Russland vor Gericht: Was kann ein Ukraine-Sondertribunal ausrichten?
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Ein Sondertribunal soll über die russische Führung wegen des Verbrechens der Aggression gegen die Ukraine urteilen – ein schöner Traum? Vielleicht, aber deshalb nicht wertlos, meint Robert Stendel

Das Verbrechen der Aggression gilt vielen als "Verbrechen aller Verbrechen". Dementsprechend forderten bereits kurz nach der russischen Invasion der Ukraine am 24. Februar 2022 prominente Figuren des öffentlichen Lebens, wie der ehemalige britische Premierminister Gordon Brown, die Verantwortlichen strafrechtlich zur Rechenschaft zu ziehen. Allerdings stehen einer Strafverfolgung einige Hürden entgegen.

Die Bemühungen der Ukraine und etwa 40 weiterer unterstützender Staaten führten am 25. Juni zu einem Durchbruch: der Generalsekretär des Europarates und der ukrainische Präsident unterzeichneten einen Vertrag mit angehängtem Statut zwischen beiden Seiten, der ein Sondertribunal errichten soll.

Ob das Tribunal jemals über die Verantwortlichkeit der russischen Führung entscheiden kann, ist mehr als ungewiss. Dennoch leisten die Anstrengungen um das Tribunal einen wichtigen Beitrag für die Aufrechterhaltung des völkerrechtlichen Gewaltverbots.

Sondertribunal soll Ukraines Strafgewalt ausüben

Das Sondertribunal soll aus einer Zusammenarbeit zwischen Ukraine, Europarat und einem Kreis an Unterstützerstaaten entstehen. Konkret überträgt die Ukraine ihre territoriale Strafgewalt über das Verbrechen der Aggression in einem Vertrag mit dem Europarat auf ein zu errichtendes Sondertribunal (Art. 1 Statut). 

Dieses Sondertribunal, das mit internationalen Richterinnen und Richtern besetzt sein soll, darf dann die Strafgewalt der Ukraine ausüben. Dabei wird es finanziell und institutionell durch weitere Staaten unterstützt, die einem sogenannten "enlarged partial agreement" beitreten. Das ist ein Instrument im Rahmen des Europarats, bei dem ein Teil der Mitglieder in einer Sache verstärkt kooperiert und zugleich Nicht-Mitglieder beitreten können und dürfen. Der Entwurfstext dieses Vertrages ist noch nicht öffentlich bekannt. Vom Abschluss dieses Vertrags mit möglichst vielen Staaten hängt nicht nur das Inkrafttreten des Vertrages zwischen Ukraine und Europarat ab, sondern auch die praktische Umsetzbarkeit des Tribunals.

Dem IStGH sind die Hände gebunden

Dieses Sondertribunal steht am Ende eines langen Verhandlungsprozesses und das Ergebnis mutet kompliziert an. Es ist das erste Mal, dass der Europarat in Erscheinung tritt, um völkerrechtliche Verbrechen strafrechtlich zu verfolgen. Allerdings fehlt es an Alternativen. Der IStGH in Den Haag darf über den Vorwurf der Aggression in der Ukraine nicht entscheiden. Denn die Strafgewalt des IStGH über das Aggressionsverbrechen steht nach seiner rechtlichen Grundlage, dem Römischen Statut, unter der zusätzlichen Voraussetzung, dass auch der Staat Partei des Statuts sein muss, dessen Staatsangehörigen die Aggression vorgeworfen wird oder dass der UN-Sicherheitsrat den Fall an den IStGH verweist. 

Da die Russische Föderation keine Partei des Statuts ist und als ständiges Mitglied eine Entscheidung des Sicherheitsrates durch ein Veto verhindern wird, kann der IStGH hierüber nicht entscheiden. Nur wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder eines (theoretischen) Genozids auf dem Gebiet der Ukraine kann der IStGH auch gegen russische Staatsangehörige vorgehen. Für diese Verbrechen genügt es, dass die Ukraine der Strafgewalt des IStGH unterliegt. Die Zustimmung der Russischen Föderation ist nicht erforderlich.

