondere die Gewerkschaften sind verfassungsrechtlich dazu berufen, „gerechte“ Löhne im Wege „kollektiv ausgeübter Privatautonomie“ für ihre Mitglieder durchzusetzen. Die Tarifautonomie verleiht den Tarifvertragsparteien jedoch kein Normsetzungsmonopol. Die subsidiäre Regelungskompetenz des Staates greift vielmehr dann ein, „wenn die Koalitionen die ihnen übertragene Aufgabe, das Arbeitsleben durch Tarifverträge sinnvoll zu ordnen, im Einzelfall nicht allein erfüllen können und die soziale Schutzbedürftigkeit einzelner Arbeitnehmer oder Arbeitnehmergruppen oder ein sonstiges öffentliches Interesse ein Eingreifen des Staates erforderlich macht“ (BVerfGE 44, 322 (342) = AP TVG § 5 Nr. 15). Und da die Tarifautonomie im Niedriglohnsektor strukturell versagt, durfte der Gesetzgeber 2015 mit dem MiLoG intervenieren, um weiteren Lohnunterbietungswettbewerb zu verhindern und so kumulativ die sozialen Sicherungssysteme wie die Privatautonomie der betroffenen „Niedriglöhner“ zu schützen (C. Picker, RdA 2014, 25 ff.). Damals betonte der Gesetzgeber auch klar die Subsidiarität staatlicher Lohnkorrektur: „Der Mindestlohn zielt im Unterschied zum Tarifvertrag nicht darauf ab, einen umfassenden Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sicherzustellen“; deshalb sollte der Mindestlohn diese „vor Niedrigstlöhnen“ schützen, „die branchenübergreifend als generell unangemessen anzusehen sind“ (BT-Drs. 18/1558, S. 28).

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  • Equal pay for equal play?

    Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht Dr. Georg-R. Schulz, München

    Heft 18/2022

    Foto des Autors von NZA-Editorial Heft 18/2022 Georg-R. SchulzDer fulminante EM-Auftritt der DFB-Frauennationalmannschaft während der EM in England befeuerte eine Debatte, zu der SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz („you’ll never walk alone“) bei seinem Besuch des DFB-Campus wie folgt beitrug: „Wir haben 2022. Frauen und Männer sollten gleich bezahlt werden. Das gilt auch für den Sport, besonders für Nationalmannschaften…“ (Süddeutsche Zeitung v. 10.8.2022). Dieser – eher moralische – Appell kann sich rechtlich nur auf Gelder beziehen, die bei internationalen Turnieren von deren Veranstaltern (FIFA, UEFA) an die Verbände – je nach Erfolg der Teams – ausgeschüttet werden, nicht aber auf die privatautonomen Verträge zwischen den Vereinen und ihren Spielerinnen.

    Allerdings lässt der Schrei nach Gleichberechtigung jegliches wirtschaftliche Kalkül vermissen: Die Geldströme im Profifußball der Männer aufgrund Ticketing, Merchandising, Rechteverkauf und Transfererlösen haben völlig andere, nicht immer nachvollziehbare Dimensionen (das Gehaltsbudget 2022/23 des deutschen Rekordmeisters und Branchenprimus für Manuel Neuer, Thomas Müller & Co. soll knapp 275 Millionen EUR betragen) erreicht. Branchenkennern zufolge kassiert zB Stürmer Sadio Mané in dieser Saison ca. 20 Millionen EUR (Geld schießt eben doch Tore!). Die bei demselben Club angestellte Mittelfeldspielerin Julia Gwinn soll laut Insidern lediglich um 96.000 EUR verdienen.

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  • Digitalisierungsverbot: Der Schriftformzwang im Nachweisgesetz

    Hauptgeschäftsführerin der Nordostchemie-Verbände Nora Schmidt-Kesseler, Berlin

    Heft 17/2022

    Foto der Autorin von NZA-Editorial 17/2022 Nora Schmidt-KesselerAuf die Frage, welche Auswirkungen der Schriftformzwang im neuen Nachweisgesetz hat, antworte ich stets: Er kostet uns Berliner/innen den Grunewald. Das ist die traurige Wahrheit. Der Papierverbrauch in Deutschland ist mit jährlich fast 230 Kilogramm pro Kopf im internationalen Vergleich sehr hoch. Mit dem Nachweisgesetz wird er weiter steigen. Doch das Gesetz ist nicht nur für die Nachhaltigkeit ein Problem.

