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NZA Editorial

 

  • „Vorübergehend“ und (k)ein Ende?

    Universitäts-Professor Dr. Wolfgang Hamann, Duisburg-Essen

    Heft 20/2022

    Foto des Autors von NZA-Editorial Heft 20/2022 Wolfgang HamannKaum ein Wort dürfte jemals eine derart intensive Diskussion ausgelöst haben wie „vorübergehend“ in § 1 I AÜG. Auslöser war, dass es der nationale Gesetzgeber im Zuge der Umsetzung der Richtlinie 2008/104/EG über Leiharbeit im Jahr 2011 bei einer bloßen Übersetzung der Begriffe „temporarily“ in der englischen bzw. „de manière temporaire“ in der französischen Richtlinienfassung belassen hatte, obwohl bereits während des Gesetzgebungsverfahrens eine Konkretisierung angemahnt worden war. Die längst überfällige Konkretisierung erfolgte im Zuge der AÜG-Reform 2017: gesetzliche Überlassungshöchstgrenze von 18 Monaten mit tariflicher Abweichungsmöglichkeit (nur) durch die Tarifparteien der Einsatzbranche (§ 1 I 1b S. 3 AÜG). Daran entzündete sich neuer Streit. Die Zeitarbeitsbranche fühlt sich übergangen und reklamiert eine Verletzung ihrer Tarifautonomie. Neben anderen interpretiert die 4. Kammer des LAG Baden-Württemberg (Urt. v. 2.12.2020 – 4 Sa 16/20, NZA-RR 2021, 188) § 1 I 1b S. 3 AÜG als „negative Inhaltsnorm“ iSv § 4 I 1 TVG. Normative (Abweichungs-)Wirkung könne der Tarifvertrag nur entfalten, wenn der Leiharbeitnehmer einer der tarifschließenden Gewerkschaften angehöre. Falls nicht, käme es mit Überschreiten der 18-monatigen Überlassungshöchstdauer zu einem Arbeitsverhältnis kraft Gesetzes mit dem Entleiher (§§ 9 I 1 Nr. 1b, 10 I 1 AÜG). Andere, so auch die 21. Kammer des LAG Baden-Württemberg (Urt. v. 18.11.2020 – 21 Sa 12/20, NZA-RR 2021, 176), halten die Regelung für unbedenklich. Es handele sich um eine Betriebsnorm iSv § 3 II TVG.

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  • Living Wage statt marktorientierter Mindestlohn?

    Professor Dr. Christian Picker, Universität Konstanz

    Heft 19/2022

    Foto des Autors von NZA-Editorial Heft 19/2022 Christian PickerIn einer freiheitlich verfassten Rechts- und Wirtschaftsordnung werden Löhne nicht dirigistisch vom Staat festgesetzt. Die Lohnfindung erfolgt vielmehr privatautonom; insbesondere die Gewerkschaften sind verfassungsrechtlich dazu berufen, „gerechte“ Löhne im Wege „kollektiv ausgeübter Privatautonomie“ für ihre Mitglieder durchzusetzen. Die Tarifautonomie verleiht den Tarifvertragsparteien jedoch kein Normsetzungsmonopol. Die subsidiäre Regelungskompetenz des Staates greift vielmehr dann ein, „wenn die Koalitionen die ihnen übertragene Aufgabe, das Arbeitsleben durch Tarifverträge sinnvoll zu ordnen, im Einzelfall nicht allein erfüllen können und die soziale Schutzbedürftigkeit einzelner Arbeitnehmer oder Arbeitnehmergruppen oder ein sonstiges öffentliches Interesse ein Eingreifen des Staates erforderlich macht“ (BVerfGE 44, 322 (342) = AP TVG § 5 Nr. 15). Und da die Tarifautonomie im Niedriglohnsektor strukturell versagt, durfte der Gesetzgeber 2015 mit dem MiLoG intervenieren, um weiteren Lohnunterbietungswettbewerb zu verhindern und so kumulativ die sozialen Sicherungssysteme wie die Privatautonomie der betroffenen „Niedriglöhner“ zu schützen (C. Picker, RdA 2014, 25 ff.). Damals betonte der Gesetzgeber auch klar die Subsidiarität staatlicher Lohnkorrektur: „Der Mindestlohn zielt im Unterschied zum Tarifvertrag nicht darauf ab, einen umfassenden Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sicherzustellen“; deshalb sollte der Mindestlohn diese „vor Niedrigstlöhnen“ schützen, „die branchenübergreifend als generell unangemessen anzusehen sind“ (BT-Drs. 18/1558, S. 28).

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  • Equal pay for equal play?

    Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht Dr. Georg-R. Schulz, München

    Heft 18/2022

    Foto des Autors von NZA-Editorial Heft 18/2022 Georg-R. SchulzDer fulminante EM-Auftritt der DFB-Frauennationalmannschaft während der EM in England befeuerte eine Debatte, zu der SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz („you’ll never walk alone“) bei seinem Besuch des DFB-Campus wie folgt beitrug: „Wir haben 2022. Frauen und Männer sollten gleich bezahlt werden. Das gilt auch für den Sport, besonders für Nationalmannschaften…“ (Süddeutsche Zeitung v. 10.8.2022). Dieser – eher moralische – Appell kann sich rechtlich nur auf Gelder beziehen, die bei internationalen Turnieren von deren Veranstaltern (FIFA, UEFA) an die Verbände – je nach Erfolg der Teams – ausgeschüttet werden, nicht aber auf die privatautonomen Verträge zwischen den Vereinen und ihren Spielerinnen.

