Arzt wegen Tot­schlags ver­ur­teilt: Wie frei war der letz­te Wille der de­pres­si­ven Pa­ti­en­tin?
Arzt Christoph Turowski (l.) und sein Anwalt Thomas Baumeyer / © Jörg Carstensen / dpa

Weil er einer de­pres­si­ven Stu­den­tin beim Sui­zid ge­hol­fen hatte, hat das LG Ber­lin I einen Arzt wegen Tot­schlags in mit­tel­ba­rer Tä­ter­schaft zu einer Haft­stra­fe ver­ur­teilt. Der Fall wirft auch ein Schlag­licht auf die bis heute ver­geb­li­chen Be­mü­hun­gen um ein Sui­zid­hil­fe­ge­setz.

Mehr als vier Jahre ist es in­zwi­schen her, dass das BVerfG in sei­ner auf­se­hen­er­re­gen­den Ent­schei­dung zur Straf­bar­keit ge­schäfts­mä­ßi­ger Sui­zi­d­as­sis­tenz fest­stell­te, dass das Grund­ge­setz ein "Recht auf selbst­be­stimm­tes Ster­ben" ga­ran­tiert, "wel­ches das Recht auf Selbst­tö­tung ein­schlie­ßt". Die­ses Recht, führ­te der Zwei­te Karls­ru­her Senat da­mals aus, er­stre­cke sich "auch auf die Frei­heit, hier­für bei Drit­ten Hilfe zu su­chen und sie, so­weit sie an­ge­bo­ten wird, in An­spruch zu neh­men".

Diese Sätze sind seit­her in die deut­sche Rechts­ord­nung ge­mei­ßelt und doch muss man ehr­lich sagen: So recht weiß nie­mand etwas damit an­zu­fan­gen. Klar ist, dass Straf­vor­schrif­ten, die Sui­zid­hil­fe per se kri­mi­na­li­sie­ren, nicht ver­fas­sungs­kon­form sind, da sie Ster­be­wil­li­gen fak­tisch die Mög­lich­keit neh­men, auf eine hu­ma­ne Art und Weise aus dem Leben zu schei­den. An­ders ge­sagt: Wer Men­schen, für die das Wei­ter­le­ben nur noch Qual be­deu­tet, nicht auf bru­ta­le Me­tho­den wie einen Schuss­waf­fen- oder Schie­nen­sui­zid ver­wei­sen will, muss ihnen auch reale Al­ter­na­ti­ven er­öff­nen.

So­lan­ge die Straf­vor­schrift des § 217 StGB, die das BVerfG mit den obi­gen Sät­zen für ver­fas­sungs­wid­rig und nich­tig er­klär­te, noch in Kraft war, durf­ten Ärz­tin­nen und Ärzte bis auf we­ni­ge Aus­nah­me­fäl­le keine Sui­zid­hil­fe leis­ten, auch ihr Be­rufs­recht un­ter­sag­te ihnen das. Seit dem Ur­teil aus Karls­ru­he hat sich zwar bei­des ge­än­dert, doch bis heute be­steht eine große recht­li­che Un­ge­wiss­heit beim Thema Sui­zi­d­as­sis­tenz und Ster­be­hil­fe. Die Ent­schei­dung des LG Ber­lin I, das am Mon­tag einen 74-jäh­ri­gen pen­sio­nier­ten Haus­arzt nach einer Sui­zi­d­as­sis­tenz wegen Tot­schlags in mit­tel­ba­rer Tä­ter­schaft zu drei Jah­ren Haft ver­ur­teil­te (Ur­teil vom 08.04.2024 - 540 Ks 2/23), dürf­te diese wei­ter be­för­dern.

"Frei und au­to­nom" ge­bil­de­ter Sui­zid­wunsch

Das Pro­blem des Falls, über das die Ber­li­ner Rich­te­rin­nen und Rich­ter zu ent­schei­den hat­ten, be­schäf­tig­te auch schon das BVerfG in sei­ner Ent­schei­dung von 2020. Nur ein paar Sätze nach den be­kannt ge­wor­de­nen Zi­ta­ten heißt es dort: "Der vom Grund­ge­setz ge­for­der­te Re­spekt vor der au­to­no­men Selbst­be­stim­mung des Ein­zel­nen (…) setzt eine frei ge­bil­de­te und au­to­no­me Ent­schei­dung vor­aus." Mit an­de­ren Wor­ten: Recht­li­chen Schutz in dem vom BVerfG de­fi­nier­ten Sinne ge­nie­ßt nur ein frei­ver­ant­wort­li­cher Sui­zid. Das be­deu­tet um­ge­kehrt, dass je­mand, der Hilfe zu einem un­frei­en Sui­zid leis­tet, sich unter Um­stän­den straf­bar macht. Es stellt sich also die nicht ganz klei­ne Frage: Wann ist die Ent­schei­dung eines Men­schen frei?