    Die neuen Nachweispflichten bringen für HR-Abteilungen erheblichen zusätzlichen Aufwand, den der Gesetzgeber massiv unterschätzt hat. Die Gesetzesbegründung nimmt an, dass nur 10 Prozent der Unternehmen ihre Vertragsvorlagen anpassen müssten. Tatsächlich haben fast alle Firmen enormen Anpassungsbedarf, der geschätzte Zeitaufwand von 21 Minuten geht an der Realität völlig vorbei. Hinzu kommt der Anspruch der Arbeitnehmer/innen, die vor dem 1.8.2022 beschäftigt waren, auf Anforderung spätestens nach sieben Tagen bestimmte nun notwendige Angaben ausgehändigt zu bekommen. Dass die Arbeitgeber für die Angaben anderer Arbeitsbedingungen mehr Zeit haben, bedeutet weiteren Mehraufwand. Sie müssen im Auge behalten, wann welche Arbeitsbedingung in Papierform ausgehändigt werden muss.

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  • Massenverfahren im Arbeitsrecht – Brauchen wir eine Verbandsklage?

    Richter am Arbeitsgericht Sönke Oltmanns, Neumünster

    Heft 16/2022

    Foto des Autors von NZA-Editorial Heft 16/2022 Sönke OltmannsDurch Massenverfahren hat die Belastung der deutschen Justiz in den vergangenen Jahren erheblich zugenommen. Ausgangspunkt hierfür war die Flut an Klagen vor den Zivilgerichten im Zusammenhang mit dem sog. Dieselskandal. Auch auf Grundlage dieser Erfahrungen werden seit einiger Zeit vor allem justizintern Lösungsvorschläge für eine bessere Bewältigung von Massenverfahren erörtert. Während sich diese Diskussionen bisher primär mit Reformen des Zivilprozessrechts befassen, hat die Justizministerkonferenz der Länder auf ihrer Herbsttagung am 11. und 12.11.2021 beschlossen, eine Arbeitsgruppe einzurichten, die etwaige Vorschläge zur Reform des Arbeitsprozessrechts ergebnisoffen prüfen soll (Beschluss  abrufbar unter https://www.justiz.nrw/JM/jumiko/beschluesse/2021/Herbstkonferenz_2021/TOP-I_-4---Massenverfahren-Arbeitsrecht.pdf). Ist das Arbeitsverfahrensrecht aber ohne Reformen tatsächlich nicht in der Lage, Sammelklagen prozessökonomisch abzuwickeln? Bedarf es hierfür gar der Einführung einer Verbandsklage? 

    Fakt ist, dass es auch im Arbeitsrecht das Phänomen der Massenklagen gibt, etwa die Klagen tausender ehemaliger IBM-Mitarbeiter/innen wegen ihrer Betriebsrentenanpassung (PM vom 20.7.2011, abrufbar unter https://landesarbeitsgericht-badenwuerttemberg.justiz-bw.de/pb/,Lde/2355224/?LISTPAGE=2355174, s. auch Diller 1105 in diesem Heft) oder die Verfahren zur unterschiedlichen Höhe der Nachtzuschläge in der Getränke- und Süßwarenindustrie (BAG 9.12.2020 – 10 AZR 332/29 (A)NZA 2021, 1121, s. dazu aktuell EuGH 7.7.2022 – C-257/21NZA 2022, 971 und Creutzfeldt NZA 2022, 1032). Hierdurch werden erhebliche gerichtliche Ressourcen gebunden, zumal alle individuell betroffenen Klageparteien ihre Rechte in separaten Verfahren geltend machen müssen. Zwar existieren bereits prozessuale Instrumente zur Geltendmachung von Ansprüchen einer Vielzahl gleichartig Betroffener.

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  • Das Tarifeinheitsgesetz vor dem EGMR

    Professor Dr. Daniel Ulber, Halle

    Heft 15/2022

    Foto des Autors von NZA-Editorial Heft 15/2022 Daniel Ulber

    Das Tarifeinheitsgesetz und kein Ende. Nunmehr hat sich auch der EGMR mit dem Gesetz befasst und es – nicht einstimmig – für vereinbar mit der EMRK erklärt (NZA 2022, 1058, in diesem Heft). Das gilt jedenfalls mit den Einschränkungen mit denen das BVerfG (NZA 2017, 915) das Gesetz für verfassungskonform erklärt hat. In Folge dieser Entscheidung hatten sich die Beschwerdeführer an den EGMR gewandt, der § 4a TVG für mit der EMRK vereinbar erklärt hat. Die Entscheidung ist aufgrund der bisherigen Rechtsprechung des EGMR nicht völlig überraschend.

