Immer wieder ist in der Öffentlichkeit die Rede von einer überlasteten Justiz und einem ächzenden, kaum mehr leistungsfähigen Rechtsstaat. In der ARD sprach Andrea Titz, Präsidentin des Deutschen Richterbundes (DRB) im März dieses Jahres darüber, dass an vielen Gerichten schlicht die Zeit fehle, alle Verfahren zu bearbeiten, die dort lägen. Hans-Jürgen Papier, ehemaliger Präsident des BVerfG, sprach in derselben Reportage gar davon, es drohe eine "Erosion des Rechtsstaats". Auch in der politischen Debatte spielt das Thema eine Rolle, mit dem "Pakt für den Rechtsstaat" sollten zahlreiche neue Stellen geschaffen und vakante Stellen endlich nachbesetzt werden. Erst vor kurzem hat Bundesjustizministerin Stefanie Hubig (SPD) noch einmal fast eine halbe Milliarde Euro für eine bessere Ausstattung der Justiz in Aussicht gestellt. Und in der Debatte um den Justizhaushalt im Bundestag bekräftigten Abgeordnete aller Parteien unisono, wie wichtig es sei, die deutsche Justiz wieder in die Spur zu bringen.
Doch wie überlastet sind die Gerichte in Deutschland wirklich? Zunächst einmal: "Die Gerichte" gibt es nicht. Das deutsche Rechtssystem kennt bekanntlich zwei große Zweige: die ordentliche Gerichtsbarkeit mit der Zivil- und der Strafjustiz und die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Außerdem gibt es Fachgerichtsbarkeiten wie die Finanz- oder Arbeitsgerichte und schließlich die Verfassungsgerichte. All diese Justizbereiche haben unterschiedliche Anforderungen, Bedürfnisse und Belastungen. Auch lassen sich Bundes- und Amtsgerichte keineswegs über einen Kamm scheren. Das zeigt sich schon daran, dass, während an vielen Gerichten zumindest einzelne Abteilungen fast lahmgelegt scheinen, Bundesgerichte wie der BFH gar Stellen abbauen sollen.
Fakt: Zivilverfahren dauern länger
Die für die meisten Bürgerinnen und Bürger relevanteste dürfte die Zivilgerichtsbarkeit sein. Hier streiten sich Mieterinnen, Gebrauchtwagenkäufer, Verkehrsunfallgeschädigte und natürlich Nachbarn. Und anekdotisch lassen sich schnell diverse Überlastungserscheinungen ausmachen. Dazu genügt ein Blick in soziale Netzwerke wie LinkedIn, wo frustrierte Anwältinnen und Anwälte immer wieder Gerichtsschreiben teilen, aus denen teils absurde Bearbeitungszeiten hervorgehen.
So teilte im November 2024 ein Rechtsanwalt ein Schreiben des OLG Stuttgart, das in einem Diesel-Verfahren einen Termin für März anberaumt hatte – allerdings 2027. Ende Juli dieses Jahres kursierte auf LinkedIn auch ein – wenn auch schon älteres* – Rundschreiben des AG Hamburg-Wandsbek, das alle Klägerinnen und Kläger in Zivilverfahren sowie deren Anwältinnen und Anwälte informierte, dass aufgrund eines "gravierenden personellen Engpasses" in nicht-eiligen Sachen aktuell mit Verzögerungen von mehreren Wochen zu rechnen sei. Man bemühe sich, zumindest Klageschriften unverzüglich zuzustellen.
Dass dies nicht nur Einzelfallberichte genervter Anwältinnen und Anwälte sind, zeigt ein Blick in die Statistiken. Eine vom Bundesjustizministerium in Auftrag gegebene Studie aus April 2023 belegt etwa, dass die Verfahrensdauer in Zivilverfahren in der Tat im Schnitt gestiegen ist. So dauerte ein durchschnittliches Zivilverfahren bis zur Erledigung in erster Instanz im Jahr 2020 noch 10,5 Monate, im Jahr 2023 waren es schon 12,1 Monate. Auch in der Berufungsinstanz gab es einen leichten, aber kontinuierlichen Anstieg, vor den Oberlandesgerichten sogar um mehr als drei Prozentpunkte. Doch hier sind alle Erledigungsarten mit eingerechnet; dass es noch deutlich länger dauert, ein Urteil zu bekommen, zeigt die Justizstatistik des Statistischen Bundesamts, das vor den Landgerichten eine Verfahrensdauer von durchschnittlich 17,5 Monaten bis zu einem streitigen Urteil errechnete, – 2022 waren es noch 14,1 Monate. Fakt ist also: Zivilverfahren in Deutschland dauern im Schnitt immer länger.