In dem Ber­li­ner Fall hatte der Me­di­zi­ner, der mit einer Ster­be­hil­fe­or­ga­ni­sa­ti­on zu­sam­men­ar­bei­tet, einer 37-jäh­ri­gen Stu­den­tin der Ve­te­ri­när­me­di­zin, die an De­pres­sio­nen litt, gleich zwei­mal Me­di­ka­men­te zum Sui­zid be­sorgt. Beim ers­ten Ver­such, am 24. Juni 2021, hatte er ihr Ta­blet­ten mit dem Wirk­stoff Chlo­ro­quin be­sorgt. Die Frau er­brach diese je­doch nach der Ein­nah­me und über­leb­te. Dar­auf­hin wurde sie zu­nächst in ein Kran­ken­haus ein­ge­lie­fert und an­schlie­ßend in einem ge­schlos­se­nen psych­ia­tri­schen Kran­ken­haus un­ter­ge­bracht. 

Sie gab ihren Ster­be­wunsch je­doch nicht auf und kon­tak­tier­te den Haus­arzt er­neut. Am 12. Juli 2021 – un­mit­tel­bar nach ihrer Ent­las­sung aus der Psych­ia­trie – tra­fen die bei­den sich in einem an­ge­mie­te­ten Ho­tel­zim­mer in Ber­lin-Lich­ter­fel­de. Dort legte der Me­di­zi­ner der Frau eine In­fu­si­on mit einer töd­li­chen Dosis des Me­di­ka­ments Thio­pen­tal In­re­sa. Die Frau setz­te die In­fu­si­on selbst in Gang – hätte der Arzt dies getan, hätte er sich wegen ak­ti­ver Ster­be­hil­fe straf­bar ge­macht –,  we­ni­ge Mi­nu­ten spä­ter starb sie. 

Diese Ge­scheh­nis­se be­stritt der Arzt vor dem LG Ber­lin nicht, denn so weit wäre sein Ver­hal­ten nicht straf­bar ge­we­sen. Durch ei­ge­ne Hand ge­tö­tet hatte der Me­di­zi­ner die Stu­den­tin nicht, so­dass ihm keine un­mit­tel­ba­re Tö­tung zu Last ge­legt wer­den konn­te. Die Bei­hil­fe zum Sui­zid steht eben­falls nicht (mehr) unter Stra­fe. Doch die Staats­an­walt­schaft warf ihm vor, die Frau habe kei­nes­wegs eine – in den Wor­ten des BVerfG – frei ge­bil­de­te und au­to­no­me Ent­schei­dung ge­trof­fen: Er habe eine Tö­tung in mit­tel­ba­rer Tä­ter­schaft be­gan­gen. 

LG Ber­lin I: Ein "am­bi­va­len­ter" Ster­be­wunsch

Was das be­deu­tet, er­gibt sich aus § 25 Abs. 1 Var. 2 StGB: "(…) wer die Straf­tat (…) durch einen an­de­ren be­geht". Das heißt zu Deutsch: Je­mand nutzt einen an­de­ren Men­schen – in die­sem Fall die Stu­den­tin, die ster­ben woll­te – als "Werk­zeug" zu sei­ner oder ihrer Tat. Die Per­son be­fin­det sich also in einer der­art do­mi­nan­ten und ein­fluss­rei­chen Po­si­ti­on, dass sie die an­de­re Per­son le­dig­lich be­nutzt.

