Im Arbeitsrecht gab es 2023 eine Reihe wichtiger Entscheidungen. So entschied das BAG Anfang des Jahres, dass Gehaltsverhandlungen Entgeltgleichheit von Männern und Frauen nicht aushebeln dürfen. Eine Frau habe Anspruch auf gleiches Entgelt wie ein Mann für gleiche oder gleichwertige Arbeit. Das Beruhen der höheren Vergütung eines männlichen Kollegen auf dessen Geschlecht und damit das Vorliegen einer Diskriminierung könne nicht mit dem Argument widerlegt werden, der Mann habe das höhere Entgelt ausgehandelt. Lediglich eine bessere Qualifikation rechtfertige eine unterschiedliche Bezahlung.
Im März stellten die Erfurter Richterinnen und Richter fest, dass GmbH-Geschäftsführer nicht persönlich haften, wenn die Gesellschaft den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nicht den Mindestlohn gezahlt hat. Zwar müssten sie nach dem MiLoG möglicherweise ein Bußgeld zahlen. Doch der Bußgeldtatbestand sei kein Schutzgesetz nach § 823 Abs. 2 BGB zugunsten der Arbeitnehmer der Gesellschaft im Verhältnis zum Geschäftsführer.
Auch beim Mutterschutzlohn schuf das BAG Klarheit. Schwanke eine variable Vergütung über das Jahr hinweg stark, könne für den Mutterschutzlohn das durchschnittliche Arbeitsentgelt innerhalb von zwölf Monaten zählen, so das Gericht im Mai im Fall einer Stewardess.
Ebenfalls im Mai stärkte das höchste deutsche Arbeitsgericht die Rechte von Betriebsräten und entschied, dass diese vom Arbeitgeber eine vollständige Liste der schwerbehinderten – und diesen juristisch gleichgestellten – Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern verlangen können. In diesem Punkt seien die Belegschaftsvertreter auch für leitende Angestellte zuständig.
Natürlich durfte auch ein Urteil zum Dauerbrenner Zeugnisformulierungen nicht fehlen. Im Juni stellte das BAG klar, dass ein Arbeitgeber die Dankesformel nicht aus erzieherischen Gründen aus einem Arbeitszeugnis streichen dürfe, weil die ehemalige Angestellte das Zeugnis mehrfach hat verbessern lassen. Einen Anspruch auf die Formel gebe es zwar nicht, aber sie dürfe auch nicht nachträglich gestrichen werden.
Etwas weniger Recht auf Unerreichbarkeit
Im Rechtsstreit um eine außerordentliche Kündigung hat das Gericht zudem im August die Anforderungen an eine berechtigte Vertraulichkeitserwartung konkretisiert. Auch wenn ein Arbeitnehmer sich in einer privaten Chatgruppe stark beleidigend und menschenverachtend über Vorgesetzte und Kollegen äußert, kann er laut BAG nicht immer auf die Privatheit des Chats vertrauen.
Wenn es keinen Kündigungsgrund gibt, löst man den Arbeitsvertrag eben auf. Ein Auflösungsgrund kann sich laut einem weiteren BAG-Urteil vom August auch noch durch unbedachte Äußerungen des Beschäftigten im Kündigungsschutzprozess ergeben. Das Gericht müsse aber auf eine Korrektur hinwirken, bevor es einen Antrag als unzulässig zurückweist, entschied es im Fall einer erfolglosen Anwältin, die von ihrem Arbeitgeber rausgeworfen worden war.
Im Dezember entschied das BAG schließlich, dass Arbeitnehmende auch nach Feierabend nicht davor gefeit sind, Änderungen ihrer Dienstpläne per SMS oder E-Mail zur Kenntnis zu nehmen. Während die Vorinstanz noch ein "Recht auf Unerreichbarkeit" proklamiert hatte, stellte das BAG klar: Der Blick aufs Handy ist auch nach Feierabend Pflicht - jedenfalls im Fall des klagenden Notfallsanitäters, dessen Betriebsvereinbarung ein kompliziertes Schichtenmodell vorsah inklusive der Pflicht, kurzfristige Änderungen zu befolgen.
Was die Anwaltschaft bewegte
Berufsrechtlich war es 2023 in puncto Urteile ein eher ruhiges Jahr. Im Juni stellte der BGH allerdings klar, dass Anwälte auch Manager vor der Pleite warnen müssen. Berät ein Rechtsanwalt ein Unternehmen regelmäßig, muss er bei einer drohenden Insolvenz die Geschäftsleiter auch vor deren eigener Haftung warnen - jedenfalls bei einem "Näheverhältnis" zur Hauptleistung des Mandatsvertrags.
