AfD-Ausschussvorsitze: Wohl bedachte Karlsruher Zurückhaltung
© picture alliance/dpa | Uwe Anspach

Das BVerfG hat die Abwahl bzw. Nichtwahl von AfD-Ausschussvorsitzenden im Bundestag gebilligt. Die Logik der Entscheidung passt in die bisherige Karlsruher Linie und könnte gleichzeitig das Ende eines deutschen Sonderwegs einläuten, analysiert Maximilian Stützel.

Oppositionsfraktionen – in diesem Fall die AfD – haben kein Recht auf die Besetzung von Ausschussvorsitzen im Deutschen Bundestag. Dies hat am Mittwoch das BVerfG entschieden (Urteil vom 18.09.2024 - 2 BvE 1/20; 2 BvE 10/21).

Der Zweite Senat hat damit der Versuchung widerstanden, dem Bundestag die Regeln für die Besetzung von Ausschussvorsitzen vorzugeben. Stattdessen hat er das Selbstorganisationsrecht des Bundestags respektiert und sich im Hinblick auf die Anwendung von dessen Geschäftsordnung auf eine bloße Willkürkontrolle beschränkt.

Traditionelle Besetzung der Ausschussvorsitze 

Anlass für das heutige Urteil des BVerfG waren zwei Organstreitverfahren der AfD-Fraktion. Es ging dabei um die Abwahl des damaligen Vorsitzenden des Rechtsausschusses Stephan Brandner im Jahr 2019 sowie darum, dass in der aktuellen Legislaturperiode gleich drei AfD-Kandidatinnen und -Kandidaten bei der Wahl für einen Ausschussvorsitz durchfielen. Beide Verfahren betrafen damit im Kern die Frage, wer das letzte Wort bei der Besetzung von Ausschussvorsitzen hat – die für die Besetzung zuständige Fraktion oder die Ausschussmitglieder im Rahmen einer freien Wahl.

Die juristische Erwartung, dass ein Blick in das Gesetz die Rechtsfindung erleichtert, wird bei dieser Frage enttäuscht. Das Grundgesetz regelt nicht ausdrücklich, wie ein Ausschussvorsitz zu besetzen ist. Auch die Regelungen in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (GO-BT) sind alles andere als eindeutig. Der Geschäftsordnung lässt sich lediglich entnehmen, dass die Besetzung der Ausschussvorsitze im Verhältnis der Fraktionsstärke zu erfolgen hat (§ 12 GO-BT) und dass Ausschüsse ihre Vorsitzenden nach den Vereinbarungen im Ältestenrat "bestimmen" (§ 58 GO-BT). 

In der parlamentarischen Praxis haben sich die Fraktionen bis zur letzten Wahlperiode stets bemüht, die Vorsitze einvernehmlich und entsprechend der jeweiligen parlamentarischen Stärke auf die Fraktionen zu verteilen. Die vorschlagsberechtigte Fraktion benannte eine Person für den Ausschussvorsitz, die durch Akklamation bestätigt wurde. Eine förmliche Wahl wurde nur im seltenen Fall eines Widerspruchs gegen den Vorschlag durchgeführt.

Wahl und Abwahl des Abgeordneten Brandner

Als die AfD in der vergangenen Wahlperiode den Abgeordneten Brandner für den Vorsitz im ihr zugewiesenen Rechtsausschuss vorschlug, kam es im Ausschuss zum Widerspruch. Daraufhin führte der Rechtsausschuss eine Wahl durch, die trotz zahlreicher Gegenstimmen und Enthaltungen zu Gunsten des ehemaligen Rechtsanwalts Brandner aus-fiel.

Nachdem Brandner im Oktober 2019 jedoch mit verschiedenen Äußerungen – u. a. nach dem Terroranschlag in Halle und gegen die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an den Künstler Udo Lindenberg – für öffentliche Empörung gesorgt hatte, wurde er im November 2019 auf Antrag aller anderen Fraktionen mit 37 zu 6 Stimmen abgewählt. Dabei stellten die anderen Fraktionen allerdings klar, dass der Ausschussvorsitz aus ihrer Sicht nach wie vor der AfD zustand, und forderten diese auf, einen dem Amt angemessenen Kandidaten bzw. eine Kandidatin zu benennen. Die AfD-Fraktion weigerte sich jedoch, jemand anderen zu benennen und ging stattdessen mit einem erfolglosen Eilantrag gegen die Abwahl vor.

