Überlastete Geschäftsstellen, zu wenig Digitalisierung und eine veraltete Prozessordnung – viele Baustellen sorgen dafür, dass die Ziviljustiz mit ihrer Arbeit mehr schlecht als recht hinterherkommt und Verfahren immer länger dauern. Doch was soll man anfangen mit dieser Bestandsaufnahme, was gegen die Probleme tun? Wie all die Millionen investieren, welche die Bundesregierung mit dem neuen Pakt für den Rechtsstaat mobilisieren will?
"Geld allein wird es nicht richten", stellt die Zivilrechtsprofessorin Caroline Meller-Hannich klar, die sich im Rahmen einer Studie zum Rückgang der Eingangszahlen in Zivilsachen für das Bundesjustizministerium (BMJV) mit dem Zustand der deutschen Justiz befasst hat. Was aber braucht es dann? Einen Schritt nach dem anderen: Um Lösungen zu finden, muss man erst einmal die Probleme konkret benennen.
Nicht einmal ein gemeinsamer Outlook-Kalender
Für Sina Dörr, Richterin am OLG Köln, die sich seit Jahren mit der Zukunft einer leistungsfähigen und digitalen Justiz beschäftigt, gibt es unter den Ursachen für die beschwerlichen Zivilverfahren drei Säulen: "Die erste Säule ist, wie das Verfahren als solches designt ist, die zweite ist die Art und Weise, wie wir arbeiten, und die dritte ist die technische Ausstattung", so Dörr. Mangelnde technische Ausstattung und umständliche Verfahrensvorschriften, das hat man schon einmal gehört. Überraschend ist aber die zweite Säule: Sind die Richterinnen und Richter in ihrer Arbeitsweise etwa mitverantwortlich für die Misere? "Es geht auch um Selbstorganisation", meint Dörr, doch auch die hat viel mit Technik zu tun: Zum Teil würden nicht einmal vorhandene Tools genutzt, wie etwa Outlook-Kalender, berichtet sie. "Es geht auch um solche simplen Dinge wie einheitliche Dateinamen und Wissens-Management." Das alles ist nichts, wozu auch nur ein Gesetz geändert oder viel Geld ausgegeben werden müsste. Doch die Justiz stecke an vielen Stellen noch in alten Gewohnheiten fest, meint Dörr.
Diese alten Gewohnheiten bekommen gelegentlich auch die zu spüren, die intern neue Lösungen vorschlagen, wie Dörr berichtet. Eine zentrale Herausforderung dabei aus ihrer Sicht: die Abhängigkeit von technischen Diensten. Denn es ist natürlich so: Eine Richterin kann und darf selbst keine neue Software auf die Dienstrechner spielen, dazu braucht es die technischen Dienste in der Justizverwaltung. Richterinnen und Richter sind darauf angewiesen, dass dort Änderungswünsche aufgegriffen und umgesetzt werden. Das ist offenbar nicht einfach. Letztlich klingen die Probleme, die sie beschreibt, symptomatisch für das, was man anekdotisch aus dem gesamten öffentlichen Dienst in Deutschland hört: antiquierte Arbeitsweisen, umständliche Regularien, und viel Klein-Klein um Zuständigkeiten und Technik. Die gerichtsinternen Prozesse seien oft dysfunktional, so Dörr.
Mehrere Wochen für eine Verfügung
Doch dysfunktional ist nicht nur mitunter die Arbeitsweise im Gericht, sondern auch der Zivilprozess als solcher, findet Thomas Riehm, der an der Universität Passau Zivilprozessrecht lehrt und zur Zukunft der Justiz forscht. Er hat viele systemische Schwachstellen der ZPO ausgemacht, die Prozesse aus seiner Sicht unnötig verlängern. Das klingt nach der ersten Säule von Dörr: Verfahrensdesign. So gebe es zu viele Arbeitsschritte, die formal eine richterliche Mitwirkung erforderten, sodass die Akte eine Extra-Runde drehen müsse, meint Riehm.
