Neuregelung sollte Sterbehilfevereine in Deutschland verhindern
§ 217 StGB stellt die "geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung" unter Strafe. Bis zu drei Jahre Haft oder eine Geldstrafe drohen demjenigen, der in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt. . Nur Angehörige und "Nahestehende", die beim Suizid unterstützen, bleiben straffrei. Der Gesetzgeber wollte damit verhindern, dass Suizidhilfe-Vereine wie Sterbehilfe Deutschland oder Dignitas aus der Schweiz ihre Angebote für zahlende Mitglieder ausweiten und gesellschaftsfähig werden. Niemand sollte sich unter Druck gesetzt fühlen, seinem Leben ein Ende zu setzen.
Vereine, Mediziner und Schwerkranke hatten geklagt
Professionelle Sterbehelfer hatten ihre Aktivitäten in Deutschland seither weitgehend eingestellt, aber in Karlsruhe gegen das Verbot Verfassungsbeschwerde eingelegt - genauso wie mehrere schwerkranke Menschen, die ihre Dienste in Anspruch nehmen möchten. Hinter anderen Verfassungsbeschwerden stehen Ärzte, die befürchten, sich bei der palliativmedizinischen Behandlung todkranker Menschen strafbar zu machen. Manche von ihnen wünschen sich auch die Freiheit, Patienten in bestimmten Fällen ein tödliches Medikament zur Verfügung stellen zu dürfen. Zu den Beschwerdeführern gehörten auch im Bereich der suizidbezogenen Beratung tätige Rechtsanwälte.
BVerfG: Verstoß gegen Recht auf selbstbestimmtes Sterben
Das BVerfG hat das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung in § 217 StGB für verfassungswidrig und nichtig erklärt. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) umfasse als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Denn der Entschluss zur Selbsttötung betreffe Grundfragen menschlichen Daseins und berühre wie keine andere Entscheidung Identität und Individualität des Menschen. Das Recht, sich selbst zu töten, umfasse auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten werde, in Anspruch zu nehmen. § 217 StGB verletze das Recht auf selbstbestimmtes Sterben, und zwar auch dann, wenn die Regelung in enger Auslegung ausschließlich die von Wiederholungsabsicht getragene Förderung einer Selbsttötung als Akt eigenhändiger Beendigung des eigenen Lebens erfasst.
Motive des zur Selbsttötung Entschlossenen nicht zu bewerten
Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben sei nicht auf fremddefinierte Situationen wie schwere oder unheilbare Krankheitszustände oder bestimmte Lebens- und Krankheitsphasen beschränkt. Es bestehe in jeder Phase menschlicher Existenz. Eine Einengung des Schutzbereichs auf bestimmte Ursachen und Motive liefe auf eine Bewertung der Beweggründe des zur Selbsttötung Entschlossenen und auf eine inhaltliche Vorbestimmung hinaus, die dem Freiheitsgedanken des Grundgesetzes fremd sei. Die Entscheidung des Einzelnen, dem eigenen Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, entziehe sich einer Bewertung anhand allgemeiner Wertvorstellungen, religiöser Gebote, gesellschaftlicher Leitbilder für den Umgang mit Leben und Tod oder Überlegungen objektiver Vernünftigkeit. Sie bedürfe keiner weiteren Begründung oder Rechtfertigung, sondern sei im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.
Selbsttötung letzter Ausdruck von Würde
Das Recht, sich selbst zu töten, könne auch nicht mit der Begründung verneint werden, dass sich der Suizident seiner Würde begebe, weil er mit seinem Leben zugleich die Voraussetzung seiner Selbstbestimmung aufgebe. Die selbstbestimmte Verfügung über das eigene Leben sei vielmehr unmittelbarer Ausdruck der der Menschenwürde innewohnenden Idee autonomer Persönlichkeitsentfaltung. Sie sei, wenngleich letzter, Ausdruck von Würde.
§ 217 StGB macht assistierte Selbsttötung weitgehend unmöglich
§ 217 StGB greife in das allgemeine Persönlichkeitsrecht Sterbewilliger ein, auch wenn diese nicht unmittelbare Adressaten der Norm seien. Das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung entfalte eine objektiv die Freiheit zum Suizid einschränkende Wirkung. Es mache es dem Einzelnen faktisch weitgehend unmöglich, Suizidhilfe zu erhalten. Diese Einschränkung individueller Freiheit sei von der Zweckrichtung des Verbots bewusst umfasst und begründet einen Eingriff auch gegenüber suizidwilligen Personen. Angesichts der existentiellen Bedeutung, die der Selbstbestimmung über das eigene Leben für die personale Identität, Individualität und Integrität zukomme, wiege der Eingriff besonders schwer.
