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Beweiskraft der Buchführung und Schätzungsbefugnis

Dr. Hans-Jürgen Hillmer

BMF v. 11.3.2024, IV D 2 – S 0333/23/10001 :001

 

Mit der Neufassung des § 158 AO haben formelle Mängel der Buchführung eine weitaus höhere Bedeutung erlangt. Als formeller Mangel gilt nun im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung insbesondere eine Nichterfüllung des geforderten Datenformats. Im Anwendungserlass zur Abgabenordnung (AEAO) hat das BMF nun auch diesbezügliche Schätzungsbefugnisse festgeschrieben.


 

Praxis-Info!

 

Problemstellung

Anlass zu dem BMF-Schreiben vom 11.3.2024 gab die Neufassung des § 158 AO durch das Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2021/514 des Rates vom 22.3.2021 zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Modernisierung des Steuerverfahrensrechts vom 20.12.2022 (BGBl. I 2022, 2730). Zur Beweiskraft der Buchführung gibt § 158 Abs. 1 AO n.F. zwar vor, dass die Buchführung und die Aufzeichnungen des Steuerpflichtigen, die den Vorschriften der §§ 140 bis 148 AO entsprechen, der Besteuerung zugrunde zu legen sind. In § 158 Abs. 2 AO werden aber die Ausnahmen von diesem Grundsatz genannt. So ist dort unter Nr. 1 bestimmt, dass Absatz 1 nicht gilt, soweit nach den Umständen des Einzelfalls Anlass besteht, die sachliche Richtigkeit zu beanstanden. In Nr. 2 kommt die Digitalisierung ins Spiel, denn hiernach gilt Abs. 1 nicht, „soweit die elektronischen Daten nicht nach der Vorgabe der einheitlichen digitalen Schnittstellen des § 41 Abs. 1 Satz 7 EStG … zur Verfügung gestellt werden“. Nunmehr ist mit dem oben genannten BMF-Schreiben der Anwendungserlass (AEAO) zu § 158 AO mit sofortiger Wirkung geändert worden.

 

 

Lösung

Die Regelung zu § 158 AO ist in fünf Absätzen wie folgt neu gefasst worden (Hervorhebungen durch Verf.):

(1) Bei formeller Ordnungsmäßigkeit der Buchführung und der Aufzeichnungen des Steuerpflichtigen enthält § 158 Abs. 1 AO die gesetzliche Vermutung zur sachlichen Richtigkeit der Buchführung und der Aufzeichnungen.

(2) Die formelle Ordnungsmäßigkeit der Buchführung und der Aufzeichnungen beurteilt sich nach den §§ 140 bis 148 AO und ggf. nach den weiteren Ordnungsvorschriften der Einzelsteuergesetze. Für die Annahme einer formellen Ordnungsmäßigkeit ist das Gesamtbild aller Umstände des Einzelfalls maßgebend. Die Buchführung und die Aufzeichnungen können trotz einzelner formeller Mängel aufgrund der Gesamtwertung insgesamt als formell ordnungsmäßig angesehen werden. Eine Buchführung ist erst dann formell ordnungswidrig, wenn sie wesentliche Mängel aufweist oder die Gesamtheit aller (unwesentlichen) Mängel diesen Schluss fordert (BFH Beschl. v. 2.12.2008 – X B 69/08, m.w.N.).

(3) Die Vermutung nach § 158 Abs. 1 AO verliert ihre Wirksamkeit nach § 158 Abs. 2 Nr. 1 AO insbesondere, soweit es nach einer Verprobung oder anderen Erkenntnissen unwahrscheinlich ist, dass das ausgewiesene Ergebnis mit den tatsächlichen Verhältnissen übereinstimmt.

(4) Die Vermutung nach § 158 Abs. 1 AO verliert ihre Wirksamkeit nach § 158 Abs. 2 Nr. 2 AO, soweit der Steuerpflichtige der Finanzverwaltung aufbewahrungspflichtige digitale Unterlagen nicht nach den Vorgaben der einheitlichen digitalen Schnittstellen (vgl. § 146a AO i.V.m. § 4 KassenSichV, § 147b AO oder § 41 Abs. 1 S. 7 EStG i.V.m. § 4 Abs. 2a LStDV) zur Verfügung stellt. Bei dem Zurverfügungstellen von Unterlagen nach den Vorgaben einer einheitlichen digitalen Schnittstelle handelt es sich um formelle Anforderungen an die Ordnungsmäßigkeit der Buchführung und der Aufzeichnungen. Die Buchführung und die Aufzeichnungen entsprechen nicht den Vorgaben einer einheitlichen digitalen Schnittstelle, wenn die aufbewahrungspflichtigen digitalen Unterlagen und die Strukturinformationen nicht in dem geforderten Datenformat vorgelegt werden.

