IStGH-Chefankläger Karim Khan wird gewusst haben, welch brisante Entscheidung er da traf: Der Antrag auf Erlass eines Haftbefehls gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu hat ein kleines Beben ausgelöst, vor allem aufgrund einer vermeintlichen Gleichsetzung mit drei Hamas-Anführern, gegen die Khan gleichzeitig Haftbefehle beantragte. Doch abseits dessen und der politisch brisanten Frage, wie es aussehen würde, wenn ein israelischer Regierungschef auf deutschem Boden verhaftet würde, ist nun auch eine rechtliche Diskussion entbrannt. Müsste – oder dürfte – Deutschland einem etwaigen Haftbefehl überhaupt Folge leisten? Am Mittwoch erschien in der FAZ ein Artikel, in dem der Wiesbadener Staatsrechtler Matthias Friehe argumentiert, die Immunität, die Netanjahu als Regierungschef genieße, schütze ihn vor einer Verhaftung und Auslieferung durch die Bundesrepublik Deutschland.
Der IStGH, soviel kann man sagen, hat keine allumfassende Zuständigkeit. Seine Kompetenz ist dem Grunde nach auf die Vertragsstaaten beschränkt, die das Statut des Gerichtshofs (Römisches Statut) ratifiziert haben. Dieses gilt als völkerrechtlicher Vertrag nur inter partes, also zwischen den Unterzeichnerstaaten, und Israel hat das Römische Statut nicht unterzeichnet. Das Argument der Immunität hat daher durchaus Schlagkraft, auch weil sie ein hohes Gut im Völkerstrafrecht ist. Sie spiegelt schließlich die Souveränität jedes Staates wider und stellt sicher, dass auch bei schlechten Beziehungen zwischen Staaten ohne Sorge vor einer Verhaftung verhandelt werden kann.
Doch andererseits: Was wäre von der ohnehin begrenzten Schlagkraft des Völkerrechts noch übrig, wenn die Mächtigsten sich der Verantwortung entziehen könnten? In dieser Frage hilft es auch nicht, dass die israelische Generalstaatsanwältin angekündigt hat, etwaiges Fehlverhalten ihres Ministerpräsidenten im Zweifelsfall selbst untersuchen zu wollen.
"Seit den Nürnberger Prozessen anerkannt"
Die rechtlichen Fakten werden vor allem durch das Römische Statut vorgegeben. Nach Art. 27 gilt die Zuständigkeit des IStGH "ohne jeden Unterschied nach amtlicher Eigenschaft", also auch für einen amtierenden Staats- oder Regierungschef. Dies gilt jedoch eben nur zwischen den Parteien des Statuts.
Art. 98 sieht dagegen explizit vor, dass der IStGH kein Überstellungsersuchen stellen darf, das vom ersuchten Staat verlangen würde, die völkerrechtliche Immunität einer Person zu verletzen. Es gilt also, zwischen der Frage, wen der IStGH verfolgen darf, und der Umsetzung seines Haftbefehls durch einen Nationalstaat zu unterscheiden. Doch hier liegt das Problem: Der Gerichtshof hat keine eigene Polizei, die er mit der Durchsetzung beauftragen könnte – er ist auf die Hilfe der Vertragsstaaten angewiesen.
Stefanie Bock, Professorin für Internationales Strafrecht an der Universität Marburg, hält es daher für rechtlich geboten, einen möglichen Haftbefehl gegen Netanjahu umzusetzen: "Seit den Nürnberger Prozessen ist allgemein anerkannt, dass die Immunität von Staatsoberhäuptern vor internationalen Tribunalen unbeachtlich ist", erklärt Bock im Gespräch mit beck-aktuell. Völkergewohnheitsrechtlich sei damit anerkannt, dass auch ein Regierungschef eines Nicht-Vertragsstaates durch den IStGH verfolgt werden könne.
Sind Putin und Netanjahu gleich zu behandeln?
Der IStGH darf also verfolgen, doch darf Deutschland einen verfolgten Regierungschef auch verhaften? Da müsse man unterscheiden, betont Bock, doch habe der IStGH bereits mehrfach klargestellt, dass Art. 98 Abs. 1 Römisches Statut dem nicht entgegenstehe. So hat der Gerichtshof auch im Fall des russischen Präsidenten Wladimir Putin einen Haftbefehl erlassen.