Hier, so stell­te die 40. Große Straf­kam­mer des LG Ber­lin I fest, habe die "Ge­schä­dig­te", wie es im Jar­gon des Straf­ur­teils heißt, kei­nes­wegs einen ge­fes­tig­ten Ster­be­wil­len ge­habt, wie ihn das BVerfG ver­langt. Ihr Wunsch sei am­bi­va­lent ge­we­sen, sie habe stän­dig ge­schwankt zwi­schen dem Wunsch zu leben und dem Wunsch zu ster­ben. Noch am Mor­gen des Tat­ta­ges – dem Tag, an dem sie aus der ge­schlos­se­nen Un­ter­brin­gung ent­las­sen wurde – hatte sie nach An­sicht der Kam­mer bin­nen einer hal­ben Stun­de ihre Mei­nung ge­än­dert. So schrieb sie um 9.30 Uhr eine Nach­richt an den Arzt: "Es soll wohl wei­ter­ge­hen für mich", um 9.58 Uhr dann: "Am liebs­ten noch heute". Noch am sel­ben Tag traf die bei­den sich dann im an­ge­mie­te­ten Ho­tel­zim­mer.

Der Me­di­zi­ner hätte des­halb er­ken­nen müs­sen, dass ihr Ster­be­wunsch nicht die er­for­der­li­che Dau­er­haf­tig­keit und in­ne­ren Fes­tig­keit hatte, er­klär­te der Vor­sit­zen­de Rich­ter Mark Saut­ter in sei­ner Ur­teils­be­grün­dung. Dabei er­klär­te die Kam­mer auch, dass der Frau schon auf­grund ihrer De­pres­sio­nen eine freie Ent­schei­dung nicht mög­lich ge­we­sen sei. Dass die Frau sich zuvor nach An­ga­ben des ver­ur­teil­ten Arz­tes in fast allen Nach­rich­ten ihm ge­gen­über zum Sui­zid ent­schlos­sen ge­zeigt haben soll, än­der­te für die Kam­mer nichts. Auch bei 999 Ver­si­che­run­gen sei eine wi­der­spre­chen­de Äu­ße­rung im letz­ten Mo­ment viel­leicht ent­schei­dend, fand man.

Immer noch kein Ge­setz­ent­wurf zur Sui­zid­hil­fe

Heißt das nun, dass De­pres­si­ve unter kei­nen Um­stän­den frei ent­schei­den und damit ein Recht auf Sui­zid­hil­fe haben kön­nen? Oder dass der Ster­be­wunsch ohne Un­si­cher­hei­ten über einen län­ge­ren Zeit­raum be­stan­den haben muss? All das ist – trotz ei­ni­ger seit dem Karls­ru­her Ver­dikt be­reits er­gan­ge­ner Ein­zel­fall­ent­schei­dun­gen – bis­lang völ­lig un­klar. Seit 2020 wird dar­über de­bat­tiert, was die große Un­be­kann­te in der Rech­nung, die Frei­ver­ant­wort­lich­keit des Ster­be­wunschs, genau be­deu­tet.

Das BVerfG hat die frei­ver­ant­wort­li­che Wil­lens­bil­dung für den Sui­zid so um­schrie­ben: "Ein Sui­zi­dent­schluss geht auf einen au­to­nom ge­bil­de­ten, frei­en Wil­len zu­rück, wenn der Ein­zel­ne seine Ent­schei­dung auf der Grund­la­ge einer rea­li­täts­be­zo­ge­nen, am ei­ge­nen Selbst­bild aus­ge­rich­te­ten Ab­wä­gung des Für und Wider trifft." Eine freie Sui­zi­dent­schei­dung setze also "die Fä­hig­keit vor­aus, sei­nen Wil­len frei und un­be­ein­flusst von einer aku­ten psy­chi­schen Stö­rung bil­den und nach die­ser Ein­sicht han­deln zu kön­nen." Diese Sätze müs­sen nun in kon­kre­te An­for­de­run­gen über­setzt wer­den.

Doch ob Me­di­zi­ne­rin­nen, Psy­cho­lo­gen, Ethi­ke­rin­nen, auch Ju­ris­ten – sie alle kön­nen nur Ex­per­ti­se und Rat lie­fern, denn es gibt keine wis­sen­schaft­li­che For­mel, an­hand derer eine Ent­schei­dung für frei oder un­frei er­klärt wer­den könn­te. Letzt­lich han­delt es sich um eine Wert­ent­schei­dung: Wes­sen Wil­len bil­li­gen wir in un­se­rer Rechts­ord­nung Gel­tung zu? Ver­han­delt wer­den müs­sen sol­che ethi­schen Grund­fra­gen ei­gent­lich im dafür vor­ge­se­he­nen Ort, dem Par­la­ment. Doch die­ses konn­te sich seit der Nich­tig­erklä­rung von § 217 StGB auf kein Sui­zid­hil­fe­ge­setz ei­ni­gentrotz di­ver­ser Vor­schlä­ge. Das ist der Grund für Fälle wie den vor dem LG Ber­lin I: Ster­be­hel­fe­rin­nen und -hel­fer müs­sen an­hand ei­ge­ner Kri­te­ri­en ent­schei­den, wes­sen Wunsch sie für frei ge­fasst hal­ten – stets mit dem Ri­si­ko der Straf­bar­keit im Rü­cken.

