Digitaler Aufzeichnung von Strafverhandlungen droht Blockade in Bundesrat
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Die Justizminister der Bundesländer stemmen sich mit großer Mehrheit gegen die elektronische Aufzeichnung von Hauptverhandlungen, die der Bundestag für Strafprozesse in erster Instanz vor Land- und Oberlandesgerichten beschlossen hat. Der Rechtsausschuss des Bundesrats hat nach Informationen der NJW eine "grundlegende Überarbeitung" verlangt. Auch die erweiterten Möglichkeiten für Videoverhandlungen in Zivilprozessen lehnt er ab.

Richter, Verteidiger und Staatsanwälte sollen eine elektronische Gedächtnisstütze erhalten: So hat es der Bundestag Mitte November beschlossen. Strafprozesse, die in erster Instanz vor einem LG oder OLG beginnen, sollen künftig aufgezeichnet werden – per Mikrofon und, sofern Bundesländer dies wünschen, auch per Kamera. Die Tonaufnahmen sollen mit einer Transkriptionssoftware automatisch in eine schriftliche Fassung umgewandelt werden und das traditionelle rein formale Protokoll ergänzen. Doch nun haben sich die Justizminister der Bundesländer quergestellt: Der Rechtsausschuss des Bundesrats fordert eine "grundlegende Überarbeitung" des Hauptverhandlungsdokumentationsgesetzes (DokHVG).

"Teils heftige und einhellig ablehnende Kritik"

Sie machen eine ganze Latte von Einwänden geltend und berufen sich dabei auch auf ablehnende Stimmen aus der Justiz. Das Gesetz enthalte eine Vielzahl von Änderungen der StPO, die im Wesentlichen auf teils heftige und einhellig ablehnende Kritik in der Praxis stoße, heißt es in der Empfehlung an das Plenum, die der NJW vorliegt. Die hergebrachte Art der Dokumentation habe sich nach ganz überwiegender Ansicht der justiziellen Praxis bewährt: "Jedenfalls werden Mängel der bisherigen Verfahrensweise nicht empirisch belegt, sondern beruhen vielfach auf bloßen Behauptungen." Ein nachvollziehbarer Bedarf und eine fachliche Notwendigkeit für eine digitale Dokumentation seien weder erkennbar noch im Gesetz dargelegt.

Angeführt werden "insbesondere" Gefahren für die Wahrheitsfindung, eine Beeinträchtigung des Opferschutzes und eine drohende Verzögerung von Verfahren. Kritisiert werden zudem die optionale Bildaufzeichnung, das Inkrafttreten der Regelung zur Aufzeichnungs- und Transkriptionspflicht bei den Landgerichten am 1.1.2030 sowie das "Verhältnis von dem personellen, technischen, organisatorischen und finanziellen Aufwand" zum Mehrwert. Allein das Wissen um eine Aufzeichnung und die damit einhergehende Möglichkeit der missbräuchlichen Verbreitung können aus Sicht der Minister sowohl Zeugen als auch Angeklagte einschüchtern "und mindestens unbewusst in ihrer Aussagefähigkeit und Aussagebereitschaft beeinflussen und damit auch die Wahrheitsfindung beeinträchtigen". Opferzeugen würden bei der ohnehin schon als stark belastend empfundenen Vernehmungssituation durch eine Aufnahme im Wissen um eine jederzeitige Verbreitungsmöglichkeit zusätzlich beschwert.

Starke Mehrbelastung befürchtet

Befürchtet wird überdies eine "starke Mehrbelastung der Tatgerichte". Um die Nutzung der Tonaufzeichnung für Verfahrensverzögerungen möglichst auszuschließen, fehlt es dem Votum zufolge an Regelungen, die es dem Gericht ermöglichen würden, vom Rückgriff auf die Tonaufzeichnung zum Zweck des Vorhalts abzusehen. Die optionale Videoaufzeichnung begegne "als erheblicher Persönlichkeitseingriff" durchgreifenden opferschutz- und datenschutzrechtlichen Bedenken; angeführt wird hierzu ferner die Gefahr einer "regionalen Zersplitterung" von Bundesregelungen des Strafprozesses. "Viel zu kurz bemessen" scheint den Ressortchefs schließlich die Frist zur flächendeckenden Einführung der Aufzeichnungs- und Transkriptionspflicht. Denn gerade in Flächenländern benötigten Planung, Ausgestaltung und Umsetzung eines derartigen Großvorhabens einen deutlich längeren Vorlauf, heißt es mit Blick auf notwendig werdende bauliche Veränderungen der Sitzungssäle, die erforderliche IT-Infrastruktur und die Beschaffung der Hard- und Software.

Der Bundestag hatte in letzter Minute noch einige Anregungen der Länder berücksichtigt. So wurde gegenüber dem Entwurf der Bundesregierung die Möglichkeit ausgeweitet, bei besonders gefährdeten Personen von einer Aufzeichnung des Tons und – wo Bundesländer außerdem Kameras einführen – des laufenden Bildes abzusehen. Aufgegriffen wurde ferner deren Wunsch, den Zugang zu der Dokumentation auf Vertreter und Beistände der tatsächlich teilnehmenden (und somit auf dieser Grundlage zur Mitwirkung berechtigten) Personen zu beschränken. Anders als zunächst beabsichtigt dürfen aber Verteidiger den Angeklagten und Nebenklägern die Transkripte weiterreichen, nicht hingegen die audiovisuellen Aufzeichnungen selbst.

