Urteil des polnischen Verfassungsgerichts sorgt für Wirbel
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© NurPhoto / Beata Zawrzel

Das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts, dass Bestandteile des EU-Rechts gegen die Verfassung des Landes verstoßen, hat den Konflikt mit der EU verstärkt. Die Entscheidung stieß in den folgenden Tagen nicht nur in Brüssel auf scharfe Kritik. Politik und Verbände forderten eine Umsetzung des Anfang des Jahres in Kraft getretenen Rechtsstaatsmechanismus. Wir geben einen Überblick über die wichtigsten Reaktionen auf das besagte Urteil.

Polen: EU-Recht steht nicht über nationalem Verfassungsrecht

Was hat Vorrang - nationales Recht oder EU-Recht? Letzte Woche hat Polens Verfassungsgericht diese brisante Frage endlich entschieden und Teile des EU-Rechts für mit der polnischen Verfassung unvereinbar erklärt. Der Versuch des Europäischen Gerichtshofs, sich in das polnische Justizwesen einzumischen, verstoße gegen die Regel des Vorrangs der Verfassung und gegen die Souveränität Polens. Der EuGH hatte im März dieses Jahres festgestellt, dass EU-Recht Mitgliedstaaten zwingen kann, einzelne Vorschriften im nationalen Recht außer Acht zu lassen, selbst wenn es sich um Verfassungsrecht handelt. Konkret befürchteten die EU-Richterinnen und Richter, dass das Verfahren zur Besetzung des Obersten Gerichts in Polen gegen EU-Recht verstoßen könnte. Dies hätte zur Folge, dass der EuGH Polen zwingen könnte, Teile der umstrittenen Reform aufzuheben. Daraufhin hatte Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki das polnische Verfassungsgericht gebeten, die EuGH-Entscheidung zu überprüfen. Das Urteil hierzu fiel vergangenen Donnerstag.

BVerfG-Präsident sorgt sich um EU

Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth, drückt - wohl auch anlässlich der Entscheidung - seine Sorgen um die Entwicklung in der Europäischen Union aus. "Der unaufhaltsame Siegeszug, den die freiheitliche Demokratie nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989/90 anzutreten schien, ist in den vergangenen Jahren leider zu einem vorläufigen Stillstand gekommen", sagte er den "Badischen Neuesten Nachrichten" am Montag. Manche sehnten sich nach autoritären Herrschaftssystemen. Deshalb seien alle aufgerufen, die Freiheit zu verteidigen. "Freiheit ist nicht denkbar ohne unabhängige Gerichte", fügte Harbarth hinzu, ohne jedoch die Situation in Polen direkt anzusprechen.

Deutschland und Frankreich erinnern an Bedeutung einer EU-Mitgliedschaft

Die Außenminister Deutschlands und Frankreichs verlangten von Polen die Einhaltung der EU-Regeln. Die Mitgliedschaft zur EU gehe "mit der vollständigen und uneingeschränkten Zugehörigkeit zu gemeinsamen Werten und Regeln" einher, teilten Heiko Maas (SPD) und Jean-Yves Le Drian in einer gemeinsamen Erklärung mit. "Der Respekt und Einhaltung für diese muss von jedem Mitgliedstaat erbracht werden, das gilt selbstverständlich auch für Polen, das einen ganz zentralen Platz innerhalb der EU hat."

Politik und Verbände fordern Sanktionen

Die Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Katarina Barley, forderte gegenüber der Zeitung "Welt am Sonntag" finanzielle Konsequenzen für Polen. "Die polnische Regierung lässt sich von ihrem politisch besetzten Verfassungsgericht bescheinigen, dass sie sich künftig nicht mehr an europäisches Recht halten muss", sagte die SPD-Politikerin. Die Europäische Kommission dürfe der polnischen Regierungspartei PiS "diesen Dammbruch nicht durchgehen lassen". "Sie darf keine europäischen Corona-Milliarden nach Warschau geben und muss auch sonstige Fördergelder sperren."

Von der Leyen kündigt weitere Schritte an

Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, erklärte ihrerseits, sie habe die Dienststellen der Kommission angewiesen, das Urteil gründlich und zügig zu analysieren. Auf dieser Grundlage werde man über die nächsten Schritte entscheiden. "Das EU-Recht hat Vorrang vor nationalem Recht, einschließlich verfassungsrechtlicher Bestimmungen. Diesem Grundsatz haben sich alle EU-Mitgliedstaaten als Mitglieder der Europäischen Union verschrieben. Wir werden von allen Befugnissen, die uns die Verträge verleihen, Gebrauch machen, um diesem Grundsatz Geltung zu verschaffen." Konkret dürfte damit wohl die Anwendung des Rechts­staat­lich­keits­me­cha­nismus gemeint sein. Der Mechanismus trat Anfang des Jahres nach langer und kontroverser Debatte als Reaktion auf die antidemokratischen Entwicklungen in Ungarn und zuletzt auch in Polen in Kraft. Die Regelung soll dazu dienen, Mitgliedstaaten zu sanktionieren, wenn sie von den Grundwerten der Europäischen Union und von Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit abweichen. Konkret könnte das bedeuten, dass EU-Gelder gekürzt werden. Dabei geht es um hohe Summen: Aus dem regulären EU-Haushalt erhielt Polen zuletzt netto rund 12,4 Milliarden Euro pro Jahr. Zudem rechnet Polen mit rund 23,9 Milliarden Euro an Corona-Hilfen. Ob, wann und wie der EU-Rechtsstaatsmechanismus angewendet werden kann, ist derzeit aber noch unklar.