Kein Ausschussvorsitz für die AfD-Fraktion in der aktuellen Wahlperiode

In der aktuellen Wahlperiode spitzte sich der Streit um die Verteilung der Ausschussvorsitze weiter zu. Mangels einer Einigung im Ältestenrat wurden die Ausschussvorsitze nach dem Zugriffsverfahren verteilt. Das bedeutet, dass die Fraktionen reihum auf einen Ausschussvorsitz zugreifen konnten, beginnend mit der stärksten Fraktion. Die AfD-Fraktion benannte daraufhin Abgeordnete für den Vorsitz im Innen-, Gesundheits- und Entwicklungsausschuss.

Entsprechend dem Antrag der Regierungsfraktionen wurde in den drei Ausschüssen eine geheime Wahl über die Person des Ausschussvorsitzenden durchgeführt. Von den drei von der AfD-Fraktion benannten Abgeordneten wurde jedoch niemand gewählt. Die drei Ausschüsse werden seither von den stellvertretenden Vorsitzenden geleitet, die jeweils einer der drei Regierungsfraktionen angehören.

Recht auf Gleichbehandlung der Fraktionen als Ausgangspunkt

Wenngleich die beiden Fälle aus unterschiedlichen Wahlperioden stammen, werfen sie verfassungsrechtlich ähnliche Fragen auf und wurden daher vom BVerfG in einem einzigen Urteil entschieden.

Da das Gericht nicht über reines Geschäftsordnungsrecht entscheidet, stellte sich zunächst einmal die Frage, welche grundgesetzlichen Rechte durch die Verteilung der Ausschussvorsitze überhaupt berührt werden. Der naheliegendste Ansatzpunkt war dabei das Recht der Fraktionen auf gleiche Teilhabe, das sich aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ergibt.

Insoweit hat das BVerfG nun klargestellt, dass es kein Recht der Fraktionen zur Entscheidung über die Besetzung von Ausschussvorsitzen gibt. Vielmehr haben sie nur einen verfassungsrechtlichen Anspruch darauf, dass die vom Bundestag selbst gesetzte Geschäftsordnung nicht evident sachwidrig und willkürlich angewendet wird. 

Kein unmittelbares Recht auf Besetzung von Ausschussvorsitzen

Dass der Senat ein verfassungsunmittelbares Recht der Fraktionen auf die Besetzung von Ausschussvorsitzen abgelehnt hat, kommt nicht überraschend. Zwar gilt bei der Besetzung von Ausschüssen der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit. Danach muss der Ausschuss ein verkleinertes Abbild des Bundestagsplenums darstellen, jede Fraktion also entsprechend ihrer parlamentarischen Stärke vertreten sein.

Die zentrale Überlegung hinter diesem Grundsatz ist jedoch die Erkenntnis, dass wesentliche Teile der parlamentarischen Arbeit in den Ausschüssen stattfinden. Schon nach der früheren Rechtsprechung galt der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit daher nur für Gremien und Funktionen, die Einfluss auf die parlamentarische Willensbildung haben, nicht aber für rein organisatorische Funktionen. Eine eben solche ist auch der Ausschussvorsitz, wie das BVerfG sogar schon mehrfach entschieden hat (BVerfGE 140, 115 [151 f.]; 84, 304 [328]). Insofern ist es nur konsequent, wenn das heutige Urteil betont, dass der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit nicht auf Vorsitze in Bundestagsausschüssen anwendbar ist.

Neu an der heutigen Entscheidung ist jedoch, dass das BVerfG den bislang unscharfen Grundsatz der fairen und loyalen Auslegung und Anwendung der Geschäftsordnung mit Leben gefüllt hat. Das Urteil betont zwar ausdrücklich die Geschäftsordnungsautonomie des Bundestages und damit das Selbstorganisationsrecht des Parlaments. Zugleich stellt das Gericht jedoch klar, dass der Bundestag seine eigene Geschäftsordnung ernst nehmen muss. Wegen des Rechts der Abgeordneten und Fraktionen auf formale Gleichheit muss er die dort vorgesehenen Rechte gleichmäßig und sachgemäß anwenden.

