Das ging schnell: Am Tag des Inkrafttretens des Gesetzes zur Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens beim BGH hat das höchste deutsche Zivilgericht von seiner neuen Kompetenz Gebrauch gemacht. Der unter anderem für Ansprüche aus der DSG-VO zuständige VI. Zivilsenat des BGH hat eines der Verfahren gegen den Facebook-Mutterkonzern Meta im sog. Scraping-Komplex zum ersten Leitentscheidungsverfahren bestimmt (Beschluss vom 31.10.2024 – VI ZR 10/24).
In den Verfahren geht es um mögliche Ansprüche von Facebook-Nutzerinnen und -Nutzern, deren Daten ab dem Jahr 2018 frei zugänglich im Internet gelandet waren und mit ihren Handynummern verknüpft sind, nachdem Hacker über ein Sicherheitsleck einer Facebook-Funktion daran gekommen waren. Insgesamt wurden 2021 weltweit 533 Millionen entsprechende Datensätze im Darknet veröffentlicht. Verbraucherkanzleien werben seit Jahren um Mandantinnen und Mandanten, die Facebook für diesen (Kontroll-)Verlust ihrer Daten haftbar machen wollen. Die Betroffenen verlangen immateriellen Schadensersatz, Unterlassung und Feststellung einer weitergehenden Ersatzpflicht.
In den Instanzen sind zahlreiche Verfahren anhängig, beim BGH lagen mehrere Revisionen. Die Obergerichte haben bislang unterschiedlich entschieden. Während zum Beispiel ein Senat des OLG Stuttgart eine Haftung für zukünftige materielle und immaterielle Schäden für möglich hält (Urteil vom 13.12.2023 – 4 U 51/23), hat neben dem OLG Oldenburg auch das OLG Köln die Klage eines Verbrauchers abgewiesen (Urteil vom 07.12.2023 – 15 U 108/23). Unter anderem gegen die Urteile aus Stuttgart und Köln liefen Revisionen beim BGH.
In drei Verfahren: Schluss vor der mündlichen Verhandlung
Doch es geschah, was in vielen Verfahren gegen große Konzerne geschieht, wenn sie es bis zum BGH schaffen: Praktisch in letzter Sekunde einigten sich die Parteien, die Revisionen wurden zurückgenommen, die für Anfang Oktober schon anberaumten Verhandlungen entfielen kurzfristig und der BGH, in Zivilsachen an die Entscheidung der Parteien gebunden, konnte kein Urteil mehr fällen.
So agieren seit vielen Jahren vor allem große Unternehmen, die sich massenhaften Ansprüchen ausgesetzt sehen, um Grundsatzurteile und damit Präzedenzfälle zu ihren Ungunsten zu vermeiden. Genau diese Flucht aus der Revision soll das Leitentscheidungsverfahren verhindern, das Gesetz wurde am gestrigen Mittwoch im Bundesgesetzblatt verkündet und trat am Donnerstag in Kraft. Der BGH hat es sofort genutzt; offenbar gab es dafür gute Gründe.
Erst vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass Meta auch in zwei weiteren zur Verhandlung anstehenden Scraping-Fällen versucht haben soll, auf klagende Verbraucherinnen und Verbraucher Einfluss zu nehmen. Unter dem Titel "Meta bietet Facebook-Klägern Schweigegeld" berichtete die Stiftung Warentest am 18. Oktober, dass der Facebook-Mutterkonzern zwei Klägern, über deren Revisionen der BGH am 11. November verhandeln will, 1.000 und 2.000 Euro plus Übernahme sämtlicher Kosten angeboten habe, wenn sie ihre Klagen zurücknehmen und über die Zahlungen schweigen.
Schnelle höchstrichterliche Klärung grundsätzlicher Rechtsfragen
Obwohl einer von ihnen das Angebot womöglich angenommen hat – im Verfahren VI ZR 186/24 ist die Revision nach Angaben des BGH nun ebenfalls zurückgenommen worden –, wird das eine Grundsatzentscheidung aus Karlsruhe nun nicht mehr verhindern. Mit der Bestimmung des Verfahrens VI ZR 10/24 zum Leitentscheidungsverfahren muss der BGH über die Rechtsfragen des Verfahrens auch dann entscheiden, wenn eine inhaltliche Entscheidung über die Revision aus prozessualen Gründen nicht mehr ergehen kann (§ 565 ZPO n.F.). Damit solle eine schnelle höchstrichterliche Klärung möglich werden, auch wenn die Revision, so der Senat, "aus prozesstaktischen Gründen oder aufgrund eines Vergleichs" zurückgenommen wird.
Der BGH begründet, wie von § 552b ZPO n.F. gefordert, die Bestimmung des Verfahrens zum Leitentscheidungsverfahren mit grundsätzlichen Rechtsfragen. Zu klären ist laut BGH unter anderem, ob schon der bloße Verlust über die Kontrolle der gescrapten und jetzt mit den Telefonnummern der betroffenen Klägerinnen und Kläger verknüpften Daten einen immateriellen Schaden begründen kann und wie dann der Schaden zu bemessen wäre, welche Anforderung an die Substantiierung einer entsprechenden Klage zu stellen wäre und ob schon die bloße Möglichkeit, dass ein Schaden künftig eintreten könnte, ein Feststellungsinteresse im Sinne von § 256 Abs. 1 ZPO begründet. Per se ausgeschlossen erscheint all das nicht, die Klägerinnen und Kläger in den zahlreichen Verfahren gegen Meta berufen sich u.a. auf EuGH-Rechtsprechung, nach der zwar noch nicht der bloße Kontrollverlust über Daten an sich, wohl aber die begründete Angst vor deren Missbrauch zu einer Schadensersatzpflicht führen können soll.
Die aufgezählten Rechtsfragen sind laut dem Senat für eine Vielzahl beim BGH und in den Tatsacheninstanzen anhängiger, in weiten Teilen gleichgearteter Verfahren von Bedeutung. Diese Verfahren können jetzt bis zur Erledigung des Leitentscheidungsverfahrens ausgesetzt werden (§ 148 ZPO n.F.). Im Verfahren VI ZR 10/24 gibt es nun also kein Zurück mehr: Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem BGH ist der 11. November 2024.