IGH-Entscheidung zu Rafah lässt Raum für Interpretation
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Der IGH hat Israel aufgegeben, die Militär-Offensive in Rafah zu stoppen – doch nur mit Einschränkungen. Wie die Eilentscheidung und die Anordnung einer "vorsorglichen Maßnahme" einzuordnen sind, erläutert Prof. Dr. Christian Tomuschat.

Im Rahmen des Gaza-Kriegs hat der IGH nun schon zum dritten Mal eine "vorsorgliche Maßnahme" (VM) mit mehreren Teilbestimmungen angeordnet. Seit 29. Dezember 2023 ist die Streitsache Südafrika gegen Israel anhängig, auch in der Entscheidung vom 24. Mai 2024 geht es um den Vorwurf des Völkermordes.

Gegenstand der ersten Teilbestimmung der aktuellen Entscheidung ist die israelische Militäroffensive gegen den palästinensischen Bezirk Rafah in Gaza. Die Medien haben zumeist nur den ersten Teil dieser Anordnung aufgegriffen, in dem es heißt, Israel habe sofort seine Offensive wie auch alle anderen Operationen gegen Rafah einzustellen. Was sie dabei beiseitelassen, ist die Einengung auf Handlungen, "die der palästinensischen Gruppe in Gaza Lebensbedingungen zufügen können, die deren gänzliche oder teilweise physische Vernichtung bewirken könnten". Dem südafrikanischen Antrag, zu bestimmen, dass Israel seine Militärkräfte sofort zurückzuziehen und seine Offensive zu beenden habe, hat der IGH damit nicht vollständig entsprochen.

Die Einschränkung ist das Ergebnis der begrenzten Zuständigkeit des IGH, die auf der Klausel des Art. IX der UN-Völkermord-Konvention (VMK) von 1948 beruht. Allen Vertragsparteien – Israel seit 1950, Südafrika seit 1998 – wird dort das Recht eingeräumt, jede Streitigkeit über die Auslegung, Anwendung oder Durchführung der Konvention dem IGH zu unterbreiten. Der IGH besitzt also keine unmittelbare Zuständigkeit, sich zu dem Kriegsgeschehen in Gaza zu äußern. Er ist dazu nur insoweit ermächtigt, als Kriegshandlungen die aus der Völkermord-Konvention fließenden Schutzgarantien beeinträchtigen. Bereits im Jahr 2020 – Fall Gambia gegen Myanmar – ist geklärt worden, dass das Recht, den IGH anzurufen, allen Vertragsparteien zusteht, ohne Rücksicht auf eine spezielle individuelle Betroffenheit.

UN-Sicherheitsrat bisher untätig

An sich wäre wegen der vom Gaza-Krieg ausgehenden Gefährdung für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit nach Art. 24 UN-Charta der UN-Sicherheitsrat berufen, die notwendigen Abhilfeentscheidungen zu treffen. Doch wegen des drohenden Vetos der USA, eine der fünf dort mit einem ständigen Sitz ausgestatteten Mächte, war der Sicherheitsrat zunächst untätig geblieben. Bis auf eine für den Monat Ramadan angeordnete Feuerpause hat er sich bis zum heutigen Tage zur Hauptkonfliktursache nicht weiter geäußert.

In dieser Lage entschloss sich Südafrika, gleichsam als Anwalt für den globalen Süden, das Vakuum zu füllen und durch Erhebung einer Klage vor dem IGH das Rechtsmittel einer VM nach Art. 41 des IGH-Statuts zum Einsatz zu bringen. In der Tat entsprach der IGH bereits am 26. Januar 2024 angesichts der unübersehbaren Dringlichkeit dem am 29. Dezember 2023 zusammen mit der Klageerhebung gestellten Antrag. Israel wurde aufgegeben, keinerlei Verletzungen der VKM zu begehen – an sich eine Selbstverständlichkeit, nun aber höchstrichterlich bestätigt. Gleichzeitig ordnete der IGH an, die betroffene Bevölkerung mit angemessenen humanitären Hilfeleistungen zu versorgen.

Da sich die Lage der notleidenden Bevölkerung trotz dieser Anordnungen nicht merklich verbessert hatte, erließ der IGH am 28. März 2024 erneut auf Antrag Südafrikas eine VM, mit der er seine frühere Anordnung bestätigte. Vor allem konkretisierten die Richterinnen und Richter in Den Haag die Bestimmungen über humanitäre Hilfe durch genaue Hinweise auf Lebensmittel, Wasser, Kleidung wie auch Medikamente und ärztliche Fürsorge. Sie unterstrichen auch die Notwendigkeit, die Grenzübergänge mit voller Kapazität zu nutzen und ihre Zahl zu erhöhen.

IGH: Neue Sachlage erforderte neue Maßnahmen

Angesichts der von Israel Anfang Mai für Rafah angekündigten Großoffensive stellte Südafrika am 10. Mai 2024 erneut einen Antrag auf Erlass einer VM. Damit stellte sich die Frage, ob im Laufe eines Konflikts mehrfach nacheinander einstweilige Anordnungen im gleichen oder ähnlichen Sinne erlassen werden können. Nach der mittlerweile gefestigten Rechtsprechung des IGH sind VM nach Art. 41 seines Statuts trotz des eher uneindeutigen Wortlauts rechtlich verbindlich. In der Geschäftsordnung des IGH ist vorgesehen, dass VM widerrufen oder geändert werden können, falls die Sachlage dies rechtfertigt.

