Der Bundesrat äußerte gegenüber der im Bundestag beschlossenen Regelung der digitalen Dokumentation von Strafprozessen erhebliche grundlegende und tiefgreifende fachliche Bedenken. Er sieht insbesondere eine Gefahr für die Wahrheitsfindung und die Beeinträchtigung des Opferschutzes, befürchtet aber auch Verfahrensverzögerungen und fragt nach dem Verhältnis zwischen personellem, technischem, organisatorischem und finanziellem Aufwand auf der einen und dem Mehrwert auf der anderen Seite. Die Länder verweisen zudem auf teils heftige Kritik aus der justiziellen Praxis. Die bisher praktizierte Dokumentation habe sich bewährt. Ein nachvollziehbarer Bedarf und eine fachliche Notwendigkeit für eine digitale Dokumentation seien weder erkennbar noch im Gesetz dargelegt, bemängelt der Bundesrat in seinem Anrufungsbeschluss.
Der Bundestagsbeschluss will Landgerichte und Oberlandesgerichte verpflichten, die erstinstanzliche Hauptverhandlung künftig standardmäßig per Ton aufzuzeichnen. Aus der Aufnahme soll sich automatisiert ein elektronisches Transkript generieren. Eine zusätzliche Bildaufzeichnung könnten die Länder durch Rechtsverordnung teilweise oder flächendeckend einführen. Unter bestimmten Bedingungen soll das Gericht von einer Aufzeichnung und deren Transkription absehen können - so zum Beispiel bei Aussagen von minderjährigen Zeugen und Opfern von Sexualstraftaten oder wenn eine Gefährdung der Staatssicherheit oder des Lebens, des Leibes oder der Freiheit eines Zeugen oder einer anderen Person zu befürchten ist.
Ursprünglich sah der Referentenentwurf sowohl eine Ton- als auch eine Videoaufzeichnung vor. Sowohl die OLG-Präsidenten als auch die Generalstaatsanwaltschaft hatten sich im Vorfeld ablehnend zu der geplanten Reform geäußert. Justizminister Buschmann (FDP) legte daraufhin den Kompromiss vor, nur noch die Tonaufzeichnung zwingend festzulegen, die Videoaufzeichnung dagegen nicht mehr. Die Anwaltschaft sprach sich für die Reform aus.
Auch Bedenken gegen verstärkten Einsatz von Videokonferenztechnik
Auch das vom Bundestag beschlossenes Gesetz zur Neufassung von § 128a ZPO - also einem verstärkten Einsatz von Videokonferenztechnik in Zivil-, Verwaltungs-, Arbeits-, Finanz- und Sozialgerichten - soll im Vermittlungsausschuss überarbeitet werden. Zwar unterstützen die Länder nach eigener Aussage das Ziel, äußern jedoch grundlegende Bedenken gegen die einzelnen Vorgaben des Gesetzes, die den Kern des richterlichen Selbstverständnisses berührten und die Verfahrensleitung der Vorsitzenden unangemessen einschränkten. Die mündliche Verhandlung als Herzstück eines jeden Gerichtsprozesses sei von herausragender Bedeutung für die Wahrheitsfindung, betont der Bundesrat. Die Vorsitzenden müssten daher nach eigenem Ermessen entscheiden können, ob sie Videokonferenz einsetzen wollen. Dies dürfe nicht in der Dispositionsbefugnis der Parteien stehen. Der Bundesrat kritisiert zudem die vorgesehene Begründungspflicht, wenn ein Gericht den Einsatz von Videotechnik ablehnt.
Auch die Erprobung rein virtueller Verhandlungen, bei denen auch das Gericht per Video zugeschaltet ist, lehnen die Länder ab. Sie fordern, am Grundsatz der Saalöffentlichkeit festzuhalten. Sonst sei weder sicher festzustellen, wer an einer Verhandlung teilnimmt, noch seien wirksame sitzungspolizeiliche Maßnahmen möglich.
Der Bundesrat warnt davor, dass Video-Verhandlungen abgefilmt werden könnten. Weiterverarbeitet oder veröffentlicht, bestehe die Gefahr, dass Äußerungen aus dem Zusammenhang gerissen und zu missbräuchlichen Zwecken verwendet werden*. Wenn die Beteiligten und das Gericht befürchten müssen, dass ihre Äußerungen im Internet für eine unbeschränkte Personenanzahl und einen unbegrenzten Zeitraum verfälscht dargestellt würden, bestehe die Gefahr, dass sie sich nicht mehr unbefangen verhielten. Auch das vorgesehene rasche Inkrafttreten ohne Übergangszeit monieren die Länder - insbesondere wegen des großen technischen und personellen Aufwands für den Einsatz von Videotechnik.
Gesetzentwurf ermöglicht Urteil aus dem Homeoffice
Nach dem Bundestagsbeschluss soll Videokonferenztechnik sowohl bei der mündlichen Verhandlung als auch in weiteren gerichtlichen Terminen - zum Beispiel bei der Urteilsverkündung - die physische Präsenz an einem bestimmten Ort künftig entbehrlich machen. Beantragt ein Verfahrensbeteiligter die Teilnahme per Bild- und Tonübertragung, soll der Vorsitzende diese anordnen. Die Ablehnung eines solchen Antrags müsste das Gericht unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls begründen.
Der Bundestagsbeschluss sieht für die Länder die Möglichkeit vor, sogenannte vollvirtuelle Videoverhandlungen in der Zivilgerichtsbarkeit zu erproben: Dabei würde sich auch die oder der Vorsitzende nicht mehr im Sitzungssaal aufhalten, sondern wäre zum Beispiel aus dem Home Office zugeschaltet. Die Verhandlung müsste dann zusätzlich in einen öffentlich zugänglichen Raum im Gericht übertragen werden, damit die Öffentlichkeit teilhaben könnte. Wahlweise können die Länder auch gesetzlich ermöglichen, stattdessen einen Link für ein Streaming der Verhandlung zur Verfügung zu stellen.
Die Justizministerinnen und -minister der Länder hatten sich bereits mit großer Mehrheit gegen die beiden Gesetzesvorhaben gestemmt. Die BRAK reagierte mit einem Brandbrief auf die Blockadehaltung der Länder. BRAK-Präsident Ulrich Wessels sprach von einer "klaren Behinderung dringend benötigter Reformen" und forderte die Ministerpräsidenten auf, den Gesetzen zuzustimmen. Damit blieb er erfolglos. Der Vermittlungsausschusses kann nun nach Art. 77 GG Änderungen an den Gesetzen verlangen.
(Berichtigung: * Hier hieß es zunächst, dass der Entwurf das Abfilmen erlaube. Das ist nicht der Fall. Der Artikel wurde am 15.12.2023 um 16:12h geändert, jvh)