Dem Völkerstrafrecht wird derzeit vielfach attestiert, dass es machtlos sei, unfähig, militärischer Gewalt Einhalt zu gebieten. Ukraine, Gaza, Sudan – um nur einige Konfliktgebiete zu nennen: Täglich erreichen uns Bilder massiver Gräueltaten, die das Recht nicht verhindern konnte und die auch unbestraft zu bleiben scheinen. Internationale Organisationen wie der IStGH verlieren an Rückhalt in der Staatengemeinschaft; gerichtliche Entscheidungen werden ignoriert; Appelle an Konfliktparteien, sich an das Völkerrecht zu halten, verhallen.
Am heutigen Donnerstag jährt sich der Tag, an dem das IStGH-Statut auf der Diplomatischen Bevollmächtigtenkonferenz der Vereinten Nationen 1998 angenommen und der Gerichtshof errichtet wurde. Doch selten stand die Glaubwürdigkeit und Legitimation des IStGH so infrage wie heute. Und wenn es auch zweifellos richtig ist, dass das Völkerstrafrecht vor einer großen Bewährungsprobe steht, gilt zugleich, dass es als normativer Orientierungsmaßstab gefragter ist denn je. Zudem darf nicht unterschätzt werden, was das Völkerstrafrecht und auch der IStGH trotz schwieriger Rahmenbedingungen derzeit leisten.
Haftbefehle gegen Putin und Netanjahu: Wichtig, aber wirkungslos?
Der Eindruck der "Ohnmacht des Rechts", der sich angesichts zahlreicher gewaltsamer Konflikte einstellen mag, hängt mit einer strukturbedingten Vollzugsschwäche des Völker(straf)rechts zusammen. Das Völkerrecht kennt keine supranationale Exekutive. Der IStGH hat keine Polizei, keine Eingreiftruppen, die seine Entscheidungen durchsetzen. Er ist insoweit auf die Unterstützung der Staatengemeinschaft angewiesen. Das IStGH-Statut erlegt den Mitgliedstaaten daher weitreichende Kooperationspflichten auf. Hierzu gehört auch, dass sie internationale Haftbefehle vollstrecken, die vom IStGH gesuchten Personen festnehmen und nach Den Haag überstellen müssen. Dies gilt nach gefestigter Rechtsprechung des IStGH selbst dann, wenn sich die Haftbefehle gegen amtierende Oberhäupter von Staaten richten, die das IStGH-Statut nicht ratifiziert haben. Allerdings neigen Staaten vermehrt dazu, ihre Verantwortung für den Vollzug des Völkerstrafrechts hinter politischen Erwägungen zurückzustellen.
Mit seinen Haftbefehlen gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu hat der IStGH starke Zeichen gesetzt: Das Völkerrecht soll ohne Ansehen der Person und ihrer politischen Position durchgesetzt werden. Die damit verbundene Grundidee des Völkerstrafrechts, dass auch oberste politische Entscheidungsträgerinnen und -träger nicht über dem Recht stehen, wird aber konterkariert, wenn die Mitgliedstaaten ihrer Verantwortung für die Durchsetzung des Völkerstrafrechts nicht nachkommen. So war Putin im Oktober 2024 auf Staatsbesuch in der Mongolei, einem Mitgliedstaat des IStGH-Statuts, ohne festgenommen zu werden. Im April 2025 empfing Viktor Orbán unter offener Missachtung des internationalen Haftbefehls seinen russischen Amtskollegen in Ungarn und erklärte zeitgleich den Austritt Ungarns aus dem IStGH. Aber auch in Deutschland – einem Land, das maßgeblich an der Gründung des IStGH mitgewirkt hat und (eigentlich) zu den stärksten Unterstützern des Gerichtshofs zählt – werden Zweifel laut, ob der Haftbefehl gegen den israelischen Ministerpräsidenten durchgesetzt werden darf oder sollte. Selbst Bundeskanzler Friedrich Merz, damals noch Kanzlerkandidat, kündigte im Wahlkampf an, "Mittel und Wege" finden zu wollen, einen Deutschlandbesuch Netanjahus möglich zu machen. Das Völker(straf)recht wird so zur Disposition der Politik gestellt; auf eine abschreckende Wirkung gerichtlicher Entscheidungen darf man so wohl kaum hoffen.
Der IStGH unter Druck: Sanktionen und interne Ermittlungen
Noch stärkeren Gegenwind bekommt der IStGH von den USA. Präsident Donald Trump nahm den Haftbefehl gegen Netanjahu zum Anlass, Sanktionen gegen den IStGH und einzelne Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu verhängen – darunter Chefankläger Karim Khan und mehrere Richterinnen und Richter. Die Folgen sind weitreichend, nicht nur für die betroffenen Personen. Vielmehr untersagten die USA jegliche Unterstützung zugunsten der sanktionierten Personen, auch durch Lieferung von Gütern oder Dienstleistungen. In Folge haben mehrere Unternehmen die Zusammenarbeit mit dem IStGH eingestellt oder beschränkt. Der Ankläger hat hierdurch zeitweilig den Zugriff auf seine E-Mails verloren. Sämtliche Finanztransaktionen des Gerichtshofs sind erschwert, da die meisten der in der EU ansässigen Banken und Finanzdienstleister mit US-Unternehmen zumindest verbunden sind. Die Handlungsfähigkeit des Gerichtshofs ist ernsthaft bedroht.
Neben diesen Angriffen von außen muss der IStGH auch interne Krisen bewältigen. Chefankläger Khan werden sexuelle Übergriffe und Machtmissbrauch vorgeworfen; das United Nations Office of Internal Oversight Services hat Ermittlungen eingeleitet. Khan hat sich bis zum Abschluss des Verfahrens beurlauben lassen. Kritikerinnen und Kritiker des IStGH nutzen dies, um die Legitimität und Integrität der gesamten Organisation in Frage zu stellen.