In den Verhandlungen über den Erlass der VM vom 24. Mai 2024 ist streitig geworden, ob tatsächlich eine neue Sachlage, ein "change", eingetreten sei. In Abschnitt 28 seiner Rechtsausführungen schildert der IGH sehr eindringlich, dass die Lage sich seit der Entscheidung vom 26. Januar 2024 erheblich verschlechtert habe; er verwendet dabei das Wort "katastrophal" ("disastrous") und verweist auf die von der israelischen Besatzungsmacht angeordneten ständigen Verschiebungen der palästinensischen Bevölkerung vom Norden in den Süden Gazas. Letzterer war ursprünglich als Schutzzone hingestellt worden, bis auch dort massive Bombenabwürfe stattfanden und neue Zwangsverschiebungen einsetzten. Der israelische Ad-hoc-Richter Aharon Barack wendet sich in seinem Sondervotum gegen diese Bewertung der tatsächlichen Lage, ohne seine Kolleginnen und Kollegen überzeugen zu können. Das Votum der Richter ist eindeutig: 13:2 zu allen Punkten.

Israel bestreitet Völkermord-Absicht

Eine VM ergeht definitionsgemäß in einer Situation der prozessualen Unsicherheit, in der noch nicht definitiv beurteilt werden kann, ob das Rechtsschutzbegehren fundiert ist. Der IGH begnügt sich daher in ständiger Rechtsprechung mit einer Analyse der Plausibilität des gestellten Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz. Israel behauptet seit jeher, dass für eine Absicht auf Begehung von Völkermord keinerlei Beweise vorlägen, sodass dem Antrag nach Art. 41 des IGH-Statuts jegliche Grundlage fehle.

Der IGH begnügt sich mit dem Hinweis auf die eingetretenen massenhaften Todesopfer. Mehrfach beruft er sich auf Auskünfte von amtlichen Stellen der Vereinten Nationen. Generalsekretär António Guterres wird zitiert mit dem Ausspruch über einen "humanitären Albtraum". Der Beauftragte für das Palästina-Hilfswerk, Philippe Lazzarini, wird angeführt mit der Aussage, dass die vertriebenen Palästinenser in ein Landstück ohne jegliche Infrastruktur, ohne Wasserzufuhr und hygienische Einrichtungen eingewiesen worden seien.

Israel bestreitet diese Tatsachen und beanstandet diese Art der Beweisführung auf der Grundlage ungeprüfter Behauptungen. Angesichts der Menge und der Schwere des Verlusts menschlichen Lebens schloss das Gericht, dass jedenfalls die Annahme einer Völkermord-Absicht zumindest plausibel sei.

IGH-Votum zu Rafah nicht eindeutig

Die Kernbestimmung über die Beendigung des Militäreinsatzes in Gaza, § 57 (2) (a) des Tenors, ist in hohem Maße ambivalent. Einerseits lässt sie sich als eine Anordnung lesen, die jede militärische Offensive ohne Wenn und Aber verbietet, verbunden lediglich mit dem Hinweis, dass aus jedem militärischen Handeln ein Akt des Völkermords erwachsen kann. Man kann die Aussage des Gerichts aber auch dahin deuten, dass militärisches Vorgehen lediglich insoweit verboten sein soll, als es geeignet ist, Akte von Völkermord zu begünstigen. Profunde Kenner der englischen Sprache mögen sich darüber streiten, welcher Lesart der Vorzug zu geben ist. Dem Gericht kann die ambivalente Alternativität nicht unbekannt geblieben sein. Fest steht jedenfalls, dass die zweite Lesart Israel begünstigt, da dann für ein Verbot stets der Nachweis geführt werden müsste, dass ein bestimmtes Handeln tatsächlich schadensverursachend im Hinblick auf die Rechte aus der VMK wirkt. Ad-hoc-Richter Barak hat sich in seinem Sondervotum diese zweite Lesart zu eigen gemacht.

An die Grenzen seines durch Art. IX VMK und Art. 41 des IGH-Statuts umrissenen Mandats gelangt der IGH mit den Bestimmungen im operativen Teil der Entscheidung vom 24. Mai 2024. Er gibt Israel auf, jeder von einem zuständigen Organ der Vereinen Nationen bestellten Institution zur Untersuchung von Völkermord den Zugang zum Gaza-Streifen zu eröffnen. Die Forderung entspricht immerhin einer Tendenz im modernen Völkerrecht der multilateralen Kooperation. Durch Nichtachtung von vorliegenden Entscheidungen des Sicherheitsrates würde Israel sich selbst in hohem Maße schädigen.

Redaktion beck-aktuell, Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Christian Tomuschat ist emeritierter Professor für öffentliches Recht, Völker- und Europarecht an der Humboldt-Universität zu Berlin, 27. Mai 2024.