BSG: Keine Berücksichtigung der Kindererziehung bei der Bemessung der Beiträge zur gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung

SGB V §§ 223, 226, 241; SGB VI §§ 156, 161, 162; GG Art. 3, 6

In der gesetzlichen Renten- und der gesetzlichen Krankenversicherung sind die durch die Kindererziehung entstehenden Nachteile systemgerecht durch familienfördernde Elemente berücksichtigt, so dass die unterschiedslose Beitragsberechnung für Personen mit oder ohne Kinder weder gegen Art. 3 GG noch gegen Art. 6 GG verstößt. (Leitsatz des Verfassers)

BSG, Beschluss vom 10.10.2017 - B 12 KR 119/16 B, BeckRS 2017, 133154

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 01/2018 vom 19.01.2018

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Sachverhalt

Die 1962 geborene Klägerin ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Sie ist Mutter von zwei 2001 und 2003 geborenen Kindern und begehrt von der Beklagten als Einzugsstelle eine „verfassungskonforme“ Beitragsreduzierung der Beiträge zur gesetzlichen Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung. Die Beklagte hat mit angefochtenem Bescheid die jeweilige Beitragshöhe festgelegt und ausgeführt, dass nach den gesetzlichen Vorgaben die Beiträge nicht abgesenkt werden dürften.

Widerspruch, Klage und Berufung der Klägerin hatten keinen Erfolg. Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil. Es seien Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung zu klären, nämlich inwieweit die (Nicht-) Berücksichtigung der Kindererziehung in Bezug auf die Beiträge zur gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung verfassungskonform sei. Das Bundesverfassungsgericht habe mit Urteil vom 03.04.2001 (BVerfGE 103, 197) Maßstäbe (vor allem den „Drei-Generationen-Vertrag“) für die Beitragsberechnung in allen Bereichen der Sozialversicherung aufgestellt und den Gesetzgeber unmissverständlich angewiesen, entsprechende Reformgesetze zu erlassen. Dazu nehmen die Beschwerdeführer auch Bezug auf die im Internet veröffentlichten Verfassungsbeschwerden vom 14.12.2015 im Verfahren 1 BvR 3135/15.

Entscheidung

Das BSG weist die Beschwerde als unbegründet zurück. Der Senat hat wiederholt festgestellt, dass die Vorschriften über die Beitragserhebung in der gesetzlichen Renten- und Pflegeversicherung verfassungsgemäß sind. In seinen Urteilen vom 30.09.2015 hat er darüber hinaus zur gesetzlichen Krankenversicherung festgestellt, dass auch dort die Vorschriften über die Beitragserhebung gemessen an dem Prüfungsmaßstab von Art. 3 und 6 GG nicht verfassungswidrig sind. Aus dem Verfassungsauftrag, gem. Art. 6 GG einen wirksamen Familienlastenausgleich zu schaffen, lassen sich konkrete Folgerungen für die einzelnen Rechtsgebiete und Teilsysteme, in denen der Familienlastenausgleich zu verwirklichen ist, nicht ableiten.

Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG liegt nicht vor. Der Gesetzgeber hat die Grenzen seiner Gestaltungsfreiheit gewahrt, weil er die durch die Kindererziehung entstehenden Nachteile systemgerecht bereits im Leistungsrecht der GRV durch familienfördernde Elemente (insbesondere Kindererziehungszeiten, Zuschlag für Zeiten der Kindererziehung bei Witwen- und Witwerrenten) ausgeglichen hat. Auf den Ausgleich eines „externen Effektes“ eines Kindes für die GRV kommt es dabei nicht an. Überdies sind ein in der Betreuung und Erziehung von Kindern liegender „Beitrag“ und der monetäre Beitrag in der GRV weder gleichartig noch gleichwertig. Ein sachlicher Grund für die Nichtberücksichtigung der Kindererziehungsleistung im Beitragsrecht der GRV liegt weiterhin darin, dass sich der Ausgleich des Aufwands für Kinder als Teil der allgemeinen Rahmenbedingungen der GRV darstellt.

 

In der gesetzlichen Krankenversicherung hat der Gesetzgeber die Grenzen seiner Gestaltungsfreiheit eingehalten. Das Recht der GKV enthält in erheblichem Umfang familienfördernde Elemente, die durch Kinderbetreuung und -erziehung entstehenden Nachteile werden systemgerecht bereits im Beitrags- bzw. Leistungsrecht der GKV berücksichtigt. Hier verweist der Senat nicht nur auf die Familienversicherung, sondern auch auf die Leistungen bei Mutterschaft. In der sozialen Pflegeversicherung hat der Gesetzgeber mit der Neuregelung des § 55 Abs. 3 Satz 1 SGB XI den Vorgaben des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 03.04.2001 unter verfassungsrechtlichem Blickwinkel hinreichend Rechnung getragen.

Praxishinweis

1. Gegen die Leitentscheidungen vom 30.09.2015 (NZS 2016, 391 und FD-SozVR 2016, 378028 m. Anm. Lutz) sind Verfassungsbeschwerden eingelegt worden, so dass die Diskussion dort weitergeführt wird. In der Literatur werden diese Entscheidungen unterschiedlich bewertet, vgl. zum Beispiel Lenze SGb 2017, 130; Seiler NZS 2016, 641, Ruland NZS 2016, 361.

2. Im vorliegenden Fall hatte die Klägerin auch gerügt, es hätte die Bundesbank gem. § 75 Abs. 2 SGG notwendig beigeladen werden müssen, weil diese „Adressat, der über die Zwangsbeiträge erhobenen Mittel“ des Pflegevorsorgefonds sei. Jede gerichtliche Entscheidung über die Verfassungskonformität der an ihn abzuführenden Beiträge könne nur einheitlich ergehen. Das BSG verneint die Pflicht zur Beiladung nach § 75 Abs. 2 SGG. Der Pflegevorsorgefond, der gem. § 134 Abs. 1 SGB XI durch die Bundesbank verwaltet wird, habe keine unmittelbaren Auswirkungen auf die von der Klägerin angegriffene Beitragsbemessung und -festsetzung.

3. Mit Urteil vom 20.07.2017 (BeckRS 2017, 133568) hat das BSG Beitragsbescheide zum gleichen Thema aus formellen Gründen aufgehoben. Diese Entscheidung zeigt, wie kompliziert es ist, über die materiell-rechtliche Seite der Beitragsberechnung eine sozialgerichtliche Entscheidung zu erstreiten.

Redaktion beck-aktuell, 19. Januar 2018.