Anliegen des Gesetzgebers zwar legitim
Das BVerfG sieht den Eingriff auch nicht gerechtfertigt. Zwar verfolge der Gesetzgeber mit der Regelung, die dazu diene, die Selbstbestimmung des Einzelnen über sein Leben und hierdurch das Leben als solches zu schützen, ein legitimes Ziel. Der Gesetzgeber sei in Wahrnehmung seiner Schutzpflicht berechtigt, konkret drohenden Gefahren für die persönliche Autonomie von Seiten Dritter entgegenzuwirken. Es sei auch legitim, dass er verhindern wolle, dass sich der assistierte Suizid in der Gesellschaft als normale Form der Lebensbeendigung durchsetzt. Der Gesetzgeber dürfe einer Entwicklung entgegensteuern, welche die Entstehung sozialer Pressionen befördert, sich unter bestimmten Bedingungen, etwa aus Nützlichkeitserwägungen, das Leben zu nehmen.
Freie Suizid-Entscheidung darf nicht unmöglich gemacht werden
Das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung sei aber jedenfalls unangemessen, beanstandet das BVerfG. Die existentielle Bedeutung, die der Selbstbestimmung speziell für die Wahrung personaler Individualität, Identität und Integrität im Umgang mit dem eigenen Leben zukomme, lege dem Gesetzgeber strenge Bindungen bei der normativen Ausgestaltung eines Schutzkonzepts im Zusammenhang mit der Suizidhilfe auf. Der Gesetzgeber habe diese Bindungen überschritten. Der legitime Einsatz des Strafrechts zum Schutz der autonomen Entscheidung des Einzelnen über die Beendigung seines Lebens finde seine Grenze dort, wo die freie Entscheidung nicht mehr geschützt, sondern unmöglich gemacht wird. Die Straflosigkeit der Selbsttötung und der Hilfe dazu stehe als Ausdruck der verfassungsrechtlich gebotenen Anerkennung individueller Selbstbestimmung nicht zur freien Disposition des Gesetzgebers. Ein gegen die Autonomie gerichteter Lebensschutz widerspreche dem Selbstverständnis einer Gemeinschaft, in der die Würde des Menschen im Mittelpunkt der Werteordnung stehe, und die sich damit zur Achtung und zum Schutz der freien menschlichen Persönlichkeit als oberstem Wert ihrer Verfassung verpflichte.
Recht auf Selbsttötung in weiten Teilen faktisch entleert - Kein Anspruch auf Suizidhilfe
Diesen verfassungsrechtlich zwingend zu wahrenden Entfaltungsraum autonomer Selbstbestimmung verletze das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung, so das BVerfG weiter. Es führe im Gefüge mit der bei seiner Einführung vorgefundenen Gesetzeslage dazu, dass das Recht auf Selbsttötung in weiten Teilen faktisch entleert ist. Ohne geschäftsmäßige Angebote der Suizidhilfe sei der Einzelne maßgeblich auf die individuelle Bereitschaft eines Arztes angewiesen, an einer Selbsttötung zumindest durch Verschreibung der benötigten Wirkstoffe assistierend mitzuwirken. Von einer solchen individuellen ärztlichen Bereitschaft werde man bei realistischer Betrachtungsweise nur im Ausnahmefall ausgehen können. Ärzte würden bislang eine geringe Bereitschaft zeigen, Suizidhilfe zu leisten, und könnten hierzu auch nicht verpflichtet werden. Aus dem Recht auf selbstbestimmtes Sterben leite sich kein Anspruch gegenüber Dritten auf Suizidhilfe ab. Zudem setze das ärztliche Berufsrecht der Bereitschaft Suizidhilfe zu leisten weitere Grenzen.
Berufsfreiheit oder allgemeine Handlungsfreiheit von Suizidhelfern verletzt
§ 217 StGB verletze zudem Grundrechte von Personen und Vereinigungen, die Suizidhilfe leisten möchten, so das BVerfG weiter. Das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung verstoße aufgrund seiner Unvereinbarkeit mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht von selbstbestimmt zur Selbsttötung entschlossenen Personen gegen objektives Verfassungsrecht und sei infolgedessen auch gegenüber unmittelbaren Normadressaten nichtig. Der verfassungsrechtliche Schutz des durch § 217 StGB unter Strafe gestellten Handelns ergebe sich aus einer funktionalen Verschränkung der Grundrechte von Suizidhilfe leistenden Personen und Vereinigungen, insbesondere aus Art. 12 Abs. 1 GG oder subsidiär Art. 2 Abs. 1 GG, mit dem Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Die Entscheidung zur Selbsttötung sei in ihrer Umsetzung nicht nur in tatsächlicher Hinsicht davon abhängig, dass Dritte bereit sind, Gelegenheit zur Selbsttötung zu gewähren, zu verschaffen oder zu vermitteln. Die Dritten müssten ihre Bereitschaft zur Suizidhilfe auch rechtlich umsetzen dürfen. Der Gewährleistung des Rechts auf Selbsttötung korrespondiere daher auch ein entsprechend weitreichender grundrechtlicher Schutz des Handelns von Suizidassistenten.