    Den Eingriff in das durch Art. 11 II EMRK geschützte Recht auf Kollektivverhandlungen durch § 4a TVG hielt der EGMR für gerechtfertigt. War die Diskussion über die Verfassungsmäßigkeit des Tarifeinheitsgesetzes noch von Überlegungen geprägt, die bereits die Legitimität der vom Gesetzgeber verfolgten Ziele in Frage stellten, finden diese beim EGMR kein Gehör. Es sei legitim für ein gewisses Maß an Befriedung und Solidarität bei Tarifauseinandersetzungen im Betrieb zu sorgen. Die Ordnungsfunktion des Tarifvertrags findet so wohl ihre Anerkennung durch den EGMR, jedenfalls soweit der Gesetzgeber sie als Rechtfertigungsgrund nutzt. Gewerkschaften von Berufsgruppen mit Schlüsselpositionen daran zu hindern, auf Kosten der übrigen Belegschaft ihre Interessen durchzusetzen, sei legitim. Auch wenn der EGMR sich hinsichtlich der Vielfalt der Tarifsysteme in den Mitgliedstaaten zurückhält, darf man wohl konstatieren, dass er mit der in Deutschland vorherrschenden Sichtweise der Tarifautonomie als kollektiv ausgeübten Privatautonomie nicht allzu viel anzufangen weiß. Bei der Regelung der Tarifeinheit den Ausgleich der widerstreitenden Interessen vorzunehmen, sieht der EGMR als eine durch den Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers geschützte Entscheidung an. Er verweist dabei auch darauf, dass es kein allgemeines Verständnis der Vertragsstaaten der EMRK gebe, dass repräsentative Tarifverträge andere Tarifverträge nicht verdrängen dürften. Tarifpluralität ist kein „common ground“. Als Folge nimmt der EGMR den Kontrollmaßstab deutlich zurück. Ob der BVerfG verlangte Minderheitenschutz notwendig ist, um die Vereinbarkeit mit der EMRK abzusichern, scheint offen zu bleiben. Wichtig ist dem EGMR aber – ebenso wie dem BVerfG – der Hinweis, dass nach seiner Lesart das Recht, Arbeitskampfmaßnahmen zu ergreifen, durch das Gesetz nicht berührt wird. 

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  • Ein unterschätztes Risiko: Beitragspflicht in der eigenen Anwalts-GmbH

    Vors. Richter am LSG Stephan Rittweger, München

    Heft 14/2022

    Foto des Autors von NZA-Editorial Heft 14/2022 Stephan RittwegerAuch in der eigenen Rechtsanwalts-GmbH tätige Minderheits-Gesellschafter-Geschäftsführer sind dort beschäftigt und unterliegen der Beitragspflicht. Die im Berufsrecht, der BRAO, ausdrücklich garantierte Weisungsfreiheit zählt hier nicht, so das BSG mit Urteil vom 29.6.2022 (B 12 R 40/20). Aus sozialrechtlicher Sicht hätte jede andere Entscheidung erstaunt. Denn für die Ärzteschaft hatte das BSG 2019 (DStR 2019, 2494, s. auch das Editorial von Rolfs H. 14/2019) entschieden, dass deren Therapiehoheit hinter den regulatorischen Vorgaben im Krankenhaus rangiert. 2020 wurde der Minderheits-Gesellschafter-Geschäftsführer einer Steuerberatungs-GmbH als beschäftigt eingeordnet, die Freiberuflichkeit der Steuerberatung änderte nichts. Damit war abzusehen, dass selbst in der BRAO verankerte Weisungsfreiheiten statusrechtlich nicht zählen. 

    Die betroffene Kanzlei-GmbH wird nunmehr für die Vergangenheit Konsequenzen ziehen und Lösungen für die Zukunft finden. Damit ist sie nicht die erste und einzige. Alle Anwalts-GmbHs finden sich in der gleichen Situation wieder. Für die gesamte Vergangenheit muss die GmbH als Arbeitgeber Beiträge in die Renten- und Arbeitslosenversicherung nachentrichten (Versicherungsfreiheit bestand kranken- und pflegeversicherungsrechtlich wegen Überschreitens der Entgeltgrenzen).

