Lückenhafte Beweiswürdigung – Revision erfolgreich

In einem Fall, in dem eine Altenpflegerin versehentlich Medikamente vertauschte und anschließend keinen Arzt holte, ist die Verurteilung wegen versuchten Mordes nicht tragfähig. Erkennt ein Strafgericht nicht, dass Umstände gegen einen Tötungsvorsatz sprechen oder dass mehrere Tatmotive in Betracht kommen, ist sein Urteil aufzuheben. Dies ergibt sich aus einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 19.08.2020.

Nach Medikamentenverwechslung keinen Arzt geholt

Eine staatlich geprüfte Altenpflegerin verwechselte die Medikamente zweier Patienten. Als ihr der Fehler auffiel, war es bereits zu spät: Ein Palliativpatient in der "Terminalphase" hatte einen Blutdrucksenker eingenommen, der zusammen mit seiner regulären Medikation geeignet war, tödlich zu wirken. Der Kranke hatte bereits vor seinem Aufenthalt in der Einrichtung eine Patientenverfügung erstellt, wonach er nur noch eine palliativmedizinische Behandlung wünschte. Die Pflegerin holte keinen Arzt, sondern unterrichtete nur ihren Kollegen der nächsten Schicht und bat darum, den Gesundheitszustand des Kranken zu überwachen. Sie hatte einerseits Angst vor den Konsequenzen, äußerte jedoch auch, der Schwerkranke möge endlich sterben können. Einige Tage später starb der Mann und wurde ohne Obduktion verbrannt, sodass es nicht möglich war, die Todesursache zu klären. Das Landgericht Landshut verurteilte sie zu zwei Jahren und neun Monaten Freiheitsstrafe wegen versuchten Mordes durch Unterlassen zur Verdeckung der fahrlässigen Körperverletzung. Die Pflegerin legte gegen das Urteil Revision zum BGH ein – mit Erfolg.

Bedingter Tötungsvorsatz fraglich

Dem BGH zufolge ist es schon bedenklich, hier bedingten Vorsatz anzunehmen, da die Altenpflegerin ihren Kollegen einweihte und ausdrücklich darum bat, den Patienten verstärkt zu beobachten. Gerade der Umstand, dass sie einen weiteren Mitwisser geschaffen habe, stehe dieser Bewertung entgegen. Hinzu komme, dass der Tod des Kranken gar nicht notwendig dafür gewesen sei, ihren Fehler zu kaschieren.

Motivbündel nicht erkannt

Die Beweiswürdigung hinsichtlich des Tatentschlusses sei außerdem lückenhaft, befand der 1. Strafsenat: Das Motiv, der kranke Mann möge von seinen Schmerzen erlöst werden, habe das LG nicht berücksichtigt. Auch im Hinblick auf die Patientenverfügung sei dieses Motiv in die Beweiswürdigung einzustellen gewesen. Da die Altenpflegerin damit aus zwei Gründen keine ärztliche Hilfe herbeischaffte, hätte das Tatgericht feststellen müssen, welches der beiden Motive die Triebfeder für ihr Nichthandeln war. Der BGH hob das Urteil auf und verwies die Sache an eine andere Kammer des LG zurück. Er wies darauf hin, dass der Sterbewunsch des Patienten nur dann berücksichtigt werden könne, wenn er noch in der Lage gewesen war, seinen Willen selbst zu bilden. Insoweit seien noch Feststellungen zu treffen.

Auseinandersetzung mit 5. Strafsenat

Der 1. Strafsenat ergriff in einem obiter dictum die Gelegenheit, sich mit dem Urteil des 5. Strafsenats in dem sogenannten Göttinger Organspende-Fall zu beschäftigen: Darin hatte dieser verlangt, dass dem Täter bewusst sein müsse, dass bei einem hypothetischen Verlauf des Eingreifens der Rettungserfolg mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit eintreten würde. Diese Forderung stelle eine grundlegende Abkehr von der bisher geltenden Dogmatik dar, wonach der Täter den Eintritt des Todes lediglich für möglich halten muss. Der 5. Strafsenat habe im dortigen Urteil Fragen des Vorsatzes mit Fragen des Beweismaßes für die Feststellung der – dem objektiven Tatbestand zuzuordnenden – hypothetischen Kausalität vermischt.

BGH, Urteil vom 19.08.2020 - 1 StR 474/19

Redaktion beck-aktuell, 2. Dezember 2020.