AfD scheitert vor BVerfG mit Beschwerden gegen Wahl des Bundestags-Vizepräsidenten
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© Uli Deck / dpa

Seit Jahren bemüht sich die AfD darum, wie alle anderen Fraktionen im Präsidium des Bundestags zu sitzen - auch mit zwei Klagen in Karlsruhe. Die erste wurde am Vormittag bei einer Urteilsverkündung abgewiesen. Dann kam die zweite Entscheidung überraschend als Beschluss per Pressemitteilung hinterher. Damit sind sowohl ein einzelner AfD-Abgeordneter als auch die AfD-Fraktion im Bundestag mit ihren Anliegen gescheitert.

BVerfG weist Organklagen zurück

Die AfD-Fraktion ist mit dem Versuch gescheitert, einen Posten für sich im Bundestagspräsidium mit einer Organklage in Karlsruhe zu erstreiten. Das Bundesverfassungsgericht wies den Antrag als offensichtlich unbegründet zurück, wie die Richterinnen und Richter am Dienstag unangekündigt mitteilten. Eine verfassungsrechtliche Verpflichtung des Bundestags, die Wahl so auszugestalten, dass das Ergebnis zugunsten der AfD ausfalle, bestehe nicht, hieß es zur Begründung. Unmittelbar zuvor hatte der Zweite Senat unter Vizepräsidentin Doris König im zweiten anhängigen Verfahren zu dem Komplex sein Urteil verkündet. Hier ging es um die Klage eines einzelnen AfD-Abgeordneten, die ebenfalls erfolglos blieb. Die zentrale zweite Entscheidung über den Antrag der Fraktion erging ebenfalls am Dienstag, aber als schriftlicher Beschluss. Deshalb wurde sie nicht verlesen, sondern per Pressemitteilung veröffentlicht.

AfD ohne Stellvertreter im Präsidium

Seit ihrem Einzug in den Bundestag 2017 hatte die AfD als einzige Fraktion noch nie einen Stellvertreter-Posten im Präsidium inne. Die anderen Parteien hatten sämtliche Kandidatinnen und Kandidaten durchfallen lassen, indem sie ihnen die erforderliche Mehrheit verweigerten. Denn viele Abgeordnete wollen die Rechtspopulisten prinzipiell nicht im Leitungsgremium des Bundestags vertreten sehen. Auch nach der Bundestagswahl im September vergangenen Jahres blieb die AfD bei den Wahlen zum neuen Präsidium außen vor. Ihr Bewerber Michael Kaufmann hatte die erforderliche Stimmenzahl in zwei Wahlgängen im Oktober und Dezember weit verfehlt. Die Fraktionsspitze kritisierte das als "fatales Signal für die demokratische Kultur in unserem Land", der AfD werde ihr Platz "systematisch vorenthalten".

Wahl erfolgt nach Geschäftsordnung des Bundestages

Die Geschäftsordnung des Bundestags sieht vor, dass jede Fraktion mindestens einen Vizepräsidenten oder eine Vizepräsidentin stellt. Gleichzeitig steht dort der Satz: "Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages erhält." Der Bundestagspräsident oder die -präsidentin repräsentiert den Bundestag nach außen und bekleidet protokollarisch das zweithöchste Amt im Staat, kommt also noch vor der Kanzlerin oder dem Kanzler. Im Wechsel mit den Stellvertretern leitet er oder sie die Sitzungen und wacht über die Einhaltung der parlamentarischen Ordnung.