    Allerdings lässt der Schrei nach Gleichberechtigung jegliches wirtschaftliche Kalkül vermissen: Die Geldströme im Profifußball der Männer aufgrund Ticketing, Merchandising, Rechteverkauf und Transfererlösen haben völlig andere, nicht immer nachvollziehbare Dimensionen (das Gehaltsbudget 2022/23 des deutschen Rekordmeisters und Branchenprimus für Manuel Neuer, Thomas Müller & Co. soll knapp 275 Millionen EUR betragen) erreicht. Branchenkennern zufolge kassiert zB Stürmer Sadio Mané in dieser Saison ca. 20 Millionen EUR (Geld schießt eben doch Tore!). Die bei demselben Club angestellte Mittelfeldspielerin Julia Gwinn soll laut Insidern lediglich um 96.000 EUR verdienen.

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  • Digitalisierungsverbot: Der Schriftformzwang im Nachweisgesetz

    Hauptgeschäftsführerin der Nordostchemie-Verbände Nora Schmidt-Kesseler, Berlin

    Heft 17/2022

    Foto der Autorin von NZA-Editorial 17/2022 Nora Schmidt-KesselerAuf die Frage, welche Auswirkungen der Schriftformzwang im neuen Nachweisgesetz hat, antworte ich stets: Er kostet uns Berliner/innen den Grunewald. Das ist die traurige Wahrheit. Der Papierverbrauch in Deutschland ist mit jährlich fast 230 Kilogramm pro Kopf im internationalen Vergleich sehr hoch. Mit dem Nachweisgesetz wird er weiter steigen. Doch das Gesetz ist nicht nur für die Nachhaltigkeit ein Problem.

    Die neuen Nachweispflichten bringen für HR-Abteilungen erheblichen zusätzlichen Aufwand, den der Gesetzgeber massiv unterschätzt hat. Die Gesetzesbegründung nimmt an, dass nur 10 Prozent der Unternehmen ihre Vertragsvorlagen anpassen müssten. Tatsächlich haben fast alle Firmen enormen Anpassungsbedarf, der geschätzte Zeitaufwand von 21 Minuten geht an der Realität völlig vorbei. Hinzu kommt der Anspruch der Arbeitnehmer/innen, die vor dem 1.8.2022 beschäftigt waren, auf Anforderung spätestens nach sieben Tagen bestimmte nun notwendige Angaben ausgehändigt zu bekommen. Dass die Arbeitgeber für die Angaben anderer Arbeitsbedingungen mehr Zeit haben, bedeutet weiteren Mehraufwand. Sie müssen im Auge behalten, wann welche Arbeitsbedingung in Papierform ausgehändigt werden muss.

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  • Massenverfahren im Arbeitsrecht – Brauchen wir eine Verbandsklage?

    Richter am Arbeitsgericht Sönke Oltmanns, Neumünster

    Heft 16/2022

    Foto des Autors von NZA-Editorial Heft 16/2022 Sönke OltmannsDurch Massenverfahren hat die Belastung der deutschen Justiz in den vergangenen Jahren erheblich zugenommen. Ausgangspunkt hierfür war die Flut an Klagen vor den Zivilgerichten im Zusammenhang mit dem sog. Dieselskandal. Auch auf Grundlage dieser Erfahrungen werden seit einiger Zeit vor allem justizintern Lösungsvorschläge für eine bessere Bewältigung von Massenverfahren erörtert. Während sich diese Diskussionen bisher primär mit Reformen des Zivilprozessrechts befassen, hat die Justizministerkonferenz der Länder auf ihrer Herbsttagung am 11. und 12.11.2021 beschlossen, eine Arbeitsgruppe einzurichten, die etwaige Vorschläge zur Reform des Arbeitsprozessrechts ergebnisoffen prüfen soll (Beschluss  abrufbar unter https://www.justiz.nrw/JM/jumiko/beschluesse/2021/Herbstkonferenz_2021/TOP-I_-4---Massenverfahren-Arbeitsrecht.pdf). Ist das Arbeitsverfahrensrecht aber ohne Reformen tatsächlich nicht in der Lage, Sammelklagen prozessökonomisch abzuwickeln? Bedarf es hierfür gar der Einführung einer Verbandsklage? 

    Fakt ist, dass es auch im Arbeitsrecht das Phänomen der Massenklagen gibt, etwa die Klagen tausender ehemaliger IBM-Mitarbeiter/innen wegen ihrer Betriebsrentenanpassung (PM vom 20.7.2011, abrufbar unter https://landesarbeitsgericht-badenwuerttemberg.justiz-bw.de/pb/,Lde/2355224/?LISTPAGE=2355174, s. auch Diller 1105 in diesem Heft) oder die Verfahren zur unterschiedlichen Höhe der Nachtzuschläge in der Getränke- und Süßwarenindustrie (BAG 9.12.2020 – 10 AZR 332/29 (A)NZA 2021, 1121, s. dazu aktuell EuGH 7.7.2022 – C-257/21NZA 2022, 971 und Creutzfeldt NZA 2022, 1032). Hierdurch werden erhebliche gerichtliche Ressourcen gebunden, zumal alle individuell betroffenen Klageparteien ihre Rechte in separaten Verfahren geltend machen müssen. Zwar existieren bereits prozessuale Instrumente zur Geltendmachung von Ansprüchen einer Vielzahl gleichartig Betroffener.