Russisches Veto verhindert Tätigwerden der UN

Weil eine Reform des Römischen Statuts jedenfalls langwierig sein wird, bleibt für die Verfolgung der Aggression nur die Errichtung eines Ad-hoc-Sondertribunals. Solche Tribunale wurden zuvor durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, zum Teil mit der Zustimmung der jeweiligen Staaten, errichtet. Wegen des russischen Vetos ist eine solche Konstruktion allerdings versperrt.

Vorschläge, die UN-Generalversammlung könnte ein solches Sondertribunal durch eine Resolution errichten, werfen nicht nur schwierige rechtliche Probleme auf, sondern sind ebenfalls politisch unwahrscheinlich. Dass sich eine breite Mehrheit der Mitglieder der UN für die strafrechtliche Verfolgung eines amtierenden Staatsoberhaupts und seiner Führungsriege ausspricht, ist mehr als fraglich.

Zwar könnte die Ukraine auf der Grundlage ihrer territorialen Strafgewalt selbst über den Vorwurf der Aggression richten, vorbehaltlich der Immunität bestimmter Personen. Verfahren vor ukrainischen Gerichten würden allerdings in den Augen vieler sehr viel weniger Legitimität besitzen. Denn der Verdacht, dass den Angeklagten hier kein faires Verfahren widerfahren würde, ist schwer auszuräumen.

Experten empfahlen Europarat als Partner

Letztlich blieb damit nur ein Sondertribunal, ohne die UN, aber mit internationaler Beteiligung. Hierfür hatten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bereits früh den Europarat als mögliches Forum und Kooperationspartner ins Spiel gebracht. Sie wiesen darauf hin, dass der Europarat mehr als nur eine zweit- oder drittbeste Lösung anbiete. Dafür spricht, dass ein Sondertribunal mit Beteiligung des Europarats einem der zentralen Vorwürfe gegen das Völkerstrafrecht nicht ausgesetzt wäre: dem Vorwurf, westliche Staaten würden mit zweierlei Maß messen. 

Für das Verbrechen der Aggression in der Ukraine ein Sondertribunal zu schaffen, obwohl es bei anderen Verstößen gegen das Gewaltverbot, zum Beispiel den Irakkrieg, keines gegeben hat, wirft Fragen auf. Unabhängig davon, ob diese Vorwürfe in der Sache überzeugen, sind sie ein politisches Faktum, mit dem umzugehen ist. Gerade hier zeigt sich der Vorteil eines Sondertribunals mit Beteiligung des Europarats: Weder dem Europarat noch der Ukraine kann man vorwerfen, mit zweierlei Maß zu messen, wenn sie nur diese, nicht aber andere Aggressionen verfolgen. Der Europarat ist eine regionale Organisation und daher ist es folgerichtig, wenn er sich einer Aggression zwischen (ehemaligen) Mitgliedern annimmt, nicht aber Verstößen gegen das Völkerrecht weit außerhalb Europas.

Wen kann das Sondertribunal verfolgen?

Allerdings hat diese Lösung zur Folge, dass der Strafverfolgung gegen Präsident Putin, Ministerpräsident Mischustin und Außenminister Lawrow deren Immunität entgegensteht. Diese sogenannte Troika genießt nämlich aufgrund ihrer Regierungsämter eine persönliche Immunität. Das bedeutet, dass sie für Handlungen während ihrer Amtszeit vor keinem Strafgericht eines anderen Staates zur Verantwortung gezogen werden können. 

Nach internationaler Rechtsprechung und einem bedeutenden Teil des Schrifttums gilt diese Immunität zwar nicht vor internationalen Gerichten, denn diese üben die Strafgewalt der internationalen Gemeinschaft aus. Wann ein Gericht allerdings ausreichend international ist, ist streitig und das geplante Sondertribunal dürfte diese Voraussetzungen nicht erfüllen – jedenfalls, solange nicht eine sehr hohe Zahl an Unterstützerstaaten hinzutritt. 

