BGH verhandelt über KZ-Sekretärin: Im Vorzimmer zur Vorhölle
Deutsche Schulklasse vor dem Tor der KZ-Gedenkstätte Museum Stutthof, hier kamen die Häftlinge an.© picture alliance / Caro | Bastian

Der BGH verhandelt über das Urteil gegen eine 99-Jährige, die Stenotypistin des Kommandanten im Konzentrationslager Stutthof war. Er könnte die Rechtsprechung zur Tötungsmaschinerie der Nazis fortentwickeln. Bisher ging es stets um Befehlsempfänger in Vernichtungslagern, die speziell der Tötung dienten.

Der Prozess gegen Irmgard F. wird schon seit Jahren in Medien gern als "der vielleicht letzte NS-Prozess in Deutschland" bezeichnet. Und er geht weiter. Irmgard F. ist mittlerweile 99 Jahre alt und am morgigen Mittwoch wird der 5. Strafsenat des BGH über das Urteil wegen Beihilfe zum Mord gegen die ehemalige Sekretärin im Konzentrationslager Stutthof verhandeln.

Nur in etwa 5% der Fälle entscheidet der BGH in strafrechtlichen Revisionen aufgrund einer Hauptverhandlung. Doch es ist nicht nur Irmgard F., die Revision gegen das Urteil des LG Itzehoe eingelegt hat, das sie wegen Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen und zum versuchten Mord in fünf Fällen verurteilte, weil sie von Juni 1943 bis April 1945 in der Kommandantur des Konzentrationslagers Stutthof bei Danzig tätig war. Als Stenotypistin, als Schreibkraft also, habe sie Beihilfe zur systematischen Tötung der Gefangenen geleistet (LG Itzehoe, Urteil vom 20.12. 2022 – 3 KLs 315 Js 15865/16 jug).

Der Generalbundesanwalt hat beantragt, einen Termin zur Revisionshauptverhandlung zu bestimmen, weil das Rechtsmittel der Seniorin grundsätzliche Fragen aufwerfe: zur Strafbarkeit einer Beihilfe zum Mord durch den Dienst in einem Konzentrationslager, das nicht zugleich ein reines "Vernichtungslager" gewesen sei. Über diese Konstellation habe der BGH noch nicht entschieden.

Offenbar will der 5. Strafsenat in Leipzig das jetzt tun, die Hauptverhandlung ist anberaumt, nach Angaben der Verteidiger Dr. Wolf Molkentin und Niklas Weber aus der Kanzlei Gubitz und Partner hat der Senat allen Beteiligten einen Fragenkatalog übersandt, an dem sich das Rechtsgespräch am Mittwoch orientieren soll.

"Ich bereue, zu der Zeit dort gewesen zu sein"

Irmgard F. selbst wird nach Angaben ihrer Verteidiger nicht an der Verhandlung teilnehmen. Wer ihren Prozess verfolgt hat, wird davon wenig überrascht sein. Zu überregionaler Berühmtheit brachte die Seniorin es spätestens, als sie im September 2021 während des Prozesses vor dem LG Itzehoe aus ihrem Seniorenheim in Quickborn geflohen und in Hamburg von der Polizei aufgegriffen worden war. Zuvor hatte sie der Kammer mitgeteilt, nicht vor Gericht erscheinen zu wollen, danach ordnete das LG Untersuchungshaft an und F. musste wochenlang ein elektronisches Armband tragen.

Vor dem BGH, wo im Rahmen der Revision nur ein Rechtsgespräch stattfindet, muss die Angeklagte nicht persönlich erscheinen (§ 350 Abs. 2 S. 1 StPO). Gesagt hat Imrgard F. auch vor dem LG Itzehoe nicht viel, sie hat stets von ihrem Schweigerecht Gebrauch gemacht. Erst am 40. Verhandlungstag sagte sie, es tue ihr leid, was alles geschehen sei. "Ich bereue, dass ich zu der Zeit gerade in Stutthof war. Mehr kann ich nicht sagen."

Das LG hat F., die damals 18 und 19 Jahre alt war, als Heranwachsende nach Jugendstrafrecht verurteilt und die Haftstrafe von zwei Jahren zur Bewährung ausgesetzt. Indem sie Schreibarbeiten für sie erledigte, habe sie die Haupttäter, die Männer in der Lagerkommandantur, willentlich dabei unterstützt, Gefangene grausam zu töten oder das versucht zu haben.

Im Vorzimmer des Lagerkommandanten

Die Häftlinge wurden vergast, litten unter den lebensfeindlichen Bedingungen im Lager Stutthof, sie wurden von dort aus in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau verbracht und auf sogenannte Todesmärsche verschickt. Mindestens 1.000 Menschen seien mit dem Giftgas Zyklon B getötet worden, 9.500 weitere infolge der bewusst herbeigeführten lebensfeindlichen Bedingungen gestorben. Für diese Organisation des Lagers und die grausamen, systematischen Tötungshandlungen seien die Sekretariatstätigkeiten von Irmgard F., die im Vorzimmer des Lagerkommandanten saß, notwendig gewesen, begründete das LG Itzehoe sein Urteil damals.

Der Vorsitzende Richter Dominik Groß sagte bei der Urteilsverkündung, "die Angeklagte hätte jederzeit ihre Anstellung kündigen können." F. sei an der entscheidenden Schnittstelle des Lagers tätig gewesen und habe ein besonderes Vertrauensverhältnis zu dessen Kommandant Paul Werner Hoppe gehabt. Sämtliche Befehle seien dort, in seinem Zimmer und im Vorzimmer, erstellt worden.