Im europäischen Vergleich noch ordentlich
Doch was bedeutet eigentlich "langsame Justiz"? Solche Bewertungen lassen sich am besten anhand von Vergleichswerten treffen, wie sie das Justizbarometer der EU liefert. Im europäischen Vergleich schneidet Deutschland danach unterschiedlich ab, ganz so schlecht sieht es aber nicht aus. So liegt die Bundesrepublik bei der durchschnittlichen Verfahrensdauer in zivilen Rechtsstreitigkeiten eher im europäischen Mittelfeld. Viele Staaten wie Dänemark, Frankreich oder Italien brauchen länger für ihre Erledigungen. Deutschland hat zudem vergleichsweise wenig anhängige Zivilverfahren pro 100 Einwohner.
Auch Thomas Riehm, der an der Universität Passau Zivilprozessrecht lehrt und sich in seiner Forschung mit der Zukunft der Ziviljustiz befasst, wirbt gegenüber beck-aktuell für Differenzierung: "Die Anzahl der sehr langen Verfahren – als solcher über 24 Monate – ist tatsächlich gesunken", erklärt er mit Blick auf die Justizstatistik. Stark gestiegen sei zuletzt vor allem die Dauer von Berufungsverfahren vor den OLG, bemerkt Riehm. "Das dürfte allerdings auch damit zu tun haben, dass die Oberlandesgerichte im vergangenen Jahr Rückstände abgebaut haben, die erst mit dem Verfahrensabschluss als lange Verfahrensdauern in die Statistik eingeflossen sind."
Ist die Gesamtsituation damit gar nicht so schlimm, wie sie oft beschrieben wird? Das kommt sicherlich auf den Betrachtungswinkel an. Doch trotz aller Unterschiede im Detail: Der generelle Trend der vergangenen Jahre weist konstant in Richtung längerer Zivilverfahren, und aus der Praxis häufen sich die Überlastungsklagen signifikant. Schon vor zwei Jahren schrieb deshalb auch Riehm in einer Stellungnahme für den Deutschen Bundestag, "dass die Überlastung der Justiz nicht nur ein 'gefühltes', sondern ein durchaus reales Problem ist."
Woher kommt das Überlastungsparadoxon?
Das liegt allerdings nicht daran, dass die Verfahren zahlreicher würden: Der Bericht des Bundesamts für Justiz zur Geschäftsentwicklung bei Gerichten und Staatsanwaltschaften von 1999 bis 2024 weist für 2024 317.295 neue erstinstanzliche Zivilverfahren vor den Landgerichten aus. Das bedeutet zwar eine Steigerung gegenüber dem Vorjahr, jedoch knapp 50.000 weniger neue Verfahren als noch 2020 und über 120.000 weniger als im Spitzenjahr 2004.
Wenn nun aber die Verfahren weniger werden und gleichzeitig die Verfahrensdauer steigt, wirft das Fragen auf. Die Bestandsaufnahme ist nicht neu, sie firmiert seit Jahren unter dem Titel "Überlastungsparadoxon". Es läge nahe, die längeren Verfahren trotz weniger Eingängen auf die immer dünner werdende Personaldecke zu schieben. Doch Deutschland leistet sich nach wie vor einen relativ großen Pool an Richterinnen und Richtern – im internationalen Vergleich hat die Bundesrepublik gemessen an ihrer Bevölkerungszahl sogar sehr viele. Laut der Studie im Auftrag des Justizministeriums gibt es heute sogar weniger Verfahren pro Richterstelle als früher. "Woran es liegt, ist bislang empirisch nicht untersucht" sagt Thomas Riehm zum Überlastungsparadoxon. Es gebe anekdotische Hinweise auf immer längere Schriftsätze und hoch spezialisierte Anwaltskanzleien, die jeden Stein umdrehten und den Gerichten so mehr Arbeit bescherten. Doch klare Befunde fehlten, so Riehm.
"Wir haben jedenfalls mit keinem Richter gesprochen, der gesagt hätte, er habe zu wenig zu tun", berichtet indes Caroline Meller-Hannich, juristische Leiterin der Studie im Auftrag des Bundesjustizministeriums aus dem Jahr 2023, im Gespräch mit beck-aktuell. Ihre Untersuchung befasste sich mit den Ursachen des Verfahrensrückgangs in Zivilsachen und setzt sich dabei auch mit der Frage auseinander, weshalb die Prozesse immer länger dauern. Ihre Antwort darauf ist: Manche Gerichte und Dezernate seien mit Massenverfahren, wie etwa Diesel-Prozessen oder Fluggastrechteklagen, überlastet. Da viele einfache und schnell zu erledigende Streitigkeiten inzwischen durch digitale Zahlungsabwicklung, vorausschauende Vertragsgestaltung und unternehmensinternes Beschwerdemanagement wegfielen, seien die verbleibenden Verfahren zudem möglicherweise komplexer. Interessant sei allerdings, dass trotz der längeren Verfahren keineswegs mehr Beweisaufnahmen anberaumt würden, erklärt die Zivilprozessrechtslehrerin. "Das heißt, die Verfahren werden nicht dadurch verzögert." Verfahren würden aber womöglich juristisch umfangreicher und damit arbeitsintensiver.
