In der vergangenen Woche hat die Reformkommission "Zivilprozess der Zukunft" einen 260 Seiten starken Abschlussbericht mit Reformideen für den Zivilprozess veröffentlicht. Die Gruppe aus Expertinnen und Experten war im November 2023 von den Landesjustizministerinnen und -ministern und dem Bundesjustizminister im Rahmen des Bund-Länder-Digitalgipfels beauftragt worden, die digitale Transformation der Justiz zu skizzieren. Sie sollte mögliche Maßnahmen erarbeiten, mit deren Hilfe sich das Prozessrecht verbessern ließe: hin zu einem niedrigschwelligen digitalen Zugang für Bürgerinnen und Bürger, einer digitalen Kommunikation aller Beteiligten und einem effizienten, ressourcenschonenden Verfahren, das von den Werkzeugen der Digitalisierung Gebrauch macht.
Dabei sind die Juristen und Juristinnen in guter Gesellschaft. Erst vor wenigen Wochen ist ein Tagungsband mit ganz ähnlichen Überlegungen erschienen. Die Urheber: die Präsidentinnen und Präsidenten der OLG, des KG, des BayObLG und des BGH. Ebenfalls unter dem Titel "Zivilprozess der Zukunft" hatten sie sich mit Vertreterinnen und Vertretern aus Anwaltschaft und Wissenschaft zusammengesetzt, um Reformen auszuarbeiten. Ein Gegenentwurf? Kaum, denn der Blick in beide Papiere offenbart mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Die justizielle Arbeitsgruppe zeigt sich an einigen Stellen allerdings weniger reformbereit, will aber dafür langfristig dranbleiben.
Parallel, aber unabhängig
Obwohl der identische Name etwas anderes vermuten lässt, sind beide Gruppen grundsätzlich voneinander unabhängig. Als die BMJ-Reformkommission im Juli 2024 ihre Arbeit aufnahm, hatten die OLG-Präsidenten bereits erste Ergebnisse vorzuweisen. Denn schon im Mai 2023 hatten sie bei ihrer Jahrestagung beschlossen, eine Arbeitsgruppe zu schaffen, die sich mit dem Thema befassen sollte. Bei einer Tagung in Düsseldorf im März 2024 leistete diese Gruppe die Vorarbeit für die sogenannten Münchener Thesen zum Zivilprozess der Zukunft, die die OLG-Präsidentinnen und -Präsidenten im Mai verabschiedeten. Als die Reformkommission im Juli 2024 startete, nahm man das bei den OLG-Präsidenten aber keineswegs als Zeichen, die gerade begonnenen Anstrengungen zu beenden. Man beschloss, parallel – und gemeinsam – weiterzudenken. Im November traf sich die Arbeitsgruppe der OLG-Präsidentinnen und Präsidenten noch einmal, um die Münchener Thesen weiter auszuarbeiten und ihren Tagungsband zu verabschieden.
Beide Gruppen nähern sich dem Thema also von unterschiedlichen Seiten: Die Reformkommission, die neben Vertretern u.a. des DAV, des Richterbunds und der BRAK sowie Professorinnen und Professoren vor allem mit Ministerialräten besetzt ist, hat die Justizverwaltung im Blick, schaut aber auch auf die Anwaltschaft und andere Rechtsdienstleister. Die Arbeitsgruppe der OLG-Präsidenten nimmt derweil die richterliche Perspektive ein.
Dennoch gab es auch im Schaffensprozess Überschneidungen – personeller und inhaltlicher Art. Verbände waren in beiden Gremien vertreten, OLG-Vertreterinnen saßen auch in der Reformkommission. So auch die Präsidentin des OLG Celle, Stefanie Otte, die sowohl in der Reformkommission als auch in der Arbeitsgruppe der OLG-Präsidenten dabei war und weiß, dass die Münchener Thesen in das BMJ-Papier eingeflossen sind. "Es ist ein großes Glück, dass es so viele inhaltliche Überschneidungen in den beiden Berichten gibt. Das zeigt, dass weitgehend Einigkeit darüber herrscht, wie der Zivilprozess der Zukunft aussehen muss", kommentierte Otte gegenüber beck-aktuell.
Kommission stellt Leitbild voran
Wie also stellen sich die Expertinnen und Experten den Zivilprozess der Zukunft vor? Die erste Antwort darauf ist offensichtlich: digital. Der Bericht der Reformkommission ist dabei ein Rundumschlag, der ganz verschiedene Bereiche des Zivilverfahrens in den Blick nimmt und nicht bei Reformen der ZPO stehenbleibt. Das Ergebnis ist ein kleinteiliger Vorschläge-Katalog, der von einer Kommunikationsplattform über das digitale Vollstreckungsregister bis hin zur Zweitverwertung von Zeugenaussagen reicht.
Vielleicht gerade weil der Bericht so kleinteilig ist, haben die Kommissionsmitglieder an den Anfang ihrer Überlegungen ein Leitbild gestellt – eine Art Vision dessen, was ein digitaler, zugänglicher und effizienter Zivilprