Mehr als vier Jahre ist es inzwischen her, dass das BVerfG in seiner aufsehenerregenden Entscheidung zur Strafbarkeit geschäftsmäßiger Suizidassistenz feststellte, dass das Grundgesetz ein "Recht auf selbstbestimmtes Sterben" garantiert, "welches das Recht auf Selbsttötung einschließt". Dieses Recht, führte der Zweite Karlsruher Senat damals aus, erstrecke sich "auch auf die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und sie, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen".
Diese Sätze sind seither in die deutsche Rechtsordnung gemeißelt und doch muss man ehrlich sagen: So recht weiß niemand etwas damit anzufangen. Klar ist, dass Strafvorschriften, die Suizidhilfe per se kriminalisieren, nicht verfassungskonform sind, da sie Sterbewilligen faktisch die Möglichkeit nehmen, auf eine humane Art und Weise aus dem Leben zu scheiden. Anders gesagt: Wer Menschen, für die das Weiterleben nur noch Qual bedeutet, nicht auf brutale Methoden wie einen Schusswaffen- oder Schienensuizid verweisen will, muss ihnen auch reale Alternativen eröffnen.
Solange die Strafvorschrift des § 217 StGB, die das BVerfG mit den obigen Sätzen für verfassungswidrig und nichtig erklärte, noch in Kraft war, durften Ärztinnen und Ärzte bis auf wenige Ausnahmefälle keine Suizidhilfe leisten, auch ihr Berufsrecht untersagte ihnen das. Seit dem Urteil aus Karlsruhe hat sich zwar beides geändert, doch bis heute besteht eine große rechtliche Ungewissheit beim Thema Suizidassistenz und Sterbehilfe. Die Entscheidung des LG Berlin I, das am Montag einen 74-jährigen pensionierten Hausarzt nach einer Suizidassistenz wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft zu drei Jahren Haft verurteilte (Urteil vom 08.04.2024 - 540 Ks 2/23), dürfte diese weiter befördern.
"Frei und autonom" gebildeter Suizidwunsch
Das Problem des Falls, über das die Berliner Richterinnen und Richter zu entscheiden hatten, beschäftigte auch schon das BVerfG in seiner Entscheidung von 2020. Nur ein paar Sätze nach den bekannt gewordenen Zitaten heißt es dort: "Der vom Grundgesetz geforderte Respekt vor der autonomen Selbstbestimmung des Einzelnen (…) setzt eine frei gebildete und autonome Entscheidung voraus." Mit anderen Worten: Rechtlichen Schutz in dem vom BVerfG definierten Sinne genießt nur ein freiverantwortlicher Suizid. Das bedeutet umgekehrt, dass jemand, der Hilfe zu einem unfreien Suizid leistet, sich unter Umständen strafbar macht. Es stellt sich also die nicht ganz kleine Frage: Wann ist die Entscheidung eines Menschen frei?
In dem Berliner Fall hatte der Mediziner, der mit einer Sterbehilfeorganisation zusammenarbeitet, einer 37-jährigen Studentin der Veterinärmedizin, die an Depressionen litt, gleich zweimal Medikamente zum Suizid besorgt. Beim ersten Versuch, am 24. Juni 2021, hatte er ihr Tabletten mit dem Wirkstoff Chloroquin besorgt. Die Frau erbrach diese jedoch nach der Einnahme und überlebte. Daraufhin wurde sie zunächst in ein Krankenhaus eingeliefert und anschließend in einem geschlossenen psychiatrischen Krankenhaus untergebracht.
Sie gab ihren Sterbewunsch jedoch nicht auf und kontaktierte den Hausarzt erneut. Am 12. Juli 2021 – unmittelbar nach ihrer Entlassung aus der Psychiatrie – trafen die beiden sich in einem angemieteten Hotelzimmer in Berlin-Lichterfelde. Dort legte der Mediziner der Frau eine Infusion mit einer tödlichen Dosis des Medikaments Thiopental Inresa. Die Frau setzte die Infusion selbst in Gang – hätte der Arzt dies getan, hätte er sich wegen aktiver Sterbehilfe strafbar gemacht –, wenige Minuten später starb sie.