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  • Das Tarifeinheitsgesetz vor dem EGMR

    Professor Dr. Daniel Ulber, Halle

    Heft 15/2022

    Foto des Autors von NZA-Editorial Heft 15/2022 Daniel Ulber

    Das Tarifeinheitsgesetz und kein Ende. Nunmehr hat sich auch der EGMR mit dem Gesetz befasst und es – nicht einstimmig – für vereinbar mit der EMRK erklärt (NZA 2022, 1058, in diesem Heft). Das gilt jedenfalls mit den Einschränkungen mit denen das BVerfG (NZA 2017, 915) das Gesetz für verfassungskonform erklärt hat. In Folge dieser Entscheidung hatten sich die Beschwerdeführer an den EGMR gewandt, der § 4a TVG für mit der EMRK vereinbar erklärt hat. Die Entscheidung ist aufgrund der bisherigen Rechtsprechung des EGMR nicht völlig überraschend.

    Den Eingriff in das durch Art. 11 II EMRK geschützte Recht auf Kollektivverhandlungen durch § 4a TVG hielt der EGMR für gerechtfertigt. War die Diskussion über die Verfassungsmäßigkeit des Tarifeinheitsgesetzes noch von Überlegungen geprägt, die bereits die Legitimität der vom Gesetzgeber verfolgten Ziele in Frage stellten, finden diese beim EGMR kein Gehör. Es sei legitim für ein gewisses Maß an Befriedung und Solidarität bei Tarifauseinandersetzungen im Betrieb zu sorgen. Die Ordnungsfunktion des Tarifvertrags findet so wohl ihre Anerkennung durch den EGMR, jedenfalls soweit der Gesetzgeber sie als Rechtfertigungsgrund nutzt. Gewerkschaften von Berufsgruppen mit Schlüsselpositionen daran zu hindern, auf Kosten der übrigen Belegschaft ihre Interessen durchzusetzen, sei legitim. Auch wenn der EGMR sich hinsichtlich der Vielfalt der Tarifsysteme in den Mitgliedstaaten zurückhält, darf man wohl konstatieren, dass er mit der in Deutschland vorherrschenden Sichtweise der Tarifautonomie als kollektiv ausgeübten Privatautonomie nicht allzu viel anzufangen weiß. Bei der Regelung der Tarifeinheit den Ausgleich der widerstreitenden Interessen vorzunehmen, sieht der EGMR als eine durch den Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers geschützte Entscheidung an. Er verweist dabei auch darauf, dass es kein allgemeines Verständnis der Vertragsstaaten der EMRK gebe, dass repräsentative Tarifverträge andere Tarifverträge nicht verdrängen dürften. Tarifpluralität ist kein „common ground“. Als Folge nimmt der EGMR den Kontrollmaßstab deutlich zurück. Ob der BVerfG verlangte Minderheitenschutz notwendig ist, um die Vereinbarkeit mit der EMRK abzusichern, scheint offen zu bleiben. Wichtig ist dem EGMR aber – ebenso wie dem BVerfG – der Hinweis, dass nach seiner Lesart das Recht, Arbeitskampfmaßnahmen zu ergreifen, durch das Gesetz nicht berührt wird. 

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  • Ein unterschätztes Risiko: Beitragspflicht in der eigenen Anwalts-GmbH

    Vors. Richter am LSG Stephan Rittweger, München

    Heft 14/2022

    Foto des Autors von NZA-Editorial Heft 14/2022 Stephan RittwegerAuch in der eigenen Rechtsanwalts-GmbH tätige Minderheits-Gesellschafter-Geschäftsführer sind dort beschäftigt und unterliegen der Beitragspflicht. Die im Berufsrecht, der BRAO, ausdrücklich garantierte Weisungsfreiheit zählt hier nicht, so das BSG mit Urteil vom 29.6.2022 (B 12 R 40/20). Aus sozialrechtlicher Sicht hätte jede andere Entscheidung erstaunt. Denn für die Ärzteschaft hatte das BSG 2019 (DStR 2019, 2494, s. auch das Editorial von Rolfs H. 14/2019) entschieden, dass deren Therapiehoheit hinter den regulatorischen Vorgaben im Krankenhaus rangiert. 2020 wurde der Minderheits-Gesellschafter-Geschäftsführer einer Steuerberatungs-GmbH als beschäftigt eingeordnet, die Freiberuflichkeit der Steuerberatung änderte nichts. Damit war abzusehen, dass selbst in der BRAO verankerte Weisungsfreiheiten statusrechtlich nicht zählen. 

    Die betroffene Kanzlei-GmbH wird nunmehr für die Vergangenheit Konsequenzen ziehen und Lösungen für die Zukunft finden. Damit ist sie nicht die erste und einzige. Alle Anwalts-GmbHs finden sich in der gleichen Situation wieder. Für die gesamte Vergangenheit muss die GmbH als Arbeitgeber Beiträge in die Renten- und Arbeitslosenversicherung nachentrichten (Versicherungsfreiheit bestand kranken- und pflegeversicherungsrechtlich wegen Überschreitens der Entgeltgrenzen).

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  • Vorlagen an den EuGH: Wieso? Weshalb? Warum?

    Professor Dr. Adam Sagan, MJur (Oxon), Bayreuth

    Heft 13/2022

    Foto des Autors von NZA-Editorial Heft 13/2022 Adam Sagan„Don’t ask silly questions!“ – Das war die klare Ansage von Sir David Edward, ehemals Richter am Gerichtshof der Europäischen Union, beim 5. Europarechtlichen Symposion des BAG im Jahr 2006 (zit. bei Spelge AE 2010, 223). Die unheilvolle Sentenz ist im Arbeitsrecht zum geflügelten Wort geworden.

    Zu den „dummen Fragen“ zählten weite Teile des arbeitsrechtlichen Publikums damals etwa die Vorlage des ArbG Berlin, die 2005 zum Urteil des EuGH in der Rechtssache Junk (NZA 2005, 213) führte. Es stellte sich heraus, dass das ArbG den sprichwörtlichen Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Für seine Entscheidung hat der EuGH überwiegend Zustimmung erfahren. Die Kritik an der Vorlage ist erstaunlicherweise dennoch nicht verstummt. Thüsing insinuiert, sie habe Rechtsunsicherheit geschaffen und mehr Schaden als Nutzen angerichtet; lege das BAG nicht vor, sollten die Instanzen ein etwaiges Vertragsverletzungsverfahren abwarten (Europäisches Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2017, § 1 Rn. 66). Das geht am Vorlagerecht der Instanzgerichte nach Art. 267 AEUV vorbei. Die Unsicherheit nach Junk war nicht das Resultat der Vorlage, sondern der beharrlichen Vorlageverweigerung des BAG, an der es in puncto Vertrauensschutz auch nach Junk festhielt und damit gegen das Grundgesetz verstieß (BVerfG NZA 2015, 375).

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  • Transparente Arbeitsbedingungen und das Kündigungsrecht

    Präsident des LAG Hessen a.D. Dr. Peter Bader, Frankfurt a. M.

    Heft 12/2022

    Foto des Autors von NZA-Editorial Heft 12/2022 Peter BaderBis zum 1.8.2022 soll die EU-Richtlinie 2019/1152/EU über transparente und vorhersehbare Arbeitsbedingungen umgesetzt sein. Der Bundestag hat am 23.6.2022 über den Regierungsentwurf des Umsetzungsgesetzes (BT-Drs. 20/1636) beraten. Es geht dabei einerseits um eine Erweiterung der Nachweispflichten nach § 2 I NachwG, andererseits um zusätzliche Mindestanforderungen an die Arbeitsbedingungen. Was die Kündigung von Arbeitsverhältnissen angeht, wird das Umsetzungsgesetz in dieser Form bedauerlicherweise nicht in dem erforderlichen Umfang die wünschenswerte Klarheit und Rechtssicherheit bringen, der Arbeitgeber wird partiell allein gelassen.

    Art. 4 II lit. j der Richtlinie gibt vor, dass über das bei der Kündigung des Arbeitsverhältnisses vom Arbeitgeber und vom Arbeitnehmer einzuhaltende Verfahren zu informieren ist, einschließlich der formellen Anforderungen und der Länge der Kündigungsfristen, oder, falls die Kündigungsfristen zum Zeitpunkt der Unterrichtung nicht angegeben werden können, die Modalitäten der Festsetzung der Kündigungsfristen. Was das konkret bedeuten soll, wird in der Neufassung des § 2 I 2 Nr. 14 (bisher Nr. 9) NachwG, die hinter dem Wortlaut der Richtlinie zurückbleibt, nicht hinreichend deutlich. Als Mindestinformationen dazu werden die Schriftform – offenbar des § 623 BGB, obwohl es auch ansonsten Schriftformerfordernisse gibt – und die Kündigungsfristen angesprochen. Schon die Angabe der Kündigungsfristen oder jedenfalls der Modalitäten der Berechnung wirft jedoch Probleme auf (Rolfs ZFA 2021, 283 (301) und NZA Editorial H. 7/2022, S. III).

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  • Urlaub bis in alle Ewigkeit?

    Rechtsanwalt Professor Dr. Michael Fuhlrott, Hamburg

    Heft 11/2022

    Foto des Autors von NZA-Editorial Heft 11/2022 Michael FuhlrottDas Urlaubsrecht ist eine Materie, deren Halbwertszeit auch im Lichte der Schnelllebigkeit des Arbeitsrechts besonders kurz bemessen ist. Es ist geprägt durch regelmäßige „Hinweise“ und Vorgaben des EuGH an die deutschen Arbeitsgerichte zur unionsrechtskonformen Auslegung der nationalen Vorschriften. Mit einem aktuellen Schlussantrag des Generalanwalts Jean Richard de la Tour (v. 5.5.2022 – C-120/21, BeckRS 2022, 9475) zur Frage der Verjährung von Urlaubsansprüchen zeichnet sich am Horizont weiteres Ungemach für urlaubsgewährende Arbeitgeber ab, während sich urlaubswillige Arbeitnehmer an den ersten Strahlen aufgehender Urlaubssonne wärmen dürften.