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  • Vorlagen an den EuGH: Wieso? Weshalb? Warum?

    Professor Dr. Adam Sagan, MJur (Oxon), Bayreuth

    Heft 13/2022

    Foto des Autors von NZA-Editorial Heft 13/2022 Adam Sagan„Don’t ask silly questions!“ – Das war die klare Ansage von Sir David Edward, ehemals Richter am Gerichtshof der Europäischen Union, beim 5. Europarechtlichen Symposion des BAG im Jahr 2006 (zit. bei Spelge AE 2010, 223). Die unheilvolle Sentenz ist im Arbeitsrecht zum geflügelten Wort geworden.

    Zu den „dummen Fragen“ zählten weite Teile des arbeitsrechtlichen Publikums damals etwa die Vorlage des ArbG Berlin, die 2005 zum Urteil des EuGH in der Rechtssache Junk (NZA 2005, 213) führte. Es stellte sich heraus, dass das ArbG den sprichwörtlichen Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Für seine Entscheidung hat der EuGH überwiegend Zustimmung erfahren. Die Kritik an der Vorlage ist erstaunlicherweise dennoch nicht verstummt. Thüsing insinuiert, sie habe Rechtsunsicherheit geschaffen und mehr Schaden als Nutzen angerichtet; lege das BAG nicht vor, sollten die Instanzen ein etwaiges Vertragsverletzungsverfahren abwarten (Europäisches Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2017, § 1 Rn. 66). Das geht am Vorlagerecht der Instanzgerichte nach Art. 267 AEUV vorbei. Die Unsicherheit nach Junk war nicht das Resultat der Vorlage, sondern der beharrlichen Vorlageverweigerung des BAG, an der es in puncto Vertrauensschutz auch nach Junk festhielt und damit gegen das Grundgesetz verstieß (BVerfG NZA 2015, 375).

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  • Transparente Arbeitsbedingungen und das Kündigungsrecht

    Präsident des LAG Hessen a.D. Dr. Peter Bader, Frankfurt a. M.

    Heft 12/2022

    Foto des Autors von NZA-Editorial Heft 12/2022 Peter BaderBis zum 1.8.2022 soll die EU-Richtlinie 2019/1152/EU über transparente und vorhersehbare Arbeitsbedingungen umgesetzt sein. Der Bundestag hat am 23.6.2022 über den Regierungsentwurf des Umsetzungsgesetzes (BT-Drs. 20/1636) beraten. Es geht dabei einerseits um eine Erweiterung der Nachweispflichten nach § 2 I NachwG, andererseits um zusätzliche Mindestanforderungen an die Arbeitsbedingungen. Was die Kündigung von Arbeitsverhältnissen angeht, wird das Umsetzungsgesetz in dieser Form bedauerlicherweise nicht in dem erforderlichen Umfang die wünschenswerte Klarheit und Rechtssicherheit bringen, der Arbeitgeber wird partiell allein gelassen.

    Art. 4 II lit. j der Richtlinie gibt vor, dass über das bei der Kündigung des Arbeitsverhältnisses vom Arbeitgeber und vom Arbeitnehmer einzuhaltende Verfahren zu informieren ist, einschließlich der formellen Anforderungen und der Länge der Kündigungsfristen, oder, falls die Kündigungsfristen zum Zeitpunkt der Unterrichtung nicht angegeben werden können, die Modalitäten der Festsetzung der Kündigungsfristen. Was das konkret bedeuten soll, wird in der Neufassung des § 2 I 2 Nr. 14 (bisher Nr. 9) NachwG, die hinter dem Wortlaut der Richtlinie zurückbleibt, nicht hinreichend deutlich. Als Mindestinformationen dazu werden die Schriftform – offenbar des § 623 BGB, obwohl es auch ansonsten Schriftformerfordernisse gibt – und die Kündigungsfristen angesprochen. Schon die Angabe der Kündigungsfristen oder jedenfalls der Modalitäten der Berechnung wirft jedoch Probleme auf (Rolfs ZFA 2021, 283 (301) und NZA Editorial H. 7/2022, S. III).

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