"Warum muss zum Beispiel eine Zustellung vom Richter verfügt werden", fragt er. "Das wäre banal automatisierbar!" Die Akte werde einem Richter vorgelegt, dieser müsse dann "seinen Haken setzen", dann gehe die Akte wieder an die Geschäftsstelle zurück. "Allein der Umstand, dass eine richterliche Anordnung erfolgen muss, verzögert Verfahren teilweise um mehrere Wochen, weil ein neuer Aktenumlauf entsteht." Mehrere Wochen, nur weil ein Richter pro forma einen Routinevorgang abnicken muss? Für Riehm nur ein Beispiel von vielen für selbst geschaffene Probleme, die man unabhängig von Personalaufstockung angehen könnte.
Wo fängt man da an?
Soweit zur Bestandsaufnahme – doch die Probleme sind mitunter so kleinteilig, so ermüdend, dass man sich unweigerlich fragt: Wo soll man da überhaupt anfangen? Das Wichtigste stehe eigentlich schon im Koalitionsvertrag, der das Prozessrecht prominent in den Blick nehme, meint Meller-Hannich – man müsse ihn nur umsetzen. Hier habe die Bundesregierung diverse Forderungen aus dem Abschlussbericht der Reformkommission des Justizministeriums zum Zivilprozess der Zukunft aufgenommen, so die Professorin, die der Kommission selbst angehörte.
Ein Anfang bei der Umsetzung ist gemacht mit dem Online-Klageverfahren vor Amtsgerichten, dessen Einführung das Kabinett im Juli beschlossen hat. Ziel ist ein bundesweites Justizportal für Online-Dienstleistungen samt Kommunikationsplattform. Ein wichtiger Schritt wäre auch die endlich verpflichtende digitale Aktenführung in allen Bundesländern, die eigentlich zum Beginn des kommenden Jahres greifen würde. Kürzlich hat allerdings das BMJV einen Referentenentwurf vorgelegt, der es erlaubt, diese um ein Jahr auf den 1. Januar 2027 zu verschieben. Meller-Hannich geht vieles zu langsam; zudem merkt sie an, dass in den verschiedenen Bundesländern unterschiedliche Systeme für die E-Akte existierten. "Wir brauchen möglichst bundeseinheitliche Strukturen", fordert sie. Auch im laufenden Prozess könne moderne Technik die Zustellung und Terminbestimmung sowie die Beweisführung beschleunigen und erleichtern, etwa mit einem digitalen Beweismittelverzeichnis.
Online-Klagetool: Der Anfang vom Ende des beA?
Auch Riehm sieht im Online-Klagetool einen ersten wichtigen Baustein auf dem Weg zu einem moderneren und schnelleren Zivilprozess. Er hofft vor allem, dass ein Aspekt seiner Entwicklung Schule macht: "Das Online-Klagetool finde ich zukunftsweisend, auch in der Art der Gesetzgebung", erklärt Riehm im beck-aktuell-Gespräch. Das Instrument werde synchron technisch und gesetzgeberisch entwickelt – eine Einheit im Justizministerium sei für beides zuständig. So müsste man es bei allen technischen Lösungen handhaben, findet er. Regulatorischer Rahmen und technische Umsetzung müssten Hand in Hand gehen und digitale Lösungen vor allem aus Nutzersicht gedacht werden.
Riehm hofft, dass die nun für das Online-Klagetool geschaffene Plattform als "U-Boot" für weitere Anwendungen fungieren könnte. Perspektivisch werde der gesamte elektronische Rechtsverkehr mit beA und Co. der Vergangenheit angehören und einer Plattformlösung weichen, ist er überzeugt. Was er sich noch vorstellen könnte: Eine KI als Copilot für die Richterinnen und Richter, die zum Beispiel Akten auf Schlagwörter durchsucht – ähnlich der Anwendung MAKI, kurz für "Massenverfahrensassistenz mithilfe von KI", die Gerichte bereits in diesem Jahr einsetzen sollen – nur für sämtliche Verfahrensarten. Der Copilot könnte dann auch Textbausteine für ein Urteil aus der bisherigen Rechtsprechung des Spruchkörpers vorschlagen, wie es das Frankfurter Tool Frauke bereits für Fluggastrechteverfahren erledigt.
Man merkt: Es fehlt nicht unbedingt an guten Ideen und Ansätzen für die Digitalisierung der Justiz. Diese zielgerichtet und vor allem möglichst einheitlich und länderübergreifend zu integrieren, ist eher das Problem. Auch Dörr, die selbst rund drei Jahre lang als Referentin im Bundesjustizministerium an den Themen Legal Tech und Zugang zum Recht gearbeitet und dort unter anderem die Entwicklung des Online-Klageverfahrens begleitet hat, bestätigt: Es gebe viele Möglichkeiten, den Arbeitsalltag in der Justiz durch Software-Lösungen zu erleichtern, sie müssten aber auch gewollt und sinnvoll umgesetzt sein. Der Digitalservice des Bundes, der etwa das zivilgerichtliche Onlineverfahren entwickelt, habe da bislang gute Arbeit gemacht, findet sie.