    Hintergrund des zeitnah anstehenden Urteils des EuGH ist ein Rechtsstreit um Urlaubsabgeltung einer aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschiedenen Steuerfachangestellten, die für die Vorjahre Urlaubsansprüche und damit einhergehend entsprechende Abgeltung verlangte. Während das ArbG Solingen (BeckRS 2019, 48586) die Klage hinsichtlich der nach deutschem Recht verjährten Urlaubskontingente abwies, sprach das LAG Düsseldorf (BeckRS 2020, 10788) der Klägerin den Urlaub zu. Der im Rahmen der Revision befasste 9. Senat ließ in seiner Vorlage an den EuGH (NZA 2021, 413) Sympathien dafür erkennen, die nationalen Verjährungsvorschriften auch dann anzuwenden, wenn ein Arbeitgeber seinen urlaubsrechtlichen Mitwirkungs- und Obliegenheitspflichten nicht nachgekommen sei. Denn letztlich dienten die Verjährungsvorschriften dem Rechtsfrieden und der -sicherheit, womit sie Ausfluss des grundgesetzlich verankerten Rechtsstaatsprinzips seien, das auch im Unionsrecht seine Stütze finde.

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  • Bundesbeauftragter für Antidiskriminierung – auch der Zweitbeste?

    Professor Dr. Gregor Thüsing, Bonn

    Heft 10/2022 

    Foto des Autors von NZA-Editorial Heft 10/2022 Gregor ThüsingEs war im Koalitionsvertrag schon so vereinbart worden, doch dann ging es unerwartet schnell. Die Leitung der Antidiskriminierungsstelle übernimmt künftig ein Unabhängiger Bundesbeauftragter für Antidiskriminierung. Der Bundestag hat dies am 28. April so beschlossen, und die Regelung soll schnellstmöglich in Kraft treten. Denn den treibenden Grund für diese Regelung benennt die Gesetzesbegründung: In der Vergangenheit haben Konkurrentenklagen eine Neubesetzung mit der Wunschperson verhindert. Für einen gewählten Bundesbeauftragten aber gilt Art. 33 II GG nicht – Klagen wären also zwecklos. Die Gesetzesbegründung führt dazu aus: „Einander widersprechende Gerichtsentscheidungen zeigen, dass die derzeitige Regelung der Besetzung der Leitung der Antidiskriminierungsstelle keine hinreichend sichere Rechtsgrundlage für gerichtsfeste Besetzungsentscheidungen bietet.“ Und: „Dieser Regelung bedarf es, da das öffentlich-rechtliche Amtsverhältnis als demokratisches Wahlamt auf Zeit nicht vom Regelungsbereich des Art. 33 II GG erfasst ist … Damit soll künftig eine rechtssichere Besetzung der Leitung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes ermöglicht und deren Unabhängigkeit gestärkt werden.“

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  • „Soll = Muss“ – die neue Formel bei Massenentlassungsanzeigen?

    Rechtsanwalt Professor Dr. Mark Lembke, LL.M. (Cornell), Greenfort, Frankfurt a. M.

    Heft 9/2022

    Foto des Autors von NZA-Editorial Heft 9/2022 Mark Lemke

    „Die Rechtsprechung des EuGH und des BAG ziehen für den Arbeitgeber, der Massenentlassungen durchführen muss, einen Pflichtenkatalog nach sich, den er dem Gesetzestext nur unvollständig entnehmen und den er kaum fehlerfrei bewältigen kann“ (Spelge NZA-Beil. 2021, 34). Insoweit ist der Vorsitzenden des 6. Senats des BAG zuzustimmen. Diverse Begriffe in § 17 KSchG (wie „Entlassung“, „Betrieb“, „Arbeitnehmer“) sind im Einklang mit der MERL 98/59/EG auszulegen. Dies führt zu Unsicherheiten bei der Bestimmung des relevanten Standorts, der zuständigen Behörde und der Zahl der regelmäßig beschäftigten bzw. zu entlassenden Arbeitnehmer (auch Leiharbeitnehmer, Fremd-Geschäftsführer oder Personen iSd § 17 V KSchG?). Bei Fehlern droht die Unwirksamkeit der Kündigung bzw. Aufhebungsvereinbarung.

    Jüngst entschied das LAG Hessen unter Berufung auf Spelge (vgl. MHdB ArbR, 5. Aufl. 2021, § 121 Rn. 180, 189, 231), in der Anzeige seien nicht nur die „Muss-Angaben“ (§ 17 III 4 KSchG), sondern auch die „SollAngaben“ (§ 17 III 5 KSchG) anzugeben, sonst sei die Kündigung unwirksam. Die MERL verlange die Mitteilung „aller zweckdienlichen Angaben“ und gebiete eine entsprechende europarechtskonforme Auslegung (LAG Hessen NZA-RR 2021, 598 Rn. 27 ff.). 

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  • Hinweisgeberschutzgesetz: ein neuer Anlauf

    Rechtsanwalt Dr. Boris Dzida, Freshfields Bruckhaus Deringer, Hamburg

    Heft 8/2022 

    Foto des Autors von NZA-Editorial Heft 8/2022 Boris Dzida

    Die Ampel-Koalition hat von ihrer Vorgängerin eine überfällige Aufgabe geerbt: Die Umsetzung der EU-Whistleblowing-Richtlinie in deutsches Recht. Zum zweiten Mal nach 2020 hat das Justizministerium nun einen Referentenentwurf für ein Hinweisgeberschutzgesetz vorgelegt. Leider ist der große Wurf wieder nicht gelungen. Der neue Entwurf beruht auf dem alten Entwurf, behält dessen Schwächen an vielen Stellen bei und macht sogar noch Rückschritte. Dem wichtigen Anliegen, Whistleblowing durch einen ausgewogenen Hinweisgeberschutz breite Akzeptanz zu verschaffen, wird der Entwurf nicht an allen Stellen gerecht.

