Was hat Vorrang - nationales Recht oder EU-Recht?
Immer wieder hatte Polens Verfassungsgericht seine Entscheidung zu der brisanten Frage vertagt: Was hat Vorrang - nationales Recht oder EU-Recht? Am Donnerstag ließen die Richterinnen und Richter die Katze aus dem Sack: Teile des EU-Rechts seien nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar, urteilten sie. Der Versuch des Europäischen Gerichtshofs, sich in das polnische Justizwesen einzumischen, verstoße gegen die Regel des Vorrangs der Verfassung und gegen die Regel, dass die Souveränität im Prozess der europäischen Integration bewahrt bleibe, heißt es in der Entscheidung.
EU-Kommission kündigt rasche Reaktion an
Die EU-Kommission stellte sogleich klar, dass man an den Grundprinzipien der europäischen Rechtsordnung festhalte: EU-Recht habe Vorrang vor nationalem Recht. Alle Urteile des Europäischen Gerichtshofs seien für die Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten bindend. Man werde das Urteil nun im Detail analysieren und dann über weitere Schritte entscheiden. "Die Kommission wird nicht zögern, von ihren Befugnissen gemäß der Verträge Gebrauch zu machen und eine einheitliche Anwendung und die Integrität des EU-Rechts zu gewährleisten." Welche Reaktion das konkret sein könnte, ließ auch EU-Justizkommissar Didier Reynders bei einer Pressekonferenz in Brüssel offen. Er stellte jedoch in Aussicht, dass sie schnell kommen könnte - binnen Tagen oder Wochen.
Europäische Politikerinnen und Politiker fordern Konsequenzen
Andere Politikerinnen und Politiker wurden deutlicher: "Das Urteil hat historische Ausmaße", sagte die Vize-Präsidentin des Europaparlaments, Katarina Barley (SPD). Polen könne sich damit nach Belieben von den gemeinsam vereinbarten europäischen Regeln verabschieden. Entsetzt zeigte sich auch der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn. "Das Urteil macht die Grundidee der europäischen Integration kaputt", sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Es dürfe kein EU-Geld mehr in Länder fließen, die aus der europäischen Rechtsordnung ausscheren. Tatsächlich könnte die EU-Kommission nach dem Urteil ein neues Verfahren zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit in den EU-Staaten auf den Weg bringen, das zur Kürzung der EU-Mittel für Polen führen könnte. Auch milliardenschwere EU-Corona-Hilfen für Polen sind wegen Rechtsstaatlichkeitsbedenken bislang nicht freigeben. Konsequenzen forderte auch der EU-Parlamentspräsident David Sassoli. Das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts dürfe nicht ohne Folgen bleiben, schrieb er auf Twitter - und forderte die EU-Kommission auf, "die nötigen Schritte" einzuleiten.
EuGH: EU-Recht steht auch über nationalem Verfassungsrecht
In dem Verfahren vor dem polnischen Verfassungsgericht ging es konkret darum, ob Bestimmungen aus den EU-Verträgen, mit denen die EU-Kommission ihr Mitspracherecht bei Fragen der Rechtsstaatlichkeit begründet, mit der polnischen Verfassung vereinbar sind. Regierungschef Mateusz Morawiecki hatte das Gericht gebeten, ein Urteil des EuGH vom 02.03.2021 zu überprüfen. In dem Urteil hatten die obersten EU-Richterinnen und -Richter festgestellt, dass EU-Recht Mitgliedstaaten zwingen kann, einzelne Vorschriften im nationalen Recht außer acht zu lassen, selbst wenn es sich um Verfassungsrecht handelt. Laut EuGH könnte das Verfahren zur Besetzung des Obersten Gerichts in Polen gegen EU-Recht verstoßen. Dies würde bedeuten, dass der EuGH Polen zwingen könnte, Teile der umstrittenen Justizreform aufzuheben.
Bereits mehrere Vertragsverletzungsverfahren und Klagen gegen Polen auf den Weg gebracht
Polens nationalkonservative PiS-Regierung baut das Justizwesen seit Jahren um. Kritikerinnen und Kritiker werfen ihr vor, die Richterschaft unter Druck zu setzen. Die EU-Kommission hat wegen der Reformen bereits mehrere Vertragsverletzungsverfahren gegen Warschau eröffnet und Klagen beim EuGH eingereicht. Unter anderem hat die Brüsseler Behörde auch Zweifel an der Unabhängigkeit des polnischen Verfassungsgerichts, welches nun das Urteil fällte. Vorsitzende ist Julia Przylebska, eine enge Vertraute von PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski. "Die Organe der EU handeln außerhalb der Grenzen der Kompetenz, die ihnen von Polen zuerkannt wird", sagte Przylebska bei der Urteilsverkündung.
Nach der Urteilsverkündung: PiS-Regierung triumphiert - Opposition warnt vor "Polexit"
Der PiS-Vorsitzende und polnische Vize-Regierungschef Kaczynski triumphierte nach der Urteilsverkündung: Die EU habe in Sachen Justizwesen "nichts zu sagen" und in bestimmten Sphären eben nicht das Recht, sich einzumischen. "Die Priorität des Verfassungsrechts über anderen gesetzlichen Quellen ergibt sich buchstäblich aus der Verfassung Polens", schrieb Regierungssprecher Piotr Müller auf Twitter. Vertreter der polnischen Opposition werteten das Urteil als Zeichen dafür, dass die PiS Polen aus der EU führen will. "Die Nicht-Anerkennung von EuGH-Urteilen ist de facto der Weg zum Polexit", schrieb Borys Budka vom liberalkonservativen Oppositionsbündnis Bürgerkoalition. Polen könne EU-Hilfen im Umfang von Milliarden verlieren, befürchtete Budka. Der ehemalige EU-Ratspräsident und polnische Oppositionsführer Donald Tusk hat auf Twitter zu Protesten gegen das Urteil seines Landes aufgerufen.
DRB: Polen stellt Gewaltenteilung in Frage
Die Entscheidung gefährdet aus Sicht des Deutschen Richterbundes (DRB) die Grundlagen der Europäischen Union. "Diese Entscheidung legt die Axt an die Säulen, auf denen die Europäische Union ruht", sagten die DRB-Vorsitzenden Barbara Stockinger und Joachim Lüblinghoff am Freitag in Berlin. "Polen wurde 2003 freiwillig Mitglied der Europäischen Union. Grundlage der EU ist das Prinzip der Gewaltenteilung, das unabhängige Gerichte voraussetzt. Nichts weniger als das stellt Polen in Frage. Denn unabhängig von der Regierung ist das polnische Verfassungsgericht gerade nicht", sagte Stockinger. "Die polnische Richtervereinigung IUSTITIA wurde nicht ohne Grund für den Friedensnobelpreis nominiert. Sie kämpft seit Jahren für den Grundsatz der Gewaltenteilung. Wir alle sind aufgerufen, fest an der Seite der polnischen Kolleginnen und Kollegen zu stehen", sagte Lüblinghoff. Der DRB forderte die Organe der Europäischen Union und die Bundesrepublik Deutschland auf, beim Rechtsstaatsprinzip kompromisslos zu sein. Wer das nicht sei, verspiele die Zukunft der Europäischen Union als Raum für Frieden, Freiheit und Sicherheit.