Auch, wenn es viele Gründe gibt, den israelischen Ministerpräsidenten und den russischen Präsidenten nicht auf dieselbe Stufe zu stellen, liegen beide Fälle rechtlich gesehen gleich. Somit müsse man konsequent sein, meint Bock: "Wenn die Bundesregierung sich im Fall Putin auf den Standpunkt stellt, dass die absolute Immunität unbeachtlich ist, und eine Kooperationspflicht und damit sogar eine Pflicht zur Festnahme von Putin besteht, dann kann unter diesem Gesichtspunkt im Fall Netanjahu nichts anderes gelten."
In diesem Punkt teilt auch Christian Richter, Rechtsanwalt und wissenschaftlicher Referent für Staatsrecht und Völkerrecht am German Institute for Defence and Strategic Studies in Hamburg, Bocks Auffassung. Doch im Gegensatz zur Marburger Strafrechtlerin sieht er hier schon kein Völkergewohnheitsrecht, das dem IStGH das Recht geben würde, Netanjahu oder Putin zu verfolgen. "Es gibt zwei Dinge, die Völkergewohnheitsrecht entstehen lassen", führt Richter aus: "Eine Praxis einer großen Anzahl von Staaten über einen gewissen Zeitraum auf der einen und auf der anderen Seite eine entsprechende opinio iuris, also eine Rechtsmeinung, die von diesen Staaten vertreten wird. Und da fehlt es mir bisher an der Staatenpraxis." Folglich sei ohne Präzedenzfall ein solches Gewohnheitsrecht, wonach auch amtierende Staatschefinnen und -chefs keine absolute Immunität genießen, nicht erkennbar.
Auch Putin dürfte demnach in Deutschland aufgrund eines IStGH-Haftbefehls nicht verhaftet werden, meint Richter. Der Fall des ehemaligen sudanesischen Staatschefs Omar Al-Bashir, gegen den der IStGH in den Jahren 2009 und 2010 Haftbefehle erlassen hatte, taugt aus seiner Sicht gerade nicht als Beleg für eine völkergewohnheitsrechtliche Ausnahme. Die Aufhebung der Immunität Al-Bashirs sei aufgrund einer Resolution des UN-Sicherheitsrates erfolgt, die Rechtslage damit eine ganz andere gewesen.
Ist Palästina Staat genug?
Friehe führt in der FAZ noch ein weiteres Argument an, warum ein Haftbefehl des IStGH seines Erachtens nicht beachtet werden müsste. Der IStGH sei nämlich gar nicht zuständig, da die palästinensische Autonomiebehörde, die das Römische Statut ad hoc ratifiziert hat, kein Staat sei. Stefanie Bock glaubt indes nicht, dass dieser Einwand am Ende durchgreifen könnte: "Wir haben gerade in den letzten Wochen gesehen, dass immer mehr Staaten Palästina als unabhängigen Staat anerkennen. Davon unabhängig hat Palästina schon seit längerem bei den Vereinten Nationen den Status als Beobachterstaat, was eine implizite Anerkennung der Staatlichkeit ist. In diesem Zuge hat Palästina auch das Statut des IStGH ratifiziert."
Als die seinerzeitige Chefanklägerin Fatou Bensouda, die in der Folge Ermittlungen in Palästina aufnehmen wollte, die Vorverfahrenskammer des IStGH zu dessen Zuständigkeit befragte, bejahte die Kammer diese. Eine kluge Entscheidung, findet Bock: "Man hat gesagt, es steht uns als strafrechtliches Gremium gar nicht zu, allgemein über die Staatlichkeit Palästinas zu entscheiden. Wir stellen aber fest, Palästina hat ratifiziert. Diese Ratifizierungsurkunde ist entgegengenommen worden. Palästina ist in den Kreis der Vertragsstaaten aufgenommen worden und damit jedenfalls für die Zwecke des IStGH-Statuts als Vertragsstaat zu behandeln."
Sollte der Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu erlassen werden und er deutschen Boden betreten, würde die Frage, ob er festzusetzen ist, sicherlich nicht nur auf der Ebene des Völkerrechts beantwortet. Die unsichere Rechtslage, in der sich nicht einmal die Rechtsexpertinnen und -experten einig sind, eignet sich aber jedenfalls als Argumentationsgrundlage für alle, die in die eine oder andere Richtung Interessen haben. Wer nun um die Durchsetzung des Völkerrechts fürchtet, mag sich damit trösten: Die Immunität gilt nur für amtierende Staatsrepräsentantinnen und -repräsentanten. Danach wäre eine Verfolgung unstrittig möglich.