Entscheidungen des Jahres: Diese Urteile aus 2024 muss man kennen
Der 2. Senat des BVerfG bei der Verhandlung über das Wahlrecht / © dpa | Uli Deck

2024 war ein turbulentes Jahr: Das BVerfG kippte nach technischer Panne in Teilen das neue Wahlrecht, der BGH startete sein neues Leitentscheidungsverfahren und Luxemburg öffnete die Tür in die EU für schutzsuchende Frauen. Ein Überblick über die wichtigsten Entscheidungen des Jahres.

Am Ende eines Jahres – gerade, wenn es so atemlos vorübergezogen ist wie 2024 – lohnt es sich, inmitten der Nachrichten-Kakophonie einmal innezuhalten und Revue passieren zu lassen, was wirklich wichtig war. Und juristisch ist wieder einmal viel Bedeutsames geschehen in diesem Jahr.

Frauen als verfolgte Gruppe: Der EuGH macht die Tür auf

In der immer hitziger werdenden innenpolitischen Migrations-Debatte wird oft vergessen, dass ein Großteil der Regeln, nach denen Schutz- und Glücksuchende nach Deutschland kommen und bleiben dürfen, nicht in Berlin, sondern in Brüssel gemacht werden. Doch auch das ist nur die halbe Wahrheit: Wie die EU-Regeln auszulegen sind, wird in letzter Konsequenz in Luxemburg bestimmt, von den Richterinnen und Richtern des EuGH. Diese haben im Laufe des Jahres eine auf den ersten Blick sehr weitgehende Entscheidung zur Frage gefällt, wer in der EU einen Anspruch auf Schutz hat. 

Im Fall zweier Frauen aus dem Irak, die in den Niederlanden aufgewachsen waren, ging es um das Stichwort "Verwestlichung". Dahinter verbirgt sich der Gedanke, dass Menschen – zumal im prägenden Teenager-Alter –von der westlichen Kultur des Landes beeinflusst werden, in dem sie aufwachsen. Durch ihr Leben in den Niederlanden, so argumentierten die Frauen, hätten sie die Werte der dortigen Gesellschaft angenommen und wären bei einer Rückkehr in den Irak nicht in der Lage, sich den Regeln einer Gesellschaft anzupassen, in der Frauen und Mädchen nicht dieselben Rechte hätten wie Männer. Sie befürchteten, deshalb verfolgt zu werden. Dem stimmte der EuGH in seiner Entscheidung aus Juni zu und wertete "verwestlichte" Frauen als verfolgte Gruppe (Urteil vom 11.06.2024 – C 646/21).

Im Oktober legte der Gerichtshof dann noch einmal nach: Im Fall von Frauen, die unter dem Taliban-Regime in Afghanistan leben müssen, ging er noch einen Schritt weiter und befand, dass diese schon aufgrund ihres Geschlechts als verfolgte Gruppe gelten (Urteil vom 04.10.2024 - C-608/22 und C-609/22).

Abschiebung von Maja T.: Wenn Verfassungsrechtsprechung zur Makulatur wird

Es war – so viel darf man wohl sagen – einer der Justizskandale des Jahres: Die sich selbst als non-binär identifizierende linksextremistische deutsche Person Maja T. wurde in einer Nacht-und-Nebel-Aktion über Österreich nach Ungarn ausgeliefert, wo ihr der Prozess unter anderem wegen eines brutalen Angriffs auf einen Rechtsextremisten in Budapest gemacht werden sollte. Über die Abläufe in der Nacht vom 27. auf den 28. Juni existieren verschiedene Versionen, je nachdem, wen man fragt. T.s Anwälte sagten seinerzeit, man habe noch in der Nacht gegenüber dem LKA Sachsen erklärt, gegen die Auslieferung Verfassungsbeschwerde nebst Eilantrag einlegen zu wollen. Die GenStA Berlin, die federführend für die Auslieferung zuständig war, stellte dies anders dar.