    Immerhin einen Fortschritt gibt es: Der sachliche Anwendungsbereich des geplanten Gesetzes ist nicht mehr so weit gefasst wie noch im Entwurf der vormaligen Großen Koalition. Während sich die EU-Whistleblowing-Richtlinie auf Verstöße gegen besonders wichtige Bereiche des Unionsrechts beschränkt, wollte der Referentenentwurf von 2020 den Anwendungsbereich auf alle Verstöße erstrecken, die straf- oder bußgeldbewehrt sind (Dzida, NZA Editorial 6/2021, S. III). Diese Uferlosigkeit war einer der Gründe, warum der alte Entwurf innerhalb der Großen Koalition keine Mehrheit fand. Der neue Entwurf setzt nun den Kompromiss aus dem Ampel-Koalitionsvertrag um: Neben Verstößen gegen Unionsrecht soll das künftige Gesetz Verstöße gegen das Strafrecht einbeziehen, Hinweise auf Ordnungswidrigkeiten dagegen nur in besonders gravierenden Fällen. 

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  • Wie man intransparentes Unionsrecht transparent umsetzt

    Professor Dr. Christian Rolfs, Köln

    Heft 7/2022

    Foto des Autors von NZA-Editorial Heft 7/2022 Christian RolfsBis August muss der Gesetzgeber die Richtlinie 2019/1152/EU über transparente und vorhersehbare Arbeitsbedingungen in nationales Recht umsetzen. Ihre größte Herausforderung liegt darin, dass sie die Arbeitgeber verpflichtet, im Vertragsnachweis über „das bei der Kündigung des Arbeitsverhältnisses vom Arbeitgeber und vom Arbeitnehmer einzuhaltende Verfahren, einschließlich der formellen Anforderungen und der Länge der Kündigungsfristen“ zu informieren. Die potenziell zu beachtenden Verfahrensschritte lassen sich jedoch bei Beginn des Arbeitsverhältnisses nicht einmal ansatzweise mit Anspruch auf Vollständigkeit beschreiben. Anhörung des Betriebs- oder Personalrats, bei Funktionsträgern dessen Zustimmung bzw. gerichtliche Zustimmungsersetzung, bei Arbeitnehmern mit besonderem Kündigungsschutz die vorherige Zustimmung der nach Landesrecht zuständigen Behörde bzw. des Integrationsamts, Anhörung der Schwerbehindertenvertretung und Massenentlassungsanzeige bezeichnen nur schlagwortartig die Verfahrensschritte, die vom Arbeitgeber unter im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses noch gar nicht absehbaren Umständen der Kündigung einzuhalten sind. Zudem ist die deutsche Sprachfassung „Kündigung“ wohl zu eng, in den meisten anderen Sprachen ist unspezifischer von „Beendigung“ (termination, cessation) die Rede, sodass auch Befristung, Aufhebungsvertrag etc. erfasst werden müssen. 

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  • Gesetzlicher Mindestlohn – Druck von unten

    Rechtsanwalt Dr. Paul Gooren, Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Berlin

    Heft 6/2022

    Foto des Autors von NZA-Editorial Heft 6/2022

    Die Ampelkoalition macht Tempo beim Herzensthema und Wahlkampfversprechen der SPD, der Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 EUR. Nachdem das BMAS Anfang Februar den Referentenentwurf veröffentlicht hatte, wurde der Regierungsentwurf bereits am 23.2.2022 beschlossen. Mit einer Verabschiedung durch den Bundestag ist in den nächsten Wochen bzw. Monaten zu rechnen. Die Erhöhung erfolgt dann planmäßig zum 1.10.2022.

    Als der allgemeine Mindestlohn 2015 eingeführt wurde, war die Polarisierung groß. Inzwischen ist er gesellschaftlich und politisch weitgehend akzeptiert. Dementsprechend bezieht sich die aktuelle Diskussion auch primär auf technische Aspekte. Während die Befürworter den Mindestlohn zu einem Instrument der Bekämpfung der Altersarmut und der Ermöglichung einer echten gesellschaftlichen Teilhabe („living wage“) weiterentwickeln wollen, sehen Skeptiker insbesondere das bisherige System in Frage gestellt: Nach der Konzeption des MiLoG beschließt die Mindestlohnkommission über die Erhöhung und orientiert sich hierbei „nachlaufend an der Tarifentwicklung“ (§ 9 II 2 MiLoG); die Bundesregierung kann die vorgeschlagene Anpassung übernehmen, nicht aber eigene Änderungen durchführen. Die kommende gesetzgeberische Erhöhung wird insofern als Systembruch angesehen. Ferner wird – trotz (oder gerade wegen) der ständigen Betonung einer „einmaligen“ gesetzlichen Erhöhung – befürchtet, dass weitere Erhöhungen vor jeder Bundestagswahl zum Wahlkampfthema werden. 

