Professor Dr. Richard Giesen, ZAAR, Ludwig-Maximilians-Universität München
Heft 7/2023
Die jüngere Geschichte der richterrechtlichen
Arbeitskampfordnung ist eine Folge erstaunlicher Tauschgeschäfte. Diese
Geschäfte verliefen nach folgendem Muster. Ein richterrechtlich
etabliertes Rechtsinstrument wurde durch ein anderes richterrechtliches
Rechtsinstrument ersetzt, das in der weiteren Judikatur so weit dekonstruiert
wurde, dass es faktisch verschwand: Im Jahr 1971 wurde vom BAG das
„ultima ratio“-Prinzip ausführlich begründet, wonach der Arbeitskampf nur
letztes Mittel sein kann, wenn keine Einigung gelingt (BAGE 23, 292 = NJW 1971, 1668).
Deshalb mussten vor jedem Kampf Verhandlungen für gescheitert erklärt werden.
1976 wurde davon eine Ausnahme für kurze Warnstreiks geschaffen (BAGE 28, 295 = NJW 1977, 1079). Weil
aber Warnstreiks immer länger wurden, beseitigte das BAG im Jahr 1988
diese Ausnahme, was dazu führte, dass die Erklärung des Verhandlungsscheiterns
entfiel. Die „ultima ratio“ wurde durch den – schon 1971 begründeten –
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ersetzt, so dass der Eindruck blieb, es gäbe
dennoch eine Rechtsprüfung (BAG NZA 1988, 846). Doch
im Jahr 2007 tauschte das BAG die bisherige „Verhältnismäßigkeit“
gegen eine neue „Verhältnismäßigkeit“ ein. Nun war es Sache der kampfführenden
Gewerkschaft und nicht des Richters, über Geeignetheit und Erforderlichkeit zu
entscheiden (BAG NZA 2007, 1055). Somit
wurde der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zum Untoten. Er taumelt umher, aber er
lebt nicht.
Der Verlust des Rechts führt dazu, dass man selbst solche Regeln für wertlos hält, die das BAG gar nicht aufgegeben hat. Ein Beispiel ist der Grundsatz, dass Streiks nur zwecks Tarifabschlusses erlaubt sind (BAGNZA 2016, 1543). Obwohl hiernach politische Arbeitskämpfe ausgeschlossen sind, stellt sich die streikende Verdi seit Februar 2023 in den Dienst der „Fridays for Future“. Gefordert wird eine „echte Mobilitätswende“ – bizarr ist, dass das gezielte Ausschalten des ÖPNV die beste Werbung für CO2-Erzeuger auf vier Rädern ist.
Arbeitsrechtler, die in den Medien zur Rechtmäßigkeit des „Superstreiks“ vom 27. März befragt worden sind, haben aus guten Gründen mit Schulterzucken reagiert. Eine Eskalation zu Beginn von Tarifverhandlungen, bei der ein gewerkschaftsübergreifender Verbund die deutsche Verkehrsinfrastruktur lahmlegt, schließt es zwar eigentlich aus, dass irgendeine der hier genannten rechtlichen Anforderungen (egal, ob von gestern oder von heute) eingehalten wird. Es fehlt an der Scheiternserklärung, das „ultima ratio“-Prinzip ist verletzt, der „Superstreik“ ist kein Warnstreik, und die Verhältnismäßigkeit ist sicher nicht gewahrt. Aber was soll´s? All das ist heute (vielleicht) nicht mehr Recht, und deshalb hält man sich bei der Bewertung lieber bedeckt.
Bitter ist, dass der Verlust des Rechts vor allem diejenigen Arbeitskämpfer begünstigt, denen der Fortbestand und die Funktionsfähigkeit bestreikter Unternehmen gleichgültig sind. Nicht ohne Grund wird in den letzten zwei Jahrzehnten vor allem dort gestreikt, wo Streikteilnehmer trotz geringer individueller Vergütungsausfälle große Schäden anrichten, und wo eigene Arbeitsplätze ungefährdet sind: in der Infrastruktur (s. auch Bayreuther NZA 2023, 411, in diesem Heft).
Bleibt abzuwarten, ob die Rechtsprechung zu einer regelgesteuerten Arbeitskampfordnung zurückkehrt – oder durch Nichtstun das Eingreifen des Gesetzgebers erzwingt.