Fakt ist: T. wurde in dieser Nacht binnen weniger Stunden nach Ungarn gebracht, noch bevor am nächsten Morgen eine einstweilige Anordnung des BVerfG erging, mit der es die Auslieferung vorerst untersagte (Beschluss vom 28.06.2024 - 2 BvQ 49/24). Die Entscheidung kam somit zu spät. Die deutschen Behörden hatten bereits Fakten geschaffen. Im Anschluss kritisierten nicht nur T.s Anwälte und Angehörige das Vorgehen, auch prominente Auslieferungsrechtler hielten das Vorgehen für nicht rechtsstaatlich und forderten Konsequenzen. T. sitzt indes bis heute in ungarischer Untersuchungshaft, obwohl das BVerfG damals auch ihre Rückholung angeordnet hatte. Laut einem Bericht der TAZ ist T. wohlauf, befindet sich jedoch praktisch durchgehend in Isolationshaft.

Vorab im Netz: Das Wahlrechtsurteil

Die Ampel-Regierung – die das turbulente Jahresende bekanntlich nicht überlebte – hat mehrere sehr umstrittene Gesetze auf dem Konto. Eines davon wird uns bei der Neuwahl im Februar wieder in Erinnerung gerufen werden. Es handelt sich um die Wahlrechtsreform, mit der SPD, FDP und die Grünen endlich den Bundestag verkleinern und die Zahl der Abgeordneten um mehr als 100 auf maximal 630 reduzieren wollten. 

Nachdem die Reform im Juni 2023 in Kraft getreten war, gingen die bayerische Staatsregierung, die Unionsfraktion im Bundestag, die Linke im Bundestag sowie CSU, die Linke und mehrere Privatpersonen dagegen vor. Und das BVerfG gab ihnen Ende Juli in Teilen recht: Die Grundmandatsklausel, nach der auch Parteien in den Bundestag einziehen, die zwar die Fünf-Prozent-Hürde verfehlen, aber mindestens drei Direktmandate gewinnen, zu streichen sei verfassungswidrig, befanden die Karlsruher Richterinnen und Richter (Urteil vom 30.07.2024 - 2 BvF 1/23 u.a.). Den Wegfall der sogenannten Überhangmandate ließ man dagegen durchgehen, womit die kommende Neuwahl unter neuen Vorzeichen begangen wird. Eine zusätzliche Besonderheit hatte die Entscheidung noch: Sie war – aufgrund eines technischen Fehlers, wie man heute weiß – ungeplant bereits am Vorabend der Verkündung online abrufbar, was für viel Aufregung im beschaulichen Karlsruhe sorgte.

KZ-Sekretärin Irmgard F.: Auch sie trägt Schuld

Die strafrechtliche Aufarbeitung der NS-Zeit hat in Deutschland erst spät wirklich ernsthaft begonnen. Dies führte zu dem Problem, dass die wenigen Täterinnen und Täter, derer die Justiz noch habhaft werden konnte, damals sehr jung und eher in den unteren Hierarchieebenen des mörderischen Organisationsapparats der Nazis angesiedelt waren und nunmehr auch hochbetagt sind. Dementsprechend gehen die Urteile gegen frühere KZ-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter oft mit Diskussionen einher, ob es sinnvoll sei, so alte Menschen für lang vergangene Taten noch vor Gericht zu stellen. 

So lag auch der Fall von Irmgard F., inzwischen 99 Jahre alt, die als 19-Jährige Sekretärin im Konzentrationslager Stutthof wurde. Der BGH bestätigte im August ihre Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 10.000 Fällen und die zur Bewährung ausgesetzte zweijährige Freiheitsstrafe (Urteil vom 20.08.2024 - 5 StR 326/23). F. hatte nach den gerichtlichen Feststellungen vorwiegend Schreibarbeiten erledigt, dabei aber etwa Bestellungen für Zyklon B bearbeitet – ein Gift, mit dem die Nazis in ihren Lagern Inhaftierte vergasten. Auch wenn es sich beim Lager Stutthof um kein reines Vernichtungslager gehandelt habe, habe F. positive Kenntnis von den dort begangenen Verbrechen gehabt und sich durch ihre Dienste gleichsam mit ihnen solidarisiert, befand der 5. Strafsenat. Ein Urteil, das auch deshalb bedeutsam ist, weil es eines der letzten Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit der NS-Zeit beendet – und das man unbedingt kennen sollte.