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  • Wir müssen über Grundsätzliches reden

    Professor Dr. Matthias Jacobs, Bucerius Law School, Hamburg und Professor Dr. Jens M. Schubert, Leuphana Universität Lüneburg

    Heft 5/2022

    Foto des Autors von NZA-Editorial Heft 5/2022 Dr. Matthias JacobsFoto des Autors von NZA-Editorial Heft 5/2022 Dr. Jens M. Schubert

    Das Arbeitsrecht regelt die Beziehungen von Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen sowie ihrer jeweiligen kollektiven Vertretungen. Dabei spielen seit jeher gesellschaftliche Entwicklungen in Bewertungsfragen und – noch sichtbarer – in gesetzgeberische Maßnahmen hinein. Der gesetzliche Mindestlohn, die Frage, ob es eine unternehmerische Mitbestimmung geben soll, oder die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sind Beispiele, die jeweils mehr als Trends oder Modeerscheinungen waren und sind. Sie werden von einer deutlichen Mehrheit als notwendige Weiterentwicklung des Arbeitsrechts angesehen. Solche Anforderungen dürfen nicht etwa übersehen werden, sondern sind vom Souverän gesetzt. Das gilt umso mehr dann, wenn es um Merkmale eines Menschen geht, die dieser nicht einfach ablegen kann und die deshalb von der Rechtsordnung in besonderer Weise eingeordnet und bewertet werden. Wir sprechen von Menschenrechten, die von der Verfassung, im internationalen Recht und – in ihrer Umsetzung – auch einfach-gesetzlich geschützt sind und ebenso vom Arbeitsrecht jeweils nach neuesten Erkenntnissen geschützt werden müssen. 

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  • Die Macht des Betriebsrats – Auch beim Betriebsübergang?

    Fachanwältin für Arbeitsrecht Dr. Barbara Bittmann und Rechtsanwältin Dr. Lisa Maria Völkerding, CMS Hasche Sigle, Düsseldorf

    Heft 4/2022 

    Foto der Autorin von NZA-Editorial Heft 4/2022 Dr. Lisa Maria VölkerdingFoto der Autorin von NZA-Editorial Heft 4/2022 Dr. Barbara Bittmann

    Über den schillernden Begriff der „Zuordnung“ ist im Kontext von § 613a BGB schon viel geschrieben worden. Je mehr man sich jedoch mit ihm befasst, geht es einem wie dem Betrachter der Seerosen von Claude Monet. Was aus der Ferne noch eine Form ergab, wirkt bei näherer Betrachtung zunehmend konturenlos. Zahlreiche Fragen sind ungeklärt. So werden zB die Folgen einer individualrechtlich unwirksamen Versetzung noch vereinzelt behandelt. Ganz dünn wird es jedoch, wenn es um eine betriebsverfassungswidrige Versetzung und ihre Folgen für die Zuordnung zu einem Betrieb oder Betriebsteil geht.

    Im Jahr 2022 erwartet uns vor diesem Hintergrund eine spannende Klarstellung des BAG. Es geht um die Frage, ob der Betriebsrat des „alten“ Arbeitgebers die Aufhebung einer mitbestimmungswidrigen Versetzung verlangen und so den Übergang eines Arbeitsverhältnisses auf den Betriebserwerber verhindern kann (wohlgemerkt obgleich der Arbeitnehmer selbst nicht von seinem Widerspruchsrecht Gebrauch gemacht hat). Das LAG München hatte diese Frage verneint. Die mögliche betriebsverfassungsrechtliche Fehlerhaftigkeit einer Versetzung könne der Zuordnung nicht entgegenstehen (Beschl. v. 7.12.2020, BeckRS 2020, 49594). Dies folge insbesondere aus dem systematischen Verhältnis sowie dem Sinn und Zweck der §§ 99 BetrVG und 613a BGB. 

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  • § 119 BetrVG als Offizialdelikt – Übers Ziel hinaus!

    Rechtsanwalt Professor Dr. Jobst-Hubertus Bauer und Rechtsanwältin Dr. Johanna Friedel, Gleiss Lutz, Stuttgart

    Heft 3/2022

    Foto der Autorin von NZA-Editorial Heft 3/2022 Dr. Johanna FriedelFoto des Autors von NZA-Editorial Heft 3/2022 Dr. Jobst-Hubertus Bauer

    Ab März stehen in Deutschland wieder regelmäßige Betriebsratswahlen an. Trotz Bemühungen, die Repräsentation von Arbeitnehmern durch Betriebsräte auch in Kleinbetrieben zu erhöhen, ist der Anteil der betrieblichen Mitbestimmung seit Jahren rückläufig (IAB-Betriebspanel 2019/Begründung des Betriebsrätemodernisierungsgesetzes). Die Ampel-Koalition führt dies wohl darauf zurück, dass Arbeitgeber vermeintlich keine Mittel und Wege scheuen, betriebliche Mitbestimmung in ihren Betrieben zu verhindern, und will deshalb alsbald „die Behinderung der demokratischen Mitbestimmung“ künftig als Offizialdelikt einstufen (Koalitionsvertrag, S. 71). „Viele trauen sich aus Angst um den Job nicht, die Behinderung von Betriebsratsgründungen oder Betriebsratstätigkeiten zur Anzeige zu bringen“, hat Bundesarbeitsminister Hubertus Heil kürzlich dazu verlautbaren lassen. Bei dieser Begründung handelt es sich allerdings um eine durch nichts belegte Vermutung. 

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  • Crowdworking – Brüssel Calling

    Rechtsanwalt Dr. Thomas Klebe, Apitzsch/Schmidt/Klebe, Frankfurt a.M.

