Dass es eine strafbare Beihilfe zum Massenmord sein kann, wenn man als Rädchen im Getriebe der tödlichen Nazi-Maschinerie fungierte, ist ein juristischer Fakt. Seit dem Fall des KZ-Aufsehers John Demjanjuk wurde diese Frage in diversen Gerichtsprozessen erörtert und im Ergebnis vom BGH bejaht, wie im Fall des Aufsehers im Konzentrationslager Auschwitz, Oskar Gröning.
Nun hat der BGH die Verurteilung der 99-jährigen Irmgard F. bestätigt, die von Juni 1943 bis April 1945 als Stenotypistin in der Kommandantur des Konzentrationslagers Stutthof gearbeitet hatte (Urteil vom 20.08.2024 - 5 StR 326/23). F. war damals 18, bzw. 19 Jahre alt gewesen und hatte vorwiegend Schreibarbeiten erledigt. Über ihren Schreibtisch ging praktisch die gesamte Korrespondenz, unter anderem Bestellungen für Zyklon B - ein Gift, mit dem die Nazis in ihren Lagern Inhaftierte vergasten.
Zahnrad in der Vernichtungsmaschinerie
Das LG Itzehoe sprach sie deshalb der Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen und des versuchten Mordes in fünf Fällen schuldig und verurteilte sie zu einer Haftstrafe von zwei Jahren, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Dabei handelte es sich um eine Jugendstrafe, da F. zum Tatzeitpunkt nach gegenwärtigem Recht als Heranwachsende im Sinne von § 1 Abs. 2 JGG gelten musste. Das Gericht warf ihr vor, vorsätzlich Hilfe dabei geleistet zu haben, Gefangene durch Vergasungen, lebensfeindliche Bedingungen im Lager, sowie durch Transporte in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und nicht zuletzt durch Verschickung auf sogenannte Todesmärsche grausam zu töten.
F. hatte all dies nicht selbst entschieden oder initiiert, sie hätte es auch nicht verhindern können. Doch die Rechtsprechung des BGH, auf die sich die Itzehoer Strafkammer in diesem Fall stützte, erlaubt es, eine Beihilfe auch dann anzunehmen, wenn keine konkrete Tat nachgewiesen werden kann und die betreffende Person nur vordergründig neutrale Tätigkeiten erledigte. Dies setzt voraus, dass die Tätigkeit für die Organisation des Lagers und die Durchführung der Tötungshandlungen notwendig war und natürlich, dass die betreffende Person sich der Konsequenzen ihrer Handlungen auch bewusst war. Hintergrund dieser Rechtsauffassung ist die wohl beispiellose Art und Weise, wie die Nationalsozialisten mordeten: Sie betrieben in ihren Lagern eine industrielle Menschenvernichtung im Stile eines bürokratischen Apparats - das Töten war sorgsam durchgeführte und dokumentierte Routine. Ein solcher Apparat kann nur funktionieren, wenn ein Zahnrad in das andere greift. Und als ein eben solches Zahnrad sah das LG Itzehoe auch Irmgard F.
Dafür reisten zwei Richter der Strafkammer sogar an den Ort des ehemaligen Konzentrationslagers, an dem sich heute eine Gedenkstätte befindet, um den Arbeitsplatz von F. persönlich in Augenschein zu nehmen. Begleitet wurden sie von einem historischen Sachverständigen. Sie kamen zu dem Schluss, dass F. - anders, als es ihre Verteidigung suggerierte, unmöglich nicht gewusst haben konnte, was im Lager vor sich ging. Sämtliche Befehle seien über ihren Schreibtisch gegangen und sie habe ein enges Vertrauensverhältnis zum Lagerkommandanten Hoppe gehabt, den sie bei der Flucht 1945 sogar teilweise begleitete. Aus ihrem Dienstzimmer habe sie den Sammelplatz sehen können, Gefangene in bemitleidenswertem Zustand hätten warten müssen - oft tagelang. Rauch und Gestank des Krematoriums seien im ganzen Lager wahrnehmbar gewesen.
Ihrem Verfahren hatte sich F. im Übrigen nicht freiwillig gestellt. Am ersten Verhandlungstag war sie aus ihrem Seniorenheim geflohen und Stunden später von der Polizei aufgegriffen worden, worauf das LG ihr - nach kurzer Untersuchungshaft - für einige Wochen ein elektronisches Armband zur Sicherung verordnete.