Keine Ausschussvorsitze für die AfD

Im September ging es vor dem BVerfG noch ein zweites Mal um die Rechte politischer Parteien in der Bundesrepublik, diesmal das – vermeintliche – Recht auf Ausschussvorsitze im Bundestag. Die AfD pochte darauf, dass ihr aufgrund ihrer Fraktionsstärke Vorsitze in den Ausschüssen zustünden. Es ging dabei zum einen um Stephan Brandner, der bereits in der vorigen Wahlperiode zunächst zum Vorsitzenden des Rechtsausschusses gewählt und dann infolge umstrittener Äußerungen abberufen worden war. Zum anderen auch um andere Ausschussvorsitze, für die AfD-Kandidatinnen und -Kandidaten in der noch laufenden Wahlperiode regelmäßig durchfielen. 

Das BVerfG entschied jedoch, dass die AfD kein Recht auf die Besetzung von Ausschussvorsitzen im Deutschen Bundestag habe (Urteil vom 18.09.2024 - 2 BvE 1/20; 2 BvE 10/21). Es betonte dabei die Geschäftsordnungsautonomie des Bundestages und damit das Selbstorganisationsrecht des Parlaments. In diesem Bereich könne das Verfassungsgericht nur bei einer evident sachwidrigen und willkürlichen Anwendung einschreiten. 

Der BGH fackelt nicht lange: Facebook-Scraping als erste Leitentscheidung

Gegen Ende des Jahres gab es dann noch ein Novum aus Karlsruhe: Der BGH veröffentlichte seine erste Entscheidung nach dem neuen Leitentscheidungsverfahren. Als das Gesetz zu dessen Einführung Ende Oktober in Kraft getreten war, hatte der BGH noch am selben Tag bekanntgegeben, ein Verfahren gegen den Facebook-Mutterkonzern Meta einer ersten Leitentscheidung zuführen zu wollen

Anwendungsbereich des Leitentscheidungsverfahrens sind Massenverfahren, in denen zahlreiche Betroffene in gleich gelagerten Fällen klagen. In diesen Fällen – und gerade, wenn die Vorinstanzen uneinheitlich urteilen – gelangen die Verfahren häufig nicht zum BGH und damit auch nicht zu einer einheitlichen Entscheidung, da große Unternehmen Revisionsentscheidungen verhindern, indem sie sich in letzter Minute außergerichtlich einigen. Damit soll das Leitentscheidungsverfahren Schluss machen: Nun kann der BGH ein Verfahren, sobald die Revision eingelegt ist, zum Musterprozess bestimmen und auch dann über die grundlegenden Rechtsfragen des Falls entscheiden, wenn das Rechtsmittel noch zurückgenommen wird.

So geschah es im November erstmalig im Verfahren gegen Meta. Ein großer Daten-Diebstahl bei Facebook hatte 2021 weltweit Aufsehen erregt, als die Daten von über einer halben Milliarde Betroffener im Netz landeten (sog. Scraping). Tausende Klagen gegen Meta allein in Deutschland waren die Folge. Nun drehte sich alles um die Rechtsfrage, ob der bloße Kontrollverlust über die eigenen Daten – ohne konkreten weitergehenden Schaden – bereits einen Schadensersatzanspruch nach der DS-GVO begründet. Der BGH bejahte einen solchen Anspruch: Betroffene müssten nur nachweisen, dass sie Opfer des Vorfalls waren, nicht jedoch, dass die Daten nachweislich missbraucht worden seien. Dabei machte der Senat allerdings auch deutlich, dass der Schadensersatz beim bloßen Kontrollverlust nicht allzu hoch ausfallen könne. Als Beispiel im konkreten Fall nannte er 100 Euro. Fazit der Entscheidung: Wenig Geld, große Bedeutung.

Redaktion beck-aktuell, Maximilian Amos, 5. Dezember 2024.