Diese Geschehnisse bestritt der Arzt vor dem LG Berlin nicht, denn so weit wäre sein Verhalten nicht strafbar gewesen. Durch eigene Hand getötet hatte der Mediziner die Studentin nicht, sodass ihm keine unmittelbare Tötung zu Last gelegt werden konnte. Die Beihilfe zum Suizid steht ebenfalls nicht (mehr) unter Strafe. Doch die Staatsanwaltschaft warf ihm vor, die Frau habe keineswegs eine – in den Worten des BVerfG – frei gebildete und autonome Entscheidung getroffen: Er habe eine Tötung in mittelbarer Täterschaft begangen.
LG Berlin I: Ein "ambivalenter" Sterbewunsch
Was das bedeutet, ergibt sich aus § 25 Abs. 1 Var. 2 StGB: "(…) wer die Straftat (…) durch einen anderen begeht". Das heißt zu Deutsch: Jemand nutzt einen anderen Menschen – in diesem Fall die Studentin, die sterben wollte – als "Werkzeug" zu seiner oder ihrer Tat. Die Person befindet sich also in einer derart dominanten und einflussreichen Position, dass sie die andere Person lediglich benutzt.
Hier, so stellte die 40. Große Strafkammer des LG Berlin I fest, habe die "Geschädigte", wie es im Jargon des Strafurteils heißt, keineswegs einen gefestigten Sterbewillen gehabt, wie ihn das BVerfG verlangt. Ihr Wunsch sei ambivalent gewesen, sie habe ständig geschwankt zwischen dem Wunsch zu leben und dem Wunsch zu sterben. Noch am Morgen des Tattages – dem Tag, an dem sie aus der geschlossenen Unterbringung entlassen wurde – hatte sie nach Ansicht der Kammer binnen einer halben Stunde ihre Meinung geändert. So schrieb sie um 9.30 Uhr eine Nachricht an den Arzt: "Es soll wohl weitergehen für mich", um 9.58 Uhr dann: "Am liebsten noch heute". Noch am selben Tag traf die beiden sich dann im angemieteten Hotelzimmer.
Der Mediziner hätte deshalb erkennen müssen, dass ihr Sterbewunsch nicht die erforderliche Dauerhaftigkeit und inneren Festigkeit hatte, erklärte der Vorsitzende Richter Mark Sautter in seiner Urteilsbegründung. Dabei erklärte die Kammer auch, dass der Frau schon aufgrund ihrer Depressionen eine freie Entscheidung nicht möglich gewesen sei. Dass die Frau sich zuvor nach Angaben des verurteilten Arztes in fast allen Nachrichten ihm gegenüber zum Suizid entschlossen gezeigt haben soll, änderte für die Kammer nichts. Auch bei 999 Versicherungen sei eine widersprechende Äußerung im letzten Moment vielleicht entscheidend, fand man.
Immer noch kein Gesetzentwurf zur Suizidhilfe
Heißt das nun, dass Depressive unter keinen Umständen frei entscheiden und damit ein Recht auf Suizidhilfe haben können? Oder dass der Sterbewunsch ohne Unsicherheiten über einen längeren Zeitraum bestanden haben muss? All das ist – trotz einiger seit dem Karlsruher Verdikt bereits ergangener Einzelfallentscheidungen – bislang völlig unklar. Seit 2020 wird darüber debattiert, was die große Unbekannte in der Rechnung, die Freiverantwortlichkeit des Sterbewunschs, genau bedeutet.
Das BVerfG hat die freiverantwortliche Willensbildung für den Suizid so umschrieben: "Ein Suizidentschluss geht auf einen autonom gebildeten, freien Willen zurück, wenn der Einzelne seine Entscheidung auf der Grundlage einer realitätsbezogenen, am eigenen Selbstbild ausgerichteten Abwägung des Für und Wider trifft." Eine freie Suizidentscheidung setze also "die Fähigkeit voraus, seinen Willen frei und unbeeinflusst von einer akuten psychischen Störung bilden und nach dieser Einsicht handeln zu können." Diese Sätze müssen nun in konkrete Anforderungen übersetzt werden.