(5) Ist § 158 Abs. 1 AO wegen einer Ausnahme nach § 158 Abs. 2 AO nicht anwendbar, richten sich die hieraus resultierenden Folgen für die Besteuerung insoweit nach den Umständen des Einzelfalls.

Ist die Buchführung oder sind die Aufzeichnungen ganz oder teilweise aufgrund des § 158 Abs. 2 Nr. 1 AO nicht der Besteuerung zugrunde zu legen, können die Besteuerungsgrundlagen nach § 162 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 S. 2 AO geschätzt werden. Insoweit kommt der sachlichen Gewichtung der Mängel ausschlaggebende Bedeutung zu. Das Buchführungsergebnis ist nicht zu übernehmen, soweit die Beanstandungen reichen. Eine Vollschätzung anstelle einer Hinzuschätzung kommt nur dann in Betracht, wenn sich die Buchführung in wesentlichen Teilen als unbrauchbar erweist.

Ist die Buchführung oder sind die Aufzeichnungen ganz oder teilweise aufgrund des § 158 Abs. 2 Nr. 2 AO nicht der Besteuerung zugrunde zu legen, kann eine Schätzungsbefugnis nach § 162 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 S. 2 AO insoweit gegeben sein, wie die aufbewahrungspflichtigen digitalen Unterlagen und die Strukturinformationen nicht in dem geforderten Datenformat vorgelegt werden.

 

 

Praxishinweise:

  • Wichtig ist die Änderung des Anwendungserlasses zu § 158 AO insbesondere hinsichtlich der Berechtigung zu Schätzungen, wenn eine Nichterfüllung von Buchführungspflichten gemäß § 158 AO vorliegt. Einzelvorgaben zur Schätzungsbefugnis enthält die Regelung in § 162 AO, auf die in Abs. 5 des AEAO zu § 158 AO entsprechend Bezug genommen wird. Die sog. Vollschätzung ist nur in engen Grenzen zulässig, wenn sich die Buchführung in wesentlichen Teilen als unbrauchbar erweist.
  • Hinsichtlich der Neufassung des § 158 Abs. 2 AO ist von zentraler Bedeutung, dass die Beweiskraft der Buchführung auch dadurch in Zweifel gezogen werden kann, dass die „elektronischen Daten nicht nach den Vorgaben hinsichtlich der einheitlichen digitalen Schnittstellen zur Verfügung gestellt werden“. Dabei kann es sich auch um andere definierte Schnittstellen wie der Schnittstelle für Kassensysteme nach § 146a AO oder die Digitale Lohnschnittstelle (DLS) handeln.
  • Von namhaften Steuerrechtsexperten wird diese Neuregelung des § 158 Abs. 2 AO als Paradigmenwechsel gewertet. Denn zuvor führten formelle Fehler der Buchführung nicht grundsätzlich zu deren Verwerfung. Vielmehr wurde davon ausgegangen, dass aufgrund der Fehlerhaftigkeit der Buchführung nur unter Prüfung deren materiellen Inhalts ein Übergang zur Schätzung (z.B. durch Anwendung statistischer Methoden) unter Vernachlässigung der vorliegenden Buchführung möglich war.
  • Nach der Neuregelung hält der Steuerrechtsprofessor Thomas Egner (Universität Bamberg) die Frage nach der materiellen Richtigkeit der Buchführung nur noch für zweitrangig. Die Umkehrung des Grundsatzes „substance over form“ werde zum Prinzip erhoben und der Grundsatz „form over substance“ eingefordert. Die Buchführung kann demnach nunmehr bereits dann verworfen werden, wenn die Daten nicht über die vorgeschriebene Schnittstelle zur Verfügung gestellt werden (mehr dazu siehe unter https://www.tax-legal-excellence.com/%c2%a7-147b-ao-und-die-beweiskraft-der-buchfuehrung/). Das neue BMF-Schreiben geht hier sogar noch einen Schritt weiter, indem die Einhaltung des geforderten Datenformats verlangt wird.
  • Das oben genannte Umsetzungsgesetz vom 20.12.2022 (Umsetzung von DAC 7) enthält viele weitere Änderungen in der AO, durch die steuerliche Außenprüfungen beschleunigt werden sollen. So sind u.a. die Begrenzung der Ablaufhemmung (§ 171 Abs. 4 AO), der sog. Bindende Teilabschluss (§ 180 Abs. 1a AO) und die Neuregelung der Mitwirkungspflichten (§ 90 AO) sowie ein neues Sanktionssystem bei Mitwirkungsverlangen (§ 200a AO) enthalten.
  • Zur Beweiskraft der Buchführung (gemäß § 158 AO) vgl. auch in komprimierter Form Köchling/Wohlfarth, BC 2023, 526, Heft 11.

 

Dr. Hans-Jürgen Hillmer, BuS-Netzwerk Betriebswirtschaft und Steuern, Coesfeld

 

BC 4/2024

BC20240425

 

 

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