Von ihrem Dienstzimmer aus habe Irmgard F. den Sammelplatz sehen können, wo ankommende elende Gefangene oft tagelang warten mussten. Das Krematorium sei, so Groß, im Herbst 1944 ununterbrochen in Betrieb gewesen, Rauch und Gestank hätten sich über das Lager verbreitet. Es sei "schlicht außerhalb jeder Vorstellungskraft", dass die Sekretärin von den Massentötungen nichts bemerkt habe, zeigte die Kammer sich überzeugt.

Ein rechtliches Novum?

Irmgard F. und ihre Verteidiger waren mit dem Urteil aus mehreren Gründen nicht einverstanden. Obwohl die Anwälte während der Hauptverhandlung mit dem Auftreten des Sachverständigen, mit einer Inaugenscheinnahme des Lagers außerhalb der Hauptverhandlung und offenbar auch damit haderten, dass sich Vorwürfe gegen ihre Mandantin nicht erhärtet hätten, haben sie die Revision für ihre Mandantin auf die ausgeführte Sachrüge beschränkt, das Urteil aus Itzehoe also materiell-rechtlich angegriffen.  

Ein Verfahren wegen Beihilfe zum Mord gegen eine Schreibkraft, die nicht in eine irgendwie geartete "Befehlskette" eingebunden gewesen sei, halten sie für ein rechtliches Novum, erklärten die Verteidiger in einem Statement nach der Hauptverhandlung. Vor allem die Anforderungen auf der inneren Tatseite, also an den Vorsatz, sehen die Anwälte als klärungsbedürftig an. Sie beziehen sich damit wohl auf die bisherige Rechtsprechung des BGH zur Beteiligung an der "industriellen Tötungsmaschinerie" in Konzentrationslagern.

Die Gehilfen der Tötungsmaschinerie

Die deutsche Justiz hat die nationalsozialistischen Verbrechen erst spät aufgearbeitet. Jahrzehntelang stufte die Rechtsprechung nur das oberste Führungspersonal als Täter der Massenmorde ein. Erst mit den sogenannten Mauerschützenfällen wurden auch einfache Grenzsoldaten, die an der innerdeutschen Grenze Menschen durch Schüsse an der Flucht hindern wollten, nicht mehr nur zu Gehilfen, sondern zu Tätern erklärt.

Auch der Kreis der strafrechtlich Verantwortlichen in der Tötungsmaschinerie der Nazis wurde später auf diejenigen erweitert, die die Befehle nicht gaben, sondern ausführten. Im Jahr 2011 verurteilte das LG München II den ehemaligen Wachmann im Vernichtungslager Sobibor, John Demjanjuk wegen Beihilfe zum Mord (Urteil vom 12.05.2011 – 1 Ks 115 Js 12496/08). Im Jahr 2016 bestätigte der BGH die Verurteilung von Oskar Gröning, der bewaffnet und in Uniform an der Rampe stand, an der die Häftlinge im KZ Auschwitz ankamen, wegen Beihilfe zum Massenmord (BGH, Beschluss vom 20.9.2016 – 3 StR 49/16). Beide hatten niemanden selbst aktiv getötet. Etwas heruntergebrochen genügte es, dass sie Teil der Tötungsmaschinerie waren. 

Vom Unterschied zwischen KZ und Vernichtungslager

Ob der BGH die Tätigkeit einer Sekretärin anders bewerten wird als die eines Wachmannes oder die an einer Rampe, darf man womöglich bezweifeln. Richtig ist aber, dass er bei Personen auf unterer Hierarchieebene, die nicht selbst unmittelbar an den Tötungen beteiligt waren, für eine Strafbarkeit wegen Beihilfe zu den zahllosen Morden bisher verlangte, dass ihre Handlungen die Tathandlung von Tätern und Täterinnen unterstützen müssen.

Fest steht aber vor allem, dass die bisher verurteilten Befehlsempfänger sämtlich in Vernichtungslagern wie Treblinka, Belzec, Sobibor oder Auschwitz tätig waren. Das LG München II stützte darauf in Sachen Demjanjuk zentral seine Argumentation: Die Vernichtungslager hätten dem einzigen Zweck der massenhaften Ermordung der jüdischen Bevölkerung Europas gedient, heißt es dort. Und schon deshalb habe die Tätigkeit aller Wachleute im Lager den Hauptzweck dieses Vernichtungslagers gefördert.

Das Konzentrationslager in Stutthof bei Danzig hingegen hat das LG Itzehoe zunächst als Konzentrationslager und erst ab dem Sommer 1944 als "faktisches" Vernichtungslager eingeordnet. Das entspricht der Bewertung u.a. der Zentralen Stelle Ludwigsburg, die Stutthof wegen organisierter Massentötungen von Juden ab Juli 1944 als Vernichtungslager bewertet. Der Unterschied: Konzentrationslager dienten primär als Haft- und Zwangsarbeitslager, auch wenn auch dort – zahlenmäßig weniger – Menschen ermordet wurden. Vernichtungslager hingegen waren meist reine Todesfabriken, sie dienten ausschließlich dazu, ihre Insassen zu vernichten.

Vielleicht wird nun der BGH darüber entscheiden, welche Maßstäbe für die Strafbarkeit derjenigen gelten, die Befehle ausführten in den Lagern, die nur die Vorstufe zur Hölle waren. Eine Entscheidung über die Revision von Irmgard F. will der 5. Strafsenat entweder am 6. oder am 20. August 2024 verkünden.

Pia Lorenz, Redaktion beck-aktuell, 30. Juli 2024 (ergänzt durch Material der dpa).