Gegenbewegungen und die (politische) Macht des Völkerstrafrechts
Diese Entwicklungen sind besorgniserregend; der Anfang vom Ende des Völkerstrafrechts sind sie nicht. Zunächst kurz zur causa Khan: Ob sich die Vorwürfe erhärten, wird man sehen. Für die Integrität der Institution kommt es entscheidend darauf an, wie sie mit einer solchen Situation umgeht. Hier wurden die Vorfälle zur Aufarbeitung an die zuständigen Stellen weitergeleitet; Khan selbst hat sich zurückgezogen. Die internen Aufsichtsmechanismen funktionieren, mehr kann man mit Blick auf den konkreten Fall im Moment schwerlich verlangen. Er könnte und sollte aber zum Anlass genommen werden, die Strukturen des IStGH daraufhin zu untersuchen, inwieweit sie durch Hierarchien, Abhängigkeiten etc. (sexualisierte) Übergriffe und Machtmissbrauch begünstigen und wie dem ggf. begegnet werden kann. Zu denken wäre beispielsweise daran, auch unterhalb der Ebene der Richterinnen und Richter (siehe insoweit Art. 36 Abs. 8 IStGH-Statut) noch stärker auf eine geschlechtergerechte und diversitätssensible Besetzung von Führungspositionen hinzuwirken.
Was nun das völkerstrafrechtliche Durchsetzungsdefizit angeht, so darf man nicht unterschätzen, dass die Haftbefehle des IStGH – auch wenn sie nicht umgesetzt werden – politische Handlungsspielräume verkleinern. Putin und Netanjahu müssen vor Auslandsreisen klären, ob ihnen die Festnahme droht. Das ist für ein amtierendes Staatsoberhaupt eine nicht unerhebliche Beschränkung. So ist Putin 2023 beispielsweise nicht zum BRICS-Gipfel gefahren, da Gastgeberstaat Südafrika ihm kein "freies Geleit" zugesichert hatte. Zudem sind die Haftbefehle und andere Entscheidungen internationaler Gerichte Bezugspunkte in der politischen Kommunikation, beispielsweise wenn es um die Legitimität von weiteren Waffenlieferungen nach Israel geht. Völker(straf)recht wirkt an dieser Stelle als normativer Diskursmaßstab. Es wird durch Bezugnahmen in seiner Geltung bestätigt und bekräftigt.
Dass die Staatengemeinschaft dem Völkerstrafrecht weiterhin Bedeutung zumisst, zeigte sich anschaulich an dem jüngst unterzeichneten Abkommen zwischen der Ukraine und dem Europarat zur Einrichtung eines Sondergerichtshofs für das Verbrechen der Aggression. Dieses neue Tribunal soll die Lücke schließen, die daraus entsteht, dass der IStGH das Verbrechen der Aggression grundsätzlich nur dann ahnden kann, wenn der Angriffskrieg von einem Staat ausgeht, der das IStGH-Statut ratifiziert hat – was Russland nicht getan hat. Dies ist ein klares Bekenntnis für ein effektives Völkerstrafrecht und ein wichtiger Schritt hin zu einer Überarbeitung und Erweiterung der Zuständigkeiten des IStGH.
Das Recht der Mächtigen oder die Macht des Rechts?
Auch der IStGH führt – trotz der widrigen Rahmenbedingungen – seine Arbeit fort. Im März 2025 wurde – von der Öffentlichkeit wenig beachtet – der ehemalige Präsident der Philippinen Rodrigo Duterte festgenommen und an den IStGH überstellt. Ihm wird zur Last gelegt, im Rahmen des philippinischen "war on drugs" Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Form von Tötungen begangen zu haben. Am 8. Juli 2025 erließ der IStGH zudem Haftbefehle gegen Führungspersonen der Taliban wegen geschlechtsspezifischer Verfolgung. Es ist das erste Mal, dass explizit auch Verbrechen gegen queere Personen in den Blick genommen werden.
Zur Durchsetzung und Fortentwicklung des Völkerstrafrechts trägt übrigens auch die nationale Justiz bei. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: Das Schweizer Bundesgericht hat 2024 den ehemaligen Innenminister von Gambia wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. In Deutschland wurde vor wenigen Wochen das Verfahren gegen den syrischen "Folterarzt" Alaa M. abgeschlossen; Frankreichs Justiz hat einen internationalen Haftbefehl gegen den ehemaligen syrischen Machthaber Baschar al-Assad ausgestellt. Das Völkerstrafrecht ist Teil des Justizalltags geworden.
Völkerrecht und Völkerstrafrecht setzen Selbstbeschränkung und Unterstützung der Staaten bzw. der Staatengemeinschaft voraus. Das internationale Rechtssystem basiert darauf, dass Staaten ihre politische und militärische Macht nicht nach freiem Belieben nutzen, sondern sich den Regeln des Rechts unterwerfen. Das Völker(straf)recht kann daher nur so stark sein, wie die Staaten es wollen. Es liegt an ihnen, sich zu den im IStGH-Statut verankerten Werten zu bekennen, völker(straf)rechtliche Institutionen zu schützen, auf die Einhaltung des Völkerrechts hinzuwirken und völkerrechtliche Verbrechen weltweit zu bekämpfen – und zwar auch dann, wenn es politisch unbequem ist.
Stefanie Bock ist Professorin für Internationales Strafrecht an der Philipps-Universität Marburg und Direktorin des Internationalen Forschungs- und Dokumentationszentrums Kriegsverbrecherprozesse.