Freiheitsrecht von Suizidhelfern verletzt
Mit der Androhung einer Freiheitsstrafe verletze das Verbot des § 217 StGB Suizidhelfer, die als natürliche Personen unmittelbare Normadressaten seien, zudem in ihrem Freiheitsrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG. Eine mögliche, an die Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung geknüpfte Bußgeldbewehrung verletzte deutsche Sterbehilfevereine in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG.
Gesetzgeber darf Suizidhilfe regulieren
Das BVerfG betont, dass es dem Gesetzgeber nicht untersagt sei, die Suizidhilfe zu regulieren. Eine solche Regelung müsse sich aber an der Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen ausrichten, das darauf angelegt sei, sich in Freiheit selbst zu bestimmen und zu entfalten. Zum Schutz der Selbstbestimmung über das eigene Leben stehe dem Gesetzgeber in Bezug auf organisierte Suizidhilfe ein breites Spektrum an Möglichkeiten offen. Sie würden von prozeduralen Sicherungsmechanismen, etwa gesetzlich festgeschriebener Aufklärungs- und Wartepflichten, über Erlaubnisvorbehalte, die die Zuverlässigkeit von Suizidhilfeangeboten sicherten, bis zu Verboten besonders gefahrträchtiger Erscheinungsformen der Suizidhilfe reichen. Diese könnten auch im Strafrecht verankert oder jedenfalls durch strafrechtliche Sanktionierung von Verstößen abgesichert werden.
Konsistente Ausgestaltung des Berufsrechts der Ärzte erforderlich
Das Recht auf Selbsttötung verbiete es aber, die Zulässigkeit einer Hilfe zur Selbsttötung materiellen Kriterien zu unterwerfen, sie etwa vom Vorliegen einer unheilbaren Krankheit abhängig zu machen. Dennoch könnten je nach Lebenssituation unterschiedliche Anforderungen an den Nachweis der Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit eines Selbsttötungswillens gestellt werden. Allerdings müsse dem Recht des Einzelnen, aufgrund freier Entscheidung mit Unterstützung Dritter aus dem Leben zu scheiden, auch faktisch hinreichender Raum zur Entfaltung und Umsetzung belassen werden. Das erfordere nicht nur eine konsistente Ausgestaltung des Berufsrechts der Ärzte und der Apotheker, sondern möglicherweise auch Anpassungen des Betäubungsmittelrechts. Dies schließe nicht aus, die im Bereich des Arzneimittel- und des Betäubungsmittelrechts verankerten Elemente des Verbraucher- und des Missbrauchsschutzes aufrechtzuerhalten und in ein Schutzkonzept zur Suizidhilfe einzubinden. All dies lasse unberührt, dass es eine Verpflichtung zur Suizidhilfe nicht geben darf.
Kirchen befürchten sozialen Druck auf alte und kranke Menschen
Aus der Regierung verlautete, dass man das Sterbehilfe-Urteil zunächst prüfen und auswerten und erst danach über mögliche Maßnahmen zu entscheiden wolle. Dies machte Regierungssprecher Steffen Seibert am 26.02.2020 in Berlin deutlich. Scharfe Kritik an dem Urteil kam von den Kirchen und der Diakonie. "Wir befürchten, dass die Zulassung organisierter Angebote der Selbsttötung alte oder kranke Menschen auf subtile Weise unter Druck setzen kann, von derartigen Angeboten Gebrauch zu machen", teilten der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, und der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, in einer gemeinsamen Erklärung mit. Auch der Diakonie-Präsident Ulrich Lilie befürchtet sozialen Druck auf kranke Menschen.
Deutsche Palliativ-Stiftung wirft BVerfG "Übergriffigkeit" vor
Die Deutsche Palliativ-Stiftung wirft dem BVerfG "Übergriffigkeit" vor. "Wenn ein entgrenztes Gericht selbst in so fundamentalen gesellschaftlichen Fragen wie dem Sterben die eindeutige Mehrheitsentscheidung des Parlaments nicht mehr achtet, hat es offensichtlich jeden demokratischen Respekt verloren", sagte der Stiftungsrat Carsten Schütz. Die Stiftung Patientenschutzgeht kritisiert, dass das Urteil aber an der Lebenswirklichkeit vorbeigehe. "Schließlich würden mehr als die Hälfte der Menschen lieber den Suizid wählen, als in ein Pflegeheim zu ziehen", so Stiftungsvorstand Eugen Brysch.
Schwerkranker Beschwerdeführer "überaus erleichtert"
Einer der Kläger gegen das Sterbehilfe-Verbot, der krebskranke Horst L., zeigte sich hingegen "überaus erleichtert" über die Entscheidung des BVerfG. Die deutliche Sprache des Urteils beeindrucke ihn sehr, schrieb L., am 26.02.2020 der Deutschen Presse-Agentur in Karlsruhe. "Ich hoffe, dass dieser Grundton bei der sich nun anschließenden Umsetzung genauso klar erhalten bleibt."