Viele Entscheidungen mit großer Relevanz für die Anwaltschaft drehten sich aber um das beA. So erteilte der BGH im Juni der Übermittlung über ein fremdes beA-Postfach eine klare Absage. Eine strafrechtliche Revisionsschrift, die über das elektronische Postfach eines Kollegen einfach signiert übermittelt wird, sei unwirksam – und zwar auch dann, wenn es sich um das Postfach des gegenüber der Anwaltskammer benannten Vertreters des Verteidigers handelt. Mit einer bloßen Übermittlung in Vertretung übernehme dieser keine Verantwortung für den Inhalt der Revision.
Der Bankensenat entschied außerdem im Oktober, dass ein Screenshot einen mehrstündigen beA-Ausfall glaubhaft machen kann, wenn die Angaben mit der Störungsdokumentation der BRAK übereinstimmen. Eine zusätzliche anwaltliche Versicherung, so der BGH, ist nicht zwingend erforderlich.
In einem weiteren Fall, der 2023 den BGH erreichte, ging es um einen Rechtsanwalt, der seine beA-Karte samt PIN an seine Rechtsanwaltsfachangestellte weitergegeben hatte. Dieses Verhalten sei grundsätzlich fraglich, befand der 2. Strafsenat im Juni. Jedenfalls könne man aber keine Wiedereinsetzung mit der Vergesslichkeit der Angestellten begründen.
Sogar das BVerfG musste sich mit den immer noch neuen Fragen rund um das Anwaltspostfach beschäftigen. Die Karlsruher Richterinnen und Richter urteilten im Mai, dass ein nach Dienstschluss am Tag des Fristablaufs per beA übermittelter Fristverlängerungsantrag noch rechtzeitig gestellt ist. Berücksichtige ein Gericht diesen nicht, könne darin ein Gehörsverstoß liegen. Verzögerungen der gerichtsinternen Weiterleitung könnten nicht zulasten der Partei gehen.
Gerichte in eigener Sache
Nicht nur für die Anwaltschaft hatte 2023 in eigener Sache einiges zu bieten. Die Gerichte befassten sich auch mit der Justiz. Bemerkenswert war die BGH-Entscheidung, dass der AfD-Politiker und frühere Bundestagsabgeordnete Jens Maier wegen abwertender und rassistischer Äußerungen nicht mehr als Richter arbeiten darf und endgültig in den Ruhestand muss. Dabei stellte das Gericht gleich "wesentliche Rechtsgrundsätze" gegen Verfassungsfeinde in der Justiz auf. Demnach rechtfertige eine "schwere Beeinträchtigung der Rechtspflege" die „Versetzung im Interesse der Rechtspflege" gemäß § 31 DRiG. Eine Versetzung komme grundsätzlich in Betracht, wenn die Richterin oder der Richter nicht mehr die Gewähr dafür bietet, dass sie/er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintreten werde. Das gelte nicht nur für die Berufung in das Richterverhältnis, sondern sei dauernde Voraussetzung für die Ausübung des Richteramts auf der Grundlage des Grundgesetzes, das Unabhängigkeit und Unparteilichkeit zur unabdingbaren Voraussetzung für die Ausübung des Richteramts mache.
Weniger dramatisch in der Ursache, doch im Ergebnis ähnlich fiel ein Urteil im Mai aus, mit dem der BGH eine BFH-Richterin aus dem Dienst entfernte, die vorsätzlich und über Jahre hinweg ohne Rechtfertigung dem Dienst ferngeblieben war. Gegen die Versetzung an einen anderen als den von ihr gewünschten Senat habe sie nicht zur "Selbsthilfe" durch Leistungsverweigerung greifen dürfen, so der BGH.
Der BFH urteilte gleich zweimal zu Videoverhandlungen: Er betonte zunächst im Juni, dass die Beteiligten bei einer Videoverhandlung immer den gesamten Spruchkörper sehen können müssen. Die Kamera dürfe nicht nur auf einen einzelnen von mehreren Richterinnen oder Richtern gerichtet sein. Der Gesetzgeber dulde keinen Verlust von Rechtsstaatlichkeit bei Videokonferenzen. Könnten die Parteien zeitweise nur eine Person des Spruchkörpers sehen, liege darin eine fehlerhafte Besetzung, die auch nicht in der Verhandlung selbst gerügt werden müsse.
Im August konkretisierte er seine Anforderungen an die Videoverhandlung weiter: Ein Verfahrensfehler liege auch vor, wenn das Bild eines zugeschalteten Beteiligten so an die Wand projiziert wird, dass eine Partei sich jeweils um 180 Grad drehen muss, um entweder das Gericht oder das Bild sehen zu können.