    Heft 2/2022

    Foto des Autors von NZA-Editorial Heft 2/2022 Dr. Thomas Klebe

    Das BAG hat mit Urteil vom 1.12.2020 (NZA 2021, 552) auch in Deutschland klargestellt, dass bei digitalen Plattformen Beschäftigte, hier Crowdworker, Arbeitnehmer/innen sein können. Dies wird weltweit durch viele Gerichte, vor allem zu Fahr- und Lieferdiensten wie Uber oder Deliveroo, bestätigt. Laut EU-Kommission arbeiten in der Union rund 28 Mio. Menschen für digitale Plattformen, ca. 55% verdienen dabei weniger als den Nettomindeststundenlohn ihres Landes. Ein Grund: 90% der rund 500 in der EU aktiven Plattformen klassifizieren sie als Selbständige – ohne Anspruch auf die sozialen Standards eines Arbeitsverhältnisses wie Mindestlohn oder Urlaub. Die Kommission hält 5,5 Mio. für möglicherweise falsch eingeordnet, also für Arbeitnehmer/innen. Damit ist im Internet eine Parallelarbeitswelt entstanden, häufig mit Tagelöhnern wie im 19. Jahrhundert. Ausnahmen, wie die Plattformen, die sich mit der IG Metall auf einen Code of Conduct und eine Ombudsstelle geeinigt haben, können keine systemische Antwort sein. 

    Die EU-Kommission hat deshalb am 9.12.2021 zwei wichtige Initiativen ergriffen. Sie hat den Entwurf einer Richtlinie vorgelegt, mit der sie die Bedingungen von Plattformarbeit, die, gleich wo der Sitz der Plattform ist, in der EU geleistet wird, verbessern will, und Leitlinien zum europäischen Wettbewerbsrecht, die Kollektivvereinbarungen auch für Soloselbständige ermöglichen sollen. Der Richtlinienentwurf sieht eine Vermutungsregelung mit Beweislastumkehr für Selbständige vor, die den Arbeitnehmer/in-Status anstreben, eine Regelung, die es in 10 EU-Ländern bereits in der einen oder anderen Form gibt. Voraussetzung ist, dass zwei von fünf in Art. 4 genannten Eigenschaften zutreffen. Dabei geht es um klassische Fragen des Weisungsrechts des Arbeitgebers, aber auch um Merkmale, die für Unternehmer konstitutiv sind, wie die Bildung einer Kundenbasis oder der eigene Marktauftritt. Können sich Selbständige auf die Vermutung stützen, kann die Plattform diese mit nationalem Recht bzw der EuGH-Rechtsprechung und entsprechender Beweislast widerlegen. Die Regelung wird durch Informations-, Organisations- und Dokumentationspflichten der Plattformen gegenüber allen Beschäftigten, deren Gewerkschaften und Behörden ergänzt. Diese Pflichten betreffen etwa die Algorithmen, mit denen sie die Beschäftigung managen, ein Beschwerdesystem mit Menschen auf der anderen Seite, nicht nur Chatbots, und digitale Kommunikationskanäle für die Beschäftigten untereinander und mit ihren Interessenvertretern (vgl. den aktuellen Koalitionsvertrag). Die Information zu Funktion und Wirkung der Algorithmen ist ua wichtig, um realistische Bewertungen für ein Statusverfahren zu erhalten. 

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  • Das Arbeitsrecht im „Krisenmodus“

    Rechtsanwalt Professor Dr. Achim Schunder, Frankfurt a. M.

    Heft 1/2022

    Foto des Autors von NZA-Editorial Heft 1/2022 Dr. Achim Schunder

    Liebe Leserinnen, liebe Leser, die Covid-19-Pandemie hat uns nach wie vor im Griff. Die von mir zu Beginn des Jahres 2021 geäußerte Hoffnung auf ein Ende der „Krise“ hat sich leider nicht verwirklicht.

    Trefflich titelte Wolfgang Däubler zum Arbeitsschutzkontrollgesetz (NZA 2021, 86) „Arbeitsschutzrecht schafft neues Arbeitsrecht“. Dass das Arbeitsschutzrecht – bedingt durch die vielfältigen Änderungen des Infektionsschutzgesetzes (zuletzt im Dezember 2021, s. Andrea Kießling NVwZ 2022, 14) und eine fast unüberschaubare Anzahl von Verordnungen – eine auch das allgemeine Arbeitsrecht prägende Dimension angenommen hat, war 2019 noch unvorstellbar. So trägt das 34. Passauer Arbeitsrechtssymposion den Titel „Arbeitsrecht in Zeiten der Corona Pandemie“ (NZA-Beilage 1/2021). Uns sind die Begriffe wie das mittlerweile vieler Orten gelebte Homeoffice bzw. die mobile Arbeit, Arbeitsschutzstandard und Arbeitsschutzregel (s. Sagan/Brockfeld NZA-Beilage 2020, 15) ebenso in Fleisch und Blut übergegangen, wie die im letzten Quartal 2021 empor gekommenen Begriffe von G2, G2 plus und G3 (s. dazu Fuhlrott/Schäffer NZA 2021, 1679 sowie das Editorial von v. Steinau-Steinrück NZA H. 23/2021, S. III). Hierzu gehört auch § 129 BetrVG mit „virtuellen“ Betriebsversammlungen und Betriebsratssitzungen sowie Einigungsstellensitzungen und -beschlussfassungen (s. dazu Jacobs/Voigt NZA 2021, 1764).

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