BVerfG: Antrag des Abgeordneten nicht begründet

Der Antragsteller aus der AfD macht geltend, dass er durch die Zurückweisung seines Wahlvorschlags in seinem Recht als Abgeordneter auf gleiche Mitwirkung an der parlamentarischen Willensbildung gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt sei. Das BVerfG hält den Antrag für unbegründet. Prüfungsmaßstab des BVerfG im Organstreit sei allein das Grundgesetz, nicht hingegen die lediglich in der Geschäftsordnung des Bundestags nach Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG getroffenen Regelungen. Der Schutzbereich des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG umfasse grundsätzlich auch das Recht des einzelnen Abgeordneten, sich an der Wahl der Stellvertreter des Bundestagspräsidenten durch eigene Wahlvorschläge zu beteiligen. Die Einschränkung dieses Rechts durch die Nichtzulassung des Wahlvorschlags des Antragstellers sei jedoch verfassungsrechtlich hinreichend legitimiert. Sie beruhe auf § 2 Abs. 1 Satz 2 GO-BT, der bestimmt, dass jede Fraktion durch mindestens einen Vizepräsidenten oder eine Vizepräsidentin im Präsidium vertreten ist. Die Regelung des Wahlvorschlagsrechts für die Besetzung des Präsidiums des Bundestags unterfalle der Geschäftsordnungsautonomie des Parlaments.

Vorgenommene Auslegung der Geschäftsordnung nicht zu beanstanden

Eine ausdrückliche Regelung des Wahlvorschlagsrechts enthielten die Bestimmungen der Geschäftsordnung zwar nicht. Gleichwohl habe der Antragsgegner den Wahlvorschlag des Antragstellers unter Verweis auf § 2 Abs. 1 Satz 2 GO-BT zurückgewiesen. Er habe dabei die Auffassung vertreten, dass die Norm eine Beschränkung des Wahlvorschlagsrechts auf die Fraktionen beinhalte. Verfassungsrechtlich sei hiergegen nichts zu erinnern. Der mit dieser Auslegung von § 2 Abs. 1 Satz 2 GO-BT verbundene Eingriff in das freie Mandat des Abgeordneten sei verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Er sei zur Erreichung des Erhalts und der Effektivierung der Funktionsfähigkeit des Parlaments geeignet, erforderlich und angemessen. Dass die Beschränkung des Vorschlagsrechts auf die im Parlament vertretenen Fraktionen einen Beitrag dazu leisten kann, interfraktionelle Verständigungs- und Kompromisspotentiale zu erschließen und dadurch die Arbeitsfähigkeit des Parlaments zu verbessern, liegt laut BVerfG auf der Hand. Selbst ein Wahlvorschlagsrecht des einzelnen Abgeordneten, das auf die Mitglieder der zu vertretenden Fraktion beschränkt würde, könnte nicht in gleicher Weise wie im Falle des Vorschlagsrechts der Fraktion selbst deren Einbindung auf der Leitungsebene des Parlaments und die Nutzung damit verbundener interfraktioneller Abstimmungs- und Kompromissmöglichkeiten gewährleisten. Es wäre in diesem Fall nicht auszuschließen, dass von dem einzelnen Abgeordneten ein Vorschlag gemacht und sodann eine Person zum Bundestagsvizepräsidenten oder zur Bundestagsvizepräsidentin gewählt würde, die das Vertrauen der zu vertretenden Fraktion nicht oder nicht in vollem Umfang genießt.

Antrag der Fraktion offensichtlich unbegründet

In dem per Pressemitteilung verteilten Beschluss hat das BVerfG sodann entschieden, dass der Antrag der AfD-Fraktion offensichtlich unbegründet ist. Die Antragstellerin sei durch die Nichtwahl ihrer Fraktionsmitglieder als Stellvertreter oder Stellvertreterinnen des Bundestagspräsidenten offensichtlich nicht in ihrem Recht auf formal gleiche Mitwirkung an der parlamentarischen Willensbildung aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt. Die Reichweite dieses Mitwirkungsrechts werde durch die in Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG angeordnete Wahl des Bundestagspräsidenten und seiner Stellvertreter begrenzt. Das Recht zur gleichberechtigten Berücksichtigung einer Fraktion bei der Besetzung des Präsidiums stehe insoweit unter dem Vorbehalt der Wahl durch die Abgeordneten und könne daher nur verwirklicht werden, wenn die von dieser Fraktion vorgeschlagenen Kandidaten und Kandidatinnen die erforderliche Mehrheit erreichen. Das Grundgesetz sehe hier ausdrücklich eine Wahl und gerade kein von einer Wahl losgelöstes Besetzungsrecht der Fraktionen vor. Weitere ausdrückliche verfassungsrechtliche Vorgaben für diese Wahl bestünden nicht. 

