Zwei Landesarbeitsgerichte hatten zuvor geurteilt: Ein Arbeitnehmer müsse in seiner Freizeit keine SMS auf seinem Handy lesen. "Es gehört zu den vornehmsten Persönlichkeitsrechten, dass ein Mensch selbst entscheidet, für wen er/sie in seiner Freizeit erreichbar sein will oder nicht." So schön hatte es einst im Jahr 2017 das LAG Thüringen formuliert (Urteil vom 16.05.2017 - 6 Sa 442/17).
Es ging um einen Notfallsanitäter, der sich 11,75 Arbeitsstunden gutschreiben lassen wollte. Deren Anerkennung hatte der Arbeitgeber verweigert, weil der Mann zweimal eine kurzfristige Änderung seines Dienstplans erst nach dem regulären Schichtbeginn zur Kenntnis genommen hatte – zu spät für die angeordneten Verschiebungen von Einsatzort und Uhrzeit. Telefonisch war der als Springer eingesetzte Retter jeweils nicht erreichbar gewesen, und auf die daraufhin verschickten Kurznachrichten aufs Handy (SMS) sowie per E-Mail reagierte er erst zu spät für den Schichtbeginn. Seine Begründung: Das Mobiltelefon habe er zwischen den Dienstzeiten lautlos gestellt, um sich um die Kinder kümmern zu können.
Arbeitsleistung zu spät angeboten
Das stieß jetzt auf klaren Widerspruch des Bundesarbeitsgerichts (BAG, Urteil vom 23.08.2023 – 5 AZR 349/22). In der an diesem Mittwoch veröffentlichten Entscheidung kommt es zu dem Schluss, der Mann habe seine Arbeitsleistung nicht wie erforderlich angeboten. Daher habe sich der Arbeitgeber nicht in Annahmeverzug befunden; er durfte also das Arbeitszeitkonto kürzen und musste auch die ausgesprochene Abmahnung nicht aus der Personalakte streichen. So hatte der Beschäftigte in einem der beiden Fälle erst morgens um 7.30 Uhr seine Bereitschaft zur Arbeitsaufnahme bekundet – die wäre aber schon um 6.00 Uhr (und in einer anderen Rettungswache) fällig gewesen. Das hatte ihm der Arbeitgeber am Vortag auch um 13.20 Uhr mitgeteilt. Und laut der Betriebsvereinbarung, die eine auf fünf Ebenen gestaffelte, immer weitergehende Konkretisierung der Schichtpläne vorsah, hätte er dies sogar noch am Vorabend bis 20.00 Uhr tun können.
Diese Regelung war den obersten Arbeitsrichtern zufolge vom Direktionsrecht (§ 106 S. 1 GewO) gedeckt. Es verstoße weder gegen das Teilzeit- und Befristungsgesetz noch gegen den Arbeitsschutz nach dem Arbeitszeitgesetz und auch nicht gegen die EU-Richtlinie von 2003 "über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung". Bei dieser nehme der EuGH ebenfalls keine Arbeitszeit an, wenn etwaige Einschränkungen es Beschäftigten erlaubten, trotzdem "ohne größere Anstrengungen" eigene Interessen zu verwirklichen – selbst bei einer "Rufbereitschaft".
Nebenpflicht zur Kenntnisnahme
Maßgeblich für das Verdikt aus Erfurt war somit: "Für den Kläger bestand eine Nebenpflicht aus dem Vertragsverhältnis, die Zuteilung des Dienstes zur Kenntnis zu nehmen", selbst wenn sie auf seinem Mobiltelefon eingegangen sei. Dieser Pflicht habe er auch außerhalb seiner eigentlichen Dienstzeit als Notfallsanitäter nachzukommen. Nach § 241 Abs. 2 BGB sei "jede Partei des Arbeitsvertrags zur Rücksichtnahme auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen ihres Vertragspartners verpflichtet". Deutlich lesen die Bundesrichter und -richterinnen dem Kläger ebenso wie den Vorderrichtern in der Förde-Stadt die Leviten: Der Sanitäter habe im Rahmen seiner geschuldeten Mitwirkungspflicht durchaus nicht ununterbrochen für die Beklagte erreichbar sein müssen.
"Es blieb ihm überlassen, wann und wo er von der SMS Kenntnis nehmen wollte, mit der ihn die Beklagte über die Konkretisierung seines Springerdienstes informiert hat." Keineswegs sei er verpflichtet gewesen, den gesamten Tag auf sein Handy zu schauen und sich dienstbereit zu halten – es hätte sogar gereicht, wenn er dies am Morgen des Diensttages getan hätte. Die Ruhezeit wird demnach durch die Kenntnisnahme nicht unterbrochen. Vielmehr konnte er dem obersten Arbeitsgericht zufolge frei wählen, zu welchem Zeitpunkt er die Weisung zur Kenntnis nimmt: "Der eigentliche Moment der Kenntnisnahme der SMS stellt sich als zeitlich derart geringfügig dar, dass auch insoweit von einer ganz erheblichen Beeinträchtigung der Nutzung der freien Zeit nicht ausgegangen werden kann."
Vorinstanz proklamierte noch ein "Recht auf Unerreichbarkeit"
Die Oberrichter in Kiel hatten das in der Vorinstanz noch ganz anders gesehen. Mit einem Ausflug ins 1. Semester des Jurastudiums erinnerten sie daran, dass gemäß § 130 BGB eine Willenserklärung mit ihrem Zugang wirksam wird – egal ob in Briefkasten, Postfach, E-Mail-Postfach oder auf dem Anrufbeantworter. Aber erst dann, wenn die Kenntnisnahme durch den Empfänger möglich und nach der Verkehrsanschauung zu erwarten ist. Der Lebensretter sei nicht verpflichtet gewesen, „während seiner Freizeit eine dienstliche SMS aufzurufen, um sich über seine Arbeitszeit zu informieren und damit zugleich seine Freizeit zu unterbrechen“. Denn dabei handele es sich um Arbeitszeit: "Der Kläger erbringt mit dem Lesen eine Arbeitsleistung."
Auch sonst fand die Kammer am LAG Schleswig-Holstein eindrucksvolle Worte fürs Poesiealbum von Werktätigen. In seiner Freizeit stehe dem Mitarbeiter ein „Recht auf Unerreichbarkeit“ zu. Freizeit zeichne sich gerade dadurch aus, dass Arbeitnehmer nicht zur Verfügung stehen müssten. „In dieser Zeit müssen sie gerade nicht fremdnützig tätig sein und sind nicht Bestandteil einer fremdbestimmten arbeitsrechtlichen Organisationseinheit und fungieren nicht als Arbeitskraft.“ Dem stehe auch der „zeitlich minimale Aufwand“, der mit dem Aufrufen und Lesen einer SMS verbunden sei, nicht entgegen: „Arbeit wird nicht deswegen zur Freizeit, weil sie nur in zeitlich ganz geringfügigem Umfang anfällt.“ Schließlich gehe es sowohl um Gesundheits- wie Persönlichkeitsschutz. Das BAG hat das nun anders gesehen.