Es ging nicht ausschließlich ums Morden
Wenn der BGH für eine Revision im Strafverfahren eine Hauptverhandlung anberaumt, wie es der 5. Strafsenat hier tat, darf man das meist als Zeichen eines gesteigerten Interesses an den Rechtsfragen werten. Hier lag die Konstellation insofern anders als in den zuvor entschiedenen Fällen, weil das KZ Stutthof kein reines Vernichtungslager war - es diente eben nicht ausschließlich dem kaltblütigen Morden. Stattdessen handelte es sich zu einem großen Teil um ein Arbeitslager, in dem jedoch - gerade in der Endphase des Krieges - auch in großem Umfang Menschen vergast und anschließend verbrannt wurden. In den bislang entschiedenen Fällen ging es jedoch um mehr oder weniger reine Vernichtungslager. Dies erkannte auch der Generalbundesanwalt, der deshalb die Hauptverhandlung beantragte, um seine Sicht der Dinge mündlich vor dem Senat erörtern zu können.
Mehrere Stunden verhandelte der BGH am 31. Juli, bevor er nun - nicht einmal einen Monat später - sein Urteil sprach. Der Senat verwarf die Revision der Angeklagten und stützte sich nach eigenen Angaben auf die etablierte Rechtsprechung zu Beihilfehandlungen im Zusammenhang mit staatlich organisierten Massenverbrechen. In diesen Konstellationen sei stets "eingehend zu prüfen, ob die dem Gehilfen vorgeworfenen Handlungen die Tathandlung zumindest eines der an dem Mord Mitwirkenden im Sinne des § 27 Abs. 1 StGB gefördert haben", heißt es in der Pressemitteilung des Gerichts. Es kommt also darauf an, ob die scheinbar neutrale Tätigkeit beim Morden geholfen hat - reines Vernichtungslager hin oder her.
Dies bestätigte man für die Sekretärin F. Sie habe durch ihre Schreibarbeit den Lagerkommandanten und dessen Adjutanten unterstützt, auch würdigte man die vertrauensvolle Zusammenarbeit, die auch schon das Landgericht betont hatte. Als "zuverlässige und gehorsame Untergebene" habe sie auch psychisch zu den 10.505 vollendeten und fünf versuchten Morden im Zeitraum ihrer Tätigkeit beigetragen, heißt es in der BGH-Mitteilung. Sie sei als einzige Stenotypistin für den "durchweg bürokratisch organisierten Lagerbetrieb von zentraler Bedeutung" gewesen. Der BGH trat auch der Ansicht der Verteidigung von F. entgegen, wonach ihr Tun anders zu bewerten sei als im bereits entschiedenen Fall eines Aufsehers. Die Schreibarbeit sei für F. keineswegs neutral gewesen, so die Richterinnen und Richter des in Leipzig ansässigen BGH-Senats. Ein "Alltagscharakter" ihrer Handlungen scheide schon deshalb aus, "weil sie von dem verbrecherischen Handeln der von ihr unterstützten Haupttäter positive Kenntnis hatte und sich durch ihre dennoch erbrachten Dienste gleichsam mit ihnen solidarisierte". Der Senat bestätigte damit die Wertung des LG Itzehoe, wonach es schlicht undenkbar sei, dass F. von den Morden im Lager nichts mitbekommen habe.
BGH entscheidet im Geiste Fritz Bauers
Die Kieler Strafrechtsprofessorin Janique Brüning begrüßt, "dass der BGH seine Rechtsprechung fortführt und weiterentwickelt, indem er Personen, die in die Vernichtungsmaschinerie eines Konzentrationslagers eingebunden waren, auch ohne konkreten Tatbeitrag zu einer konkret nachweisbaren Haupttat wegen Beihilfe zum Mord verurteilt". Der Fall unterscheide sich in ihren Augen vom Fall Oskar Gröning besonders dadurch, dass F. als Zivilangestellte nicht in die Befehlshierarchie der SS eingebunden gewesen sei, erläutert Brüning gegenüber beck-aktuell. "Es ging somit nicht um die Tätigkeiten eines SS-Soldaten an der Selektionsrampe oder dessen allgemeine Dienstausübung im Konzentrationslager, sondern um eine reine Schreibtischtätigkeit." Der BGH habe nun klargestellt, dass auch diese eine strafbare Beihilfe begründen könne. Der Gedanke des Senats, dass die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der Lagerkommandantur auch eine psychische Beihilfe darstellen könne, "knüpft an Fritz Bauers Auffassung an, dass bereits die bloße Anwesenheit im Konzentrationslager als psychische Beihilfe gilt", so Brüning.
Die Strafrechtlerin teilt auch die Auffassung des BGH, dass eine die Tötungsmaschinerie organisierende Schreibtischtätigkeit keinen Alltagscharakter besitze, "insbesondere, wenn der Beteiligte weiß, dass Menschen getötet werden."