Videokonferenz und gesetzlicher Richter – Senat muss sichtbar sein
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© Stefan Puchner / dpa

Der Bundesfinanzhof betont, dass die Beteiligten bei einer Videoverhandlung immer den gesamten Spruchkörper sehen können müssen. Die Kamera dürfe nicht nur auf einen einzelnen von mehreren Richtern gerichtet sein. Der Gesetzgeber dulde keinen Verlust von Rechtsstaatlichkeit bei Videokonferenzen. Die fehlerhafte Besetzung durch zumindest zeitweise nicht sichtbare Richter müsse auch nicht in der Verhandlung selbst gerügt werden. 

In einem Finanzgerichtsverfahren in Münster gestattete es das Gericht den Verfahrensbeteiligten (einem Finanzamt und einem gemeinnützigen Verein), sich der Verhandlung per Kamera zuzuschalten. Während dieser Videokonferenz im Sitzungszimmer gab es nur eine Kamera, die am Anfang den gesamten Senat zeigte. Danach wurde sie je nach Sprecher jeweils auf nur einen von mehreren Richtern gerichtet. Insgesamt nahm der Vorsitzende Richter 60 von 90 Minuten Sprechzeit ein. Die anderen Richter waren für die Zugeschalteten währenddessen nicht sichtbar.

Der Verein, dessen Klage nur teilweise stattgegeben wurde, erhob die Nichtzulassungsbeschwerde zum Bundesfinanzhof und rügte unter anderem den Entzug des gesetzlichen Richters – mit Erfolg.

Absoluter Revisionsgrund gegeben

Der BFH sah den absoluten Revisionsgrund nach § 119 Abs. 1 Nr. 1 FGO gegeben, weil das Gericht fehlerhaft besetzt war. Vorschriftsmäßig besetzt sei das Gericht nur dann, wenn alle Beteiligten in der Lage seien, der Verhandlung jederzeit zu folgen. Denn nur in diesem Fall sei es ihnen möglich, eine Überzeugung aus dem Gesamtergebnis der Verhandlung nach § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO zu gewinnen und eine selbstständige Entscheidung zu fällen. Wenn die Kamera nur eine Person auf der Richterbank erfasst, ist laut den Münchener Richtern für die zugeschalteten Beteiligten nicht erkennbar, ob alle Richter anwesend sind und der Verhandlung folgen.

Die dauerhafte Sichtbarkeit des ganzen Spruchkörpers sei erforderlich, weil der Gesetzgeber – so der V. Senat – mit § 91a Abs. 1 Satz 2 FGO zwar die Möglichkeit zur Vereinfachung der Verhandlung durch die digitale Zuschaltung eines oder mehrerer Verfahrensbeteiligter geschaffen habe, aber eine Einbuße an rechtsstaatlicher Qualität  nicht habe in Kauf nehmen wollen.

Den alleinigen Bildausschnitt auf einzelne Richter zu beschränken, hält der BFH für unzulässig. Er sieht sich dabei durch den Gesetzentwurf zur "Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten" vom 25.05.2023 bestätigt (BR-Drs. 228/23, 49: "Jeder Verfahrensbeteiligte und das Gericht müssen die Möglichkeit haben, alle anderen Verfahrensbeteiligten und die Mitglieder des Gerichts zu jedem Zeitpunkt der Verhandlung sowohl visuell als auch akustisch wahrzunehmen.").

Es sei möglich, mehrere Kameras zu installieren, um sicherzustellen, dass jeweils der Sprecher und gleichzeitig der gesamte Spruchkörper sichtbar sei.

Rüge ist nicht präkludiert

Der Einwand des Vereins gegen die fehlerhafte Besetzung des Gerichts ist dem BFH zufolge nicht nach § 155 FGO in Verbindung mit § 295 ZPO verloren gegangen, obwohl der Verein diesen Mangel erst im Verfahren der  Nichtzulassungsbeschwerde gerügt hat. Denn nach § 295 Abs. 2 ZPO ist die Rüge nicht präkludiert, wenn die streitgegenständlichen Vorschriften – wie die zur Besetzung des Gerichts – nicht zur Disposition der Parteien stehen. Der Senat hob die Entscheidung nach § 116 Abs. 5 FGO auf und verwies die Sache zum Finanzgericht Münster zurück.

BFH, Beschluss vom 30.06.2023 - V B 13/22

Redaktion beck-aktuell, 21. Juli 2023.