Bloße Willkürkontrolle bei Auslegung und Anwendung der Geschäftsordnung

Da die Verteilung der Ausschussvorsitze nur in der Geschäftsordnung geregelt ist, war die zentrale Weichenstellung im vorliegenden Fall, wie streng das BVerfG die Auslegung und Anwendung der Geschäftsordnung überprüfen würde. Dass das Gericht die Geschäftsordnung des Bundestages nicht selbst auslegt, sondern nur bei einer evident sachwidrigen und damit willkürlichen Anwendung und Auslegung einschreitet, ist zu begrüßen. Diese Zurückhaltung vermeidet nicht nur eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Verfassungsorgans, sondern trägt auch dem Umstand Rechnung, dass das BVerfG nur für die Auslegung und Anwendung von Verfassungsrecht zuständig ist.

In den beiden konkret zu entscheidenden Fällen konnte der Senat keinen Verstoß gegen das Willkürverbot erkennen. Soweit die Ausschüsse für sich in Anspruch nahmen, selbst das letzte Wort bei der Besetzung ihres Vorsitzes zu haben, war das aus Sicht der Karlsruher Richterinnen und Richter nicht zu beanstanden. In Anlehnung an seine Entscheidung zur Besetzung des Bundestagspräsidiums stellte das BVerfG zudem klar, dass es mit dem Mittel der freien Wahl unvereinbar wäre, wenn die AfD-Fraktion ein Recht auf ein bestimmtes Wahlergebnis hätte. Die Geschäftsordnung kann von den Ausschüssen dahingehend ausgelegt werden, dass sie den Fraktionen nur ein Vorschlagsrecht und einen Anspruch auf ordnungsgemäße Durchführung der Wahl verleiht.

Dieses Ergebnis überzeugt. Auch bei der vor Einzug der AfD in den Bundestag vorherrschenden Akklamationslösung musste der Vorschlag der Fraktionen letztendlich durch die Ausschussmitglieder bestätigt werden. Diese langjährige und von der AfD unabhängige Parlamentspraxis als willkürliche Anwendung der Geschäftsordnung zu bewerten, wäre schwer nachvollziehbar gewesen.

BVerfG-Argumentation überzeugt auch bei Abwahl

Auch bei der Abwahl des AfD-Abgeordneten Brandner ist überzeugend, dass das BVerfG keinen Verstoß gegen das Willkürverbot sah. Wenig überraschend ist insbesondere die Bestätigung, dass ein durch freie Wahl bestimmter Ausschussvorsitzender auch durch eine solche freie Wahl wieder abgesetzt werden kann. Schon im Eilverfahren hatte das Gericht diesem von den Antragsgegnern vorgebrachten Actus-contrarius-Gedanken eine "gewisse Plausibilität" bescheinigt.

Dünner als erwartet sind jedoch die Vorgaben für eine solche Abwahl ausgefallen, was auf den eingeschränkten Prüfungsmaßstab zurückzuführen ist. So scheint das Gericht lediglich zu verlangen, dass die betroffene Fraktion wegen des Rechts auf ein faires Verfahren eine Gelegenheit zur Stellungnahme hat. In inhaltlicher Hinsicht darf die Abwahl zudem nicht willkürlich, also nicht ohne sachlichen Grund erfolgen. Der im Fall des Abgeordneten Brandner eingetretene Vertrauensverlust dürfte jedoch geradezu ein Paradebeispiel für einen sachlichen Grund sein und wurde vom BVerfG daher nicht beanstandet.

Ende der deutschen Besonderheit?

Das in der Sache zu begrüßende Urteil könnte das Ende einer deutschen Besonderheit einläuten. Anders als in vielen anderen Demokratien hat die parlamentarische Praxis in Deutschland dazu geführt, dass auch Oppositionspolitikerinnen und -politiker die eigentlich oppositionsfremde Leitungsfunktion von Ausschussvorsitzenden ausgeübt haben. Das können die im Ausschuss mehrheitlich vertretenen Regierungsfraktionen zukünftig verhindern.

Dr. Maximilian Stützel ist bei OPPENLÄNDER Rechtsanwälte in Stuttgart tätig, auch im Praxisbereich Verfassungsrecht.

Redaktion beck-aktuell, Gastkommentar von Dr. Maximilian Stützel, 18. September 2024.