Dementsprechend soll auch das Sondertribunal gegen diese drei Personen nur bis zur Anklageerhebung ermitteln dürfen (Art. 23 Abs. 5 Statut). Weil sich der Vorwurf der Aggression vor allen Dingen gegen diese oberste Riege der russischen Führung richtet, schränkt das die Relevanz des Tribunals erheblich ein. Allerdings schützt die Immunität nicht alle möglichen Angeklagten. Denn die Führungsriege unterhalb der Troika kann für eine Aggression zur Verantwortung gezogen werden. Zwar genießen diese Personen funktionale Immunität für Amtshandlungen während ihrer Amtszeit. Jedoch soll diese Immunität nicht für völkerrechtliche Verbrechen gelten, wozu nach einer verbreiteten, aber nicht unumstrittenen, Auffassung auch die Aggression zählt. Gegen diese Personen könnte ein Sondertribunal also vorgehen. Dementsprechend sieht das Statut vor, dass solche Amtsträgerinnen und Amtsträger sich nicht auf funktionale Immunität berufen können (Art. 23 Abs. 4 Statut).

Warum das Sondertribunal auch ohne eine einzige Verurteilung wertvoll ist

Mit der Veröffentlichung des Statuts und des Vertrages zwischen Europarat und Ukraine bleiben aber weiterhin wichtige Fragen noch offen. So sind Sitz und genaue Finanzierung noch nicht geklärt. Mit dem Ausscheiden der Vereinigten Staaten zu Beginn von Präsident Trumps Amtszeit ist ein wichtiger Unterstützer weggebrochen, und es bleibt abzuwarten, ob die verbliebenen Unterstützerstaaten eine ausreichende finanzielle Ausstattung gewährleisten wollen und können. Der Vertrag zwischen Ukraine und Europarat wird erst in Kraft treten, wenn die Ukraine den Vertrag ratifiziert hat und das unterstützende "enlarged partial agreement" abgeschlossen ist (Art. 9 Vertrag). Geplant ist jedenfalls, dass das Tribunal im kommenden Jahr seine Arbeit aufnehmen soll.

Momentan steht nicht zu erwarten, dass das Sondertribunal bald über Angeklagte zu Gericht sitzen wird. Ob es das jemals tun wird, ist ungewiss. Das macht die Bemühungen um eine Strafverfolgung aber nicht nutzlos: Denn die bloße Errichtung eines solchen Tribunals erfüllt spezial- und generalpräventive Zwecke. Den Verantwortlichen in der russischen Führung führt es vor Augen, dass ihr Handeln strafrechtliche Konsequenzen haben kann. Sie müssen bei ihren weiteren Schritten diese Konsequenz bedenken und werden in ihrer Reisefreiheit weiter eingeschränkt.

Aber auch allen übrigen Regierungen macht die Errichtung des Sondertribunals klar, dass eine Aggression für die Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger persönliche Konsequenzen hat. Damit stärkt und unterfüttert das Sondertribunal das völkerrechtliche Gewaltverbot. 

Zuletzt ist es nicht ausgeschlossen, dass sich die politische Lage in der Russischen Föderation einmal verändert. Eine neue Führung, die mit der Politik der vorhergehenden Staatsleitung brechen möchte, würde in einem Sondertribunal eine Infrastruktur vorfinden, die es nutzen könnte. Eine persönliche Immunität der Troika wäre dann kein rechtliches Hindernis mehr, weil der russische Staat durch seine Führung der Verfolgung zustimmen könnte. Das Sondertribunal kann sich damit zu einem wertvollen Werkzeug bei einem Systemwechsel erweisen.

Dr. Robert Stendel ist Referent am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht und Schriftleiter der Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht.

Gastbeitrag von Dr. Robert Stendel, 15. Juli 2025.

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