Fal­sche Ver­si­che­rung als Straf­bar­keits­ri­si­ko

Im Fall des Ber­li­ner Me­di­zi­ners tat sich noch eine wei­te­re in­ter­es­san­te Frage auf: Wie ver­hält es sich mit Ster­be­wün­schen, denen fal­sche An­nah­men zu­grun­de lie­gen? Das LG geht nach ei­ge­nen An­ga­ben davon aus, dass der Arzt der ster­be­wil­li­gen Frau vor dem zwei­ten und letzt­lich töd­li­chen Sui­zid­ver­such ver­si­chert hat, er werde im Zwei­fel mit allen – auch un­er­laub­ten – Mit­teln nach­hel­fen, um si­cher­zu­stel­len, dass sie die­ses Mal auch tat­säch­lich ster­be. Das Ge­richt hielt dies für un­wahr, denn er habe gar nicht vor­ge­habt, seine An­kün­di­gung wahr­zu­ma­chen. Der Stu­den­tin habe er somit eine fal­sche Si­cher­heit vor­ge­macht, die für ihre Ent­schei­dung zum Sui­zid we­sent­lich ge­we­sen sei. Aus die­sem Grund sah die Kam­mer hier eine "be­son­de­re Fall­kon­stel­la­ti­on", die nicht bloß als straf­lo­se Bei­hil­fe zum Sui­zid, son­dern viel­mehr als Tot­schlag in mit­tel­ba­rer Tä­ter­schaft zu wer­ten sei.

Damit steht nun auch im Raum, dass ggf. gut ge­mein­te Ver­si­che­run­gen ("Es wird nicht weh tun", "Es pas­sie­ren keine Fehl­schlä­ge", viel­leicht auch: "Ihre Fa­mi­lie wird damit klar­kom­men") wohl über­legt sein müs­sen, könn­ten sie doch eine fal­sche Si­cher­heit we­cken, die Hel­fe­rin­nen und Hel­fer letzt­lich zu Tä­te­rin­nen und Tä­tern macht.

Nicht erst mit die­sem Fall soll­te auch die Po­li­tik er­ken­nen, dass die recht­li­che Leer­stel­le, die ge­gen­wär­tig exis­tiert, nie­man­dem hilft – weder Ster­be­wil­li­gen noch Hilfs­per­so­nen, An­ge­hö­ri­gen oder der Ge­sell­schaft als gan­zer. Für den nun ver­ur­teil­ten Arzt war es nicht die erste Haupt­ver­hand­lung vor dem LG Ber­lin wegen Sui­zid­hil­fe: 2018 war er im Fall einer Sui­zid­hil­fe für eine un­heil­bar kran­ke Frau frei­ge­spro­chen wor­den, der BGH hielt im Jahr 2019 die Ent­schei­dung. Gut mög­lich, dass auch der am Mon­tag in Ber­lin ent­schie­de­ne Fall den Weg nach Karls­ru­he fin­den wird: Be­reits zu Pro­zess­be­ginn hatte der Me­di­zi­ner an­ge­kün­digt, not­falls in Re­vi­si­on zu gehen.

Wir be­rich­ten neu­tral und mit der ge­bo­te­nen Zu­rück­hal­tung über Sui­zi­de, um kei­nen An­reiz für Nach­ah­mung zu geben. Wenn Sie selbst de­pres­siv sind oder wenn Sie Sui­zid-Ge­dan­ken pla­gen, kön­nen Sie rund um die Uhr und an­onym die Te­le­fon­Seel­sor­ge im In­ter­net (https://​www.​tel​efon​seel​sorg​e.​de) oder über die kos­ten­lo­sen Hot­lines 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222 oder 116 123 kon­tak­tie­ren.

LG Berlin, Urteil vom 08.04.2024 - 540 Ks 2/23

Redaktion beck-aktuell, Maximilian Amos, 8. April 2024 (ergänzt durch Material der dpa).

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