Kein Recht auf "prozedurale Vorkehrungen"

Die Ausgestaltung des Wahlverfahrens stelle sich daher als eine innere Angelegenheit des Parlaments dar, die dieses im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung autonom regeln könne. Dabei sei die Wahl nach Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG frei. Der mit einer Wahl einhergehende legitimatorische Mehrwert könnte nicht erreicht werden, wenn es eine Pflicht zur Wahl eines bestimmten Kandidaten oder einer bestimmten Kandidatin gäbe. Ein Recht der Fraktionen aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG auf Steuerung und Einengung der Wahl nach Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG durch (von der Antragstellerin nicht weiter konkretisierte) "prozedurale Vorkehrungen" scheide daher aus. Dies gelte erst recht für verfahrensmäßige Vorgaben, die geeignet wären, die freie Wahl in ein faktisches Besetzungsrecht der Fraktionen umschlagen zu lassen. Der Anspruch einer Fraktion auf Mitwirkung und Gleichbehandlung mit den anderen Fraktionen bei der Besetzung des Präsidiums stehe unter dem Vorbehalt der Wahl. Er sei darauf beschränkt, dass eine Fraktion einen Kandidaten für die Wahl vorschlagen kann und die freie Wahl ordnungsgemäß durchgeführt wird. Mit diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben steht das Geschäftsordnungsrecht des Deutschen Bundestages, das dem Grundgesetz im Rang nachgeht, in Einklang.

Weitere Grundrechte ebenfalls nicht verletzt

Ebenso scheidet die Verletzung eines Rechts auf effektive Opposition offensichtlich aus. Das Grundgesetz enthalte zwar einen durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts konkretisierten allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsatz effektiver Opposition. Der verfassungsrechtliche Schutz der Minderheit gehe jedoch nicht dahin, diese vor Sachentscheidungen der Mehrheit und den Ergebnissen freier Wahlen zu bewahren.  Auch über den Grundsatz der Organtreue lasse sich keine Rechtsposition begründen, auf die sich die Antragstellerin im vorliegenden Verfahren berufen könnte. Der Umgang der Abgeordneten miteinander richte sich nach den Vorschriften der Geschäftsordnung in Ansehung des Grundsatzes deren fairer und loyaler Anwendung. Es bestünden keine Hinweise auf eine gleichheitswidrige Handhabung des Vorschlagsrechts der Antragstellerin oder auf eine unfaire oder illoyale Durchführung der Wahlvorgänge und damit auch keine Anhaltspunkte für eine verfassungswidrige Auslegung und Anwendung des § 2 Abs. 1 und Abs. 2 GO-BT durch den Antragsgegner. Für eine weitergehende Anwendung des Grundsatzes der Organtreue ist daneben kein Raum.

AfD unzufrieden, Union zufrieden

Die AfD-Fraktion kritisierte das Urteil zur Fraktion als "nicht nachvollziehbar und unverständlich". "Das war heute alles andere als eine Sternstunde für die Demokratie und das Bundesverfassungsgericht. Ein schlechter Tag für Deutschland", teilte der Parlamentarische Geschäftsführer und Fraktionsjustiziar Stephan Brandner mit. Die Unionsfraktion begrüßte, dass die AfD "dem Bundestag ihre Kandidaten nicht aufzwingen" könne. "Einmal mehr wurde der Opfermythos der AfD in Karlsruhe widerlegt", sagte der Parlamentarische Geschäftsführer Thorsten Frei (CDU) der dpa.

BVerfG, Entscheidung vom 22.03.2022 - 2 BvE 2/20

Redaktion beck-aktuell, 22. März 2022 (ergänzt durch Material der dpa).