Rechtsanwalt Professor Dr. Michael Fuhlrott, Hamburg
Heft 16/2023
„Kein Lohn ohne Arbeit“ – dieses Grundprinzip des synallagmatischen Arbeitsverhältnisses ist in vielen Fällen aus Gründen des Arbeitnehmerschutzes durchbrochen. Neben der fortbestehenden Vergütung an Feiertagen oder bezahlten Erholungsurlaubs ist der wesentliche Anwendungsfall die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nach § 3 EFZG. Danach bekommt derjenige, der infolge Krankheit an der Erbringung der Arbeitsleistung unverschuldet verhindert ist, sein Entgelt sechs Wochen lang weitergezahlt. Macht ein erkrankter Arbeitnehmer den Anspruch geltend, muss er die tatbestandlichen Voraussetzungen der Norm darlegen und ggf. beweisen. Der Nachweis, dass man krank ist, geschieht regelmäßig durch Vorlage eines ärztlichen Attests, der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AUB). Deren besonderer Beweiswert ist gesetzlich anerkannt, was u.a. daran deutlich wird, dass § 7 EFZG dem Arbeitgeber ein Leistungsverweigerungsrecht bei der Bezahlung so lange einräumt, bis der Arbeitnehmer die AUB vorlegt.
Will der Arbeitgeber dagegen vorgehen, muss er konkrete Anhaltspunkte vortragen, die den hohen Beweiswert der AUB erschüttern. 2021 modifizierte das BAG (NZA 2022, 39) seine bisherige Rechtsprechung und sah den Beweiswert bei Darlegung ernsthafter Zweifel als erschüttert an, was etwa bei Ausspruch einer Eigenkündigung bei gleichzeitiger Vorlage einer passgenau bis zum Beendigungstermin attestierten Arbeitsunfähigkeit der Fall sein sollte. Welche weiteren Konstellationen eine Erschütterung des Beweiswerts nach sich ziehen, wird seitdem kontrovers diskutiert (s. dazu Fuhlrott/Mai NZA 2022, 97). Zwischenzeitlich – so hört man aus der Arbeitsgerichtsbarkeit – ist das Anzweifeln der AUB insbesondere in Zusammenhang mit Kündigungsszenarien häufig Gegenstand arbeitsrechtlicher Auseinandersetzungen. Daher mussten sich auch jüngst das LAG Niedersachsen (NZA-RR 2023, 285) und das LAG Schleswig-Holstein (BeckRS 2023, 14720 mit Besprechung Fuhlrott NZA-RR 2023, 447) mit dieser Fragestellung beschäftigen. Die Kammern stellten dabei fest, dass eine Erschütterung des Beweiswerts auch bei einer auf eine Arbeitgeberkündigung unmittelbar folgende Arbeitsunfähigkeit möglich sei bzw. der Text des Kündigungsschreibens und das weitere Verhalten des Arbeitnehmers selbst bei Entbindung des Arztes von der Schweigepflicht zur Beweiserschütterung führen können.
Droht der Streit um die Pflicht zur Lohnfortzahlung zur neuen „Spielwiese“ für Arbeitgeber im gekündigten Arbeitsverhältnis zu werden? Ist der Arbeitnehmer schutzlos gestellt? Nun: Eine Erschütterung des Beweiswerts führt zunächst nur dazu, dass die AUB alleine nicht mehr ausreicht, um Beweis der tatbestandlich notwendigen „Krankheit“ abzugeben. Der Arbeitnehmer kann auf anderen Wegen, regelmäßig durch substanziierten Vortrag zu den Erkrankungssymptomen bzw. Entbindung des Arztes von der Schweigepflicht darlegen, dass er erkrankt war. Dann ist es wiederum am Arbeitgeber, dies zu entkräften. Können ernsthafte Zweifel auch vorliegen, wenn der Arbeitnehmer postwendend nach einer ihm erteilten Abmahnung oder Arbeitsanweisung erkrankt? Auch hier verbieten sich pauschale Antworten. Es wird Sache des Einzelfalls sein. Die dazu notwendige Herausarbeitung weiterer Kriterien werden die Arbeitsgerichte auch in derartigen Konstellationen ausbalanciert vornehmen – so viel Vertrauen dürfen wir in unsere Arbeitsgerichtsbarkeit haben.