Doch ob Medizinerinnen, Psychologen, Ethikerinnen, auch Juristen – sie alle können nur Expertise und Rat liefern, denn es gibt keine wissenschaftliche Formel, anhand derer eine Entscheidung für frei oder unfrei erklärt werden könnte. Letztlich handelt es sich um eine Wertentscheidung: Wessen Willen billigen wir in unserer Rechtsordnung Geltung zu? Verhandelt werden müssen solche ethischen Grundfragen eigentlich im dafür vorgesehenen Ort, dem Parlament. Doch dieses konnte sich seit der Nichtigerklärung von § 217 StGB auf kein Suizidhilfegesetz einigen – trotz diverser Vorschläge. Das ist der Grund für Fälle wie den vor dem LG Berlin I: Sterbehelferinnen und -helfer müssen anhand eigener Kriterien entscheiden, wessen Wunsch sie für frei gefasst halten – stets mit dem Risiko der Strafbarkeit im Rücken.
Falsche Versicherung als Strafbarkeitsrisiko
Im Fall des Berliner Mediziners tat sich noch eine weitere interessante Frage auf: Wie verhält es sich mit Sterbewünschen, denen falsche Annahmen zugrunde liegen? Das LG geht nach eigenen Angaben davon aus, dass der Arzt der sterbewilligen Frau vor dem zweiten und letztlich tödlichen Suizidversuch versichert hat, er werde im Zweifel mit allen – auch unerlaubten – Mitteln nachhelfen, um sicherzustellen, dass sie dieses Mal auch tatsächlich sterbe. Das Gericht hielt dies für unwahr, denn er habe gar nicht vorgehabt, seine Ankündigung wahrzumachen. Der Studentin habe er somit eine falsche Sicherheit vorgemacht, die für ihre Entscheidung zum Suizid wesentlich gewesen sei. Aus diesem Grund sah die Kammer hier eine "besondere Fallkonstellation", die nicht bloß als straflose Beihilfe zum Suizid, sondern vielmehr als Totschlag in mittelbarer Täterschaft zu werten sei.
Damit steht nun auch im Raum, dass ggf. gut gemeinte Versicherungen ("Es wird nicht weh tun", "Es passieren keine Fehlschläge", vielleicht auch: "Ihre Familie wird damit klarkommen") wohl überlegt sein müssen, könnten sie doch eine falsche Sicherheit wecken, die Helferinnen und Helfer letztlich zu Täterinnen und Tätern macht.
Nicht erst mit diesem Fall sollte auch die Politik erkennen, dass die rechtliche Leerstelle, die gegenwärtig existiert, niemandem hilft – weder Sterbewilligen noch Hilfspersonen, Angehörigen oder der Gesellschaft als ganzer. Für den nun verurteilten Arzt war es nicht die erste Hauptverhandlung vor dem LG Berlin wegen Suizidhilfe: 2018 war er im Fall einer Suizidhilfe für eine unheilbar kranke Frau freigesprochen worden, der BGH hielt im Jahr 2019 die Entscheidung. Gut möglich, dass auch der am Montag in Berlin entschiedene Fall den Weg nach Karlsruhe finden wird: Bereits zu Prozessbeginn hatte der Mediziner angekündigt, notfalls in Revision zu gehen.
Wir berichten neutral und mit der gebotenen Zurückhaltung über Suizide, um keinen Anreiz für Nachahmung zu geben. Wenn Sie selbst depressiv sind oder wenn Sie Suizid-Gedanken plagen, können Sie rund um die Uhr und anonym die TelefonSeelsorge im Internet (https://www.telefonseelsorge.de) oder über die kostenlosen Hotlines 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222 oder 116 123 kontaktieren.