Bremse auch für Videoverhandlungen in Zivilprozessen*

Auch gegen die erweiterten Möglichkeiten für Videoverhandlungen in Zivilprozessen haben sich die Minister ausgesprochen, die der Bundestag zugleich beschlossen hat. So werde die Befugnis der Gerichte zur Verfahrensleitung unangemessen eingeschränkt. Dies richtet sich dagegen, dass künftig bereits auf Antrag nur eines Verfahrensbeteiligten dessen Teilnahme per Bild- und Tonübertragung angeordnet werden soll. Auch dass dessen Ablehnung konkret begründet werden muss, erwecke den "Eindruck von Misstrauen gegenüber den Gerichten". Überdies sei dies geeignet, "Streitigkeiten über die Begründung und deren Umfang hervorzurufen, welche über einen Antrag auf Besorgnis der Befangenheit des Gerichts ausgetragen werden können". Das gelte gleichermaßen für die geplanten Änderungen für Verhandlungen vor Arbeits- und Sozial- sowie Verwaltungs- und Finanzgerichten. Dass sogar der Vorsitzende Richter aus dem Homeoffice agieren kann, geht den Ministern entschieden zu weit: Zu groß erscheine die Gefahr, "dass etwa in einem häuslichen Arbeitszimmer Störungen von außen für die Konzentration des Gerichts auf die konkrete Verhandlung auftreten, die im Sitzungssaal ausgeschlossen werden könnten".  Das gelte bis auf wenige Ausnahmen auch für die anderen Richter.

Schon länger geplant war eine Reform, die die Erfahrungen aus der Corona-Pandemie auf eine breitere Basis stellen soll. Die Ampelkoalition hatte aber kurz vor der Verabschiedung im Bundestag noch draufgesattelt: Im Vordergrund steht eine Ausweitung von § 128a ZPO. Danach soll künftig das Gericht Videoverhandlungen nicht mehr nur gestatten, sondern auch anordnen können. Ermöglicht wird überdies eine „vollvirtuelle“ Variante, bei der niemand mehr im Justizgebäude sitzen muss. Statt – wie im ursprünglichen Entwurf der Bundesregierung vorgesehen – die Öffentlichkeit nur durch Übertragung in einen Raum vor Ort zu beteiligen, können Interessierten auch beispielsweise Zugangslinks bereitgestellt werden. Dass dies Kosten spare, sei zugleich ein Anreiz für die Bundesländer zur Benennung von entsprechenden Pilotprojekten, heißt es aus dem Ampelbündnis. Auch reicht nun schon der Antrag eines einzigen Verfahrensbeteiligten, um die Soll-Vorschrift zur Videoverhandlung greifen zu lassen. „Dadurch können die Gegner nicht mehr aus taktischen Gründen die andere Partei in eine Präsenzverhandlung zwingen, die vielleicht eine lange unwirtschaftliche Anreise erfordern würde“, ist von Abgeordneten zu hören. Allerdings wird klargestellt, dass dies nur in „geeigneten Fällen“ gilt. Neu ist überdies, dass die Urteilsverkündung ebenfalls per Video erfolgen kann – auch bei sogenannten Stuhlurteilen. „Die Möglichkeit für Richterinnen und Richter, aus dem heimischen Arbeitszimmer zu verhandeln, bedeutet eine riesige Arbeitserleichterung und steigert die Attraktivität der Justiz als Arbeitgeber.“ Ein Hintergedanke: Die Gerichte erhalten damit eine zusätzliche Motivation, das Web zu nutzen; sie würden in der Terminierung flexibler und die Verfahren schneller. Ein Sahnehäubchen: Auch die internen Beratungen und Abstimmungen von Spruchkörpern sind komplett per Bild- und Tonübertragung zulässig (§ 193 GVG-E).

Wie es weitergeht

Am 15.12. tagt das Plenum der Länderkammer. Dort gelten allerdings andere Abstimmungsregeln als im Rechtsausschuss: Je nach ihrer Größe haben die Länder unterschiedlich viele Stimmen, und diese können jeweils nur einheitlich abgegeben werden. Die Justizminister müssen also jeweils versuchen, ihre jeweiligen Koalitionspartner in ihrer Landesregierung auf ihre Seite zu bringen. Findet sich eine Mehrheit für die Einschaltung des Vermittlungsausschusses, kann dieser Änderungen verlangen (Art. 77 GG). In dem Fall könnte das Parlament zwar das DokHVG bestätigen, die Länderkammer jedoch dagegen wiederum Einspruch einlegen. Sofern das Gesetz – wovon die Bundesregierung ausgeht – nicht zustimmungsbedürftig ist, kann der Bundestag diesen mit der einfachen Mehrheit seiner Mitglieder zurückweisen. Bei der Verabschiedung hatte außer der Ampelkoalition die Linksfraktion dafür gestimmt, die CDU/CSU dagegen; die AfD hatte sich enthalten.

*Anm. d. Red: Die Meldung wurde nach Veröffentlichung u. a. um die Videoverhandlungen ergänzt; Stand 04.12., 10.30 Uhr, jja“

Redaktion beck-aktuell, Prof. Dr. Joachim Jahn ist Mitglied der NJW-Schriftleitung, 4. Dezember 2023.