Vehandlungsauftakt vor dem EuGH

Polen und Ungarn haben gegenüber den anderen Staats- und Regierungschefs darauf bestanden, dass der Mechanismus erst einmal vom EuGH überprüft und erst nach einem Urteil angewendet wird. Beide Länder argumentieren, dass der sogenannte Konditionalitätsmechanismus nicht mit dem geltenden EU-Recht vereinbar sei. So dürfen aus polnischer Sicht für die Vergabe von Geld aus dem EU-Haushalt einzig "objektive und konkrete Bedingungen" gelten. Die EU habe keine Befugnis, den Begriff "Rechtsstaat" zu definieren, heißt es aus Warschau. Die mündliche Verhandlung hierzu beginnt heute Nachmittag, eine Entscheidung wird erst in Monaten erwartet. Möglicherweise wird die EU-Kommission aber doch schon vor dem Urteil erste Verfahren für Mittelkürzungen einleiten. Denn das Europaparlament macht hier ordentlich Druck. Eine Mehrheit der Abgeordneten sieht den Deal der Staats- und Regierungschefs als nicht bindend für die Kommission an und droht sogar mit einer Untätigkeitsklage gegen die Behörde, wenn sie nicht zügig handelt.

Tausende Menschen protestieren in Polen

In Polen gingen am Sonntag zahlreiche Menschen gegen das Urteil ihres Verfassungsgerichts und für eine Zukunft ihres Landes in der EU auf die Straßen. Zu den Protesten aufgerufen hatte der ehemalige EU-Ratspräsident und polnische Oppositionsführer Donald Tusk. "Der Platz Polens ist in Europa", sagte Tusk vor den Demonstranten in Warschau und kritisierte die Regierung. Die nationalkonservative Regierungspartei PiS rede schon nicht mehr drumherum, dass sie das Land aus der EU führen wolle. In Danzig sprach am Sonntagabend der Friedensnobelpreisträger und einstige polnische Präsident Lech Walesa zu den Demonstranten. "Die Menschen, die heute den Staat führen, sind ein großes Unglück für Polen", sagte der frühere Chef der Gewerkschaft Solidarnosc. Kein Feind, der Polen je regiert habe, habe die Menschen im Land derart gespalten wie die PiS. Nach einer aktuellen Umfrage sehen gut 88% der Polen die Mitgliedschaft ihres Landes in der Staatengemeinschaft positiv, nur gut 9% bewerten sie negativ.

Morawiecki: Polen bleibt in der EU

Der polnische Ministerpräsident Morawiecki hat unterdessen den Willen beteuert, weiterhin Teil der EU zu bleiben. "Polens Platz ist und bleibt in der europäischen Völkerfamilie", schrieb er am Freitag auf Facebook. Morawiecki verwies darauf, dass das Urteil das bestätigt habe, was sich aus der Verfassung ergebe: Dass das polnische Verfassungsrecht anderen Rechtsquellen überlegen sei. Das hätten in den vergangenen Jahren auch die Verfassungsgerichte anderer Mitgliedsstaaten bestätigt. "Wir haben die gleichen Rechte wie andere Länder", schrieb Morawiecki. "Wir wollen, dass diese Rechte respektiert werden". Polen sei kein ungebetener Gast in der EU und nicht damit einverstanden, als Land zweiter Klasse behandelt zu werden.

Politikwissenschaftler Buras: Die PiS-Regierung stellt die europäische Rechtsordnung in Frage

Der Politikwissenschaftler und Leiter des European Council on Foreign Relations, Piotr Buras, sprach mit dem "ZDF" über mögliche Folgen des Urteils. Seiner Ansicht nach verfolgt die polnische Regierung tatsächlich nicht in erster Linie den "Polexit", sondern will die EU von innen heraus verändern, die europäische Rechtsordnung in Frage stellen. "Die polnische Regierung will die Fördermilliarden der EU haben, und vor allem will sie ihre Macht konsolidieren. Die polnische Justizreform, die das Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit außer Kraft gesetzt hat, ist ein Herzstück dieser Machtkonsolidierung, die im Endeffekt zu einer Autokratisierung des polnischen Systems führt. Das ist das Ziel der polnischen Regierung, nicht der EU-Austritt. Wobei sich dann die Frage stellt: Kann ein autokratisches Regime in der EU Platz haben?", so Buras.

DAV und DRB: Keine Kompromisse beim Rechtsstaatsprinzip

Der Deutsche Anwaltverein (DAV) und der Deutsche Richterbund (DRB) haben hier eine eindeutige Antwort: Der Rechtsstaat ist nicht verhandelbar. "Die Pflicht, wirksamen und unabhängigen Rechts­schutz zu schaffen, ist eine Ausprägung des Rechts­staats­prinzips", sagte DAV-Hauptgeschäftsführerin Sylvia Ruge. Polen habe den Rechtsstaat durch seine Justiz­re­formen immer weiter ausgehöhlt. Diesem Prinzip nun auf europäischer Ebene formell eine Absage zu erteilen, habe eine neue Qualität. Die DRB-Vorsitzenden Barbara Stockinger und Joachim Lüblinghoff sagten: "Polen wurde 2003 freiwillig Mitglied der Europäischen Union. Grundlage der EU ist das Prinzip der Gewaltenteilung, das unabhängige Gerichte voraussetzt. Nichts weniger als das stellt Polen in Frage." Denn unabhängig von der Regierung sei das polnische Verfassungsgericht gerade nicht. "Wer das gemeinsame Wertef­un­dament der EU derart in Abrede stellt, muss mit Konsequenzen rechnen. Die EU hat mit dem Rechts­staat­lich­keits­me­cha­nismus eine Sanktio­nie­rungs­mög­lichkeit an der Hand, die sie nun nutzen muss.", forderte Ruge.

Redaktion beck-aktuell, 11. Oktober 2021 (ergänzt durch Material der dpa).