Diese Vermutung teilt auch Riehm: "Die plausibelste Hypothese für das Überlastungsparadoxon ist meines Erachtens, dass der Rückgang der Eingangszahlen einfachere Fälle betrifft, deren Ausgang von vorneherein eher offensichtlich ist." Komplexe Fälle mit in seitenlangen Schriftsätzen eingegrabenen Parteien seien dagegen wohl geblieben.
"Nicht einfach mehr Personal in ein kaputtes System stecken"
Die Arbeitsbelastung der Justiz steigt also, weil die Komplexität und der Umfang der Verfahren zunehmen. Dies bestätigt mit Sina Dörr auch eine, die es aus erster Hand wissen muss: Sie ist selbst Richterin, derzeit am OLG Köln, und beschäftigt sich seit Jahren mit der Modernisierung der Justiz, arbeitete daran u.a. auch im Bundesjustizministerium. "Obwohl es weniger Verfahren sind, fühlt es sich nicht weniger an", berichtet sie gegenüber beck-aktuell. "Die meisten Fälle sind nicht mehr so einfach; vor allem seit Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs sind die Akten deutlich umfangreicher geworden." Dazu trügen auch die immer häufigeren Massenverfahren bei. Ein anderer Grund sei, "dass wir zum Teil noch anachronistisch arbeiten", so Dörr. Sie meint damit: die Struktur der Zivilverfahren, die technische Ausstattung, aber auch "wie wir selbst arbeiten". Die internen Prozesse seien mitunter dysfunktional; bereits bestehende Möglichkeiten, Dinge zu vereinfachen und zu digitalisieren, würden in der Justiz oftmals schlicht nicht wahrgenommen.
Auch Meller-Hannich bestätigt, dass es Effizienzprobleme im Justizapparat seien, die Verfahren verzögerten. "Wir haben sehr lange Zeiten zwischen dem Eingang einer Klageschrift, der Vergabe des Aktenzeichens, der Anforderung des Gerichtskostenvorschusses und der Zustellung an die Beklagtenseite festgestellt. Da gibt es erhebliche 'Standzeiten' der Akte, in denen wenig passiert." Doch auch wenn das eigentliche Verfahren einmal begonnen habe, gehe es keineswegs so schnell, wie es möglich wäre, meint Meller-Hannich. Termine würden anberaumt, aufgehoben, verschoben. Hinzu kämen häufige Richter-Wechsel während der Verfahren.
Thomas Riehm sieht neben überlasteten Geschäftsstellen ebenfalls viele eingebaute Hindernisse im Laufe des Verfahrens, die den Weg zu einem schnellen Urteil erschwerten. So gebe es zu viele Arbeitsschritte, die formal eine richterliche Mitwirkung erforderten, sodass die Akte eine Extra-Runde drehen müsse. Der Zivilrechtslehrer erinnert daran, dass die ZPO in zwei Jahren 150 Jahre alt wird. Seit ihrer Verabschiedung sei die Prozessordnung strukturell unverändert, "sie ist gedacht für die Arbeitsabläufe des 19. Jahrhunderts."
Einfach nur mehr Geld in die Justiz zu stecken und mehr Richterinnen und Richter einzustellen, wird in dieser Lage nicht viel bringen, da sind sich Meller-Hannich, Riehm und Dörr einig. "Um den Bedarf an Richterstellen realistisch einschätzen zu können, müssen wir parallel auch die offenen Hausaufgaben in den vorhandenen Prozessen, Ausstattung, etc. erledigen", meint Dörr. Oder wie Riehm es formuliert: "Man kann nicht in ein kaputtes System einfach viel Personal stecken, davon wird es nicht besser."
Soweit die Bestandsaufnahme zur Lage der Zivilgerichtsbarkeit in Deutschland. Doch wie kann man sie reformieren? Was die Expertinnen und Experten dazu sagen, lesen Sie demnächst bei beck-aktuell.
*Anm. d. Red.: Die Tatsache, dass das Rundschreiben schon älter ist, wurde nachgetragen. In einer früheren Version des Artikels war der Eindruck erweckt worden, es habe sich um ein aktuelles Schreiben des Gerichts gehandelt (Änderung am 07.10.2025, mam).