Braucht es einen "globalen Kahlschlag" in der ZPO?
Doch wie auch Personalaufstockungen wird neue Technik allein nicht die erhoffte Entlastung bringen, da sind sich Meller-Hannich, Dörr und Riehm einig. Meller-Hannich erinnert etwa an Forderungen der Reformkommission, das Kammerprinzip an Gerichten zu stärken, eigens Kammern für Spezialmaterien einzurichten und dort auch entsprechend erfahrene Richterpersönlichkeiten einzusetzen. Mehr Spezialisierung könne nicht nur bessere Rechtsprechung, sondern auch schnellere und hochwertige Bearbeitung ermöglichen, findet sie. Und auch einzelne Richterinnen und Richter könnten – schon im heutigen Rahmen der ZPO – durchaus mithelfen, die Prozesse zu beschleunigen, vorhersehbarer zu machen und besser zu strukturieren, meint die Professorin. So könnten sie eine aktivere und konsequentere Verfahrensführung betreiben, etwa frühzeitig Hinweise erteilen und Organisationstermine ansetzen.
Riehm schlägt indes einen radikaleren Ansatz vor: Man müsse den ganzen Zivilprozess auf einem weißen Blatt Papier neu strukturieren und an die heutige Lebens- und Arbeitswelt sowie an viele internationale Entwicklungen der letzten 150 Jahre anpassen, findet er. Den gesamten Zivilprozess? Riehm meint das so, wie er es sagt. Wenn man wirklich etwas ändern wolle, brauche es einen "globalen Kahlschlag" im Zivilverfahrensrecht, findet er. Das bald 150 Jahre alte ZPO-Regelwerk müsse grundlegend überarbeitet werden. "Man bräuchte eine so große ZPO-Reform, dass die Reform von 2002 ein kleines Würmchen dagegen wäre", betont er. Das sei eine "gigantische Aufgabe". Wie wahrscheinlich das ist? Riehm macht sich hier keine Illusionen, doch träumen wird man noch dürfen.
McKinsey in die Justiz?
Bedenkenswert ist aber auch Riehms Ausgangspunkt: Statt blind Geld in Technik und Personal zu stecken, sollte man aus seiner Sicht mehr in eine professionelle Bedarfsermittlung investieren. Um Absurditäten wie wochenlange Verzögerungen aufgrund einer Zustellung zu vermeiden, müsse man die Justiz einmal aus dem Blickwinkel der Prozessoptimierung unter die Lupe nehmen, so Riehm – im Zweifel auch mithilfe einer Unternehmensberatung. Also McKinsey in die Justiz? Warum nicht, meint Riehm. Allein durch Neustrukturierungen könne man viel Zeit und Arbeit einsparen, glaubt er, "da ist ein Riesenpotenzial!" Für Dörr ist eine klare Analyse ebenfalls wichtig, um Problemstellen zu identifizieren: "Es passiert schon einiges, doch wir brauchen Messbarkeit", fordert sie. Man brauche "Kennzahlen für eine gute Digitalisierung" und müsse ein notwendiges Mindestmaß hierfür messbar machen, so Dörr.
Nun wäre es also an der Politik, nicht nur große Summen zu versprechen, sondern auch darauf hinzuwirken, dass naheliegende Lösungen umgesetzt werden. Doch was Dörr moniert, bestätigt auch Riehm: Die Beharrungskräfte seien an vielen Stellen sehr stark.* Klar ist: Wenn sich wirklich etwas ändern soll, braucht es viel Zusammenarbeit und Entschlossenheit – von Berlin bis in die Amtsstuben.
*Anm. d. Red.: An dieser Stelle hieß es früher zudem, die Digitalisierung der Justiz werde nun im neu geschaffenen Digitalministerium verwaltet. Dies ist nicht korrekt, die Digitalisierung der Justiz liegt weiterhin federführend im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (Änderung am 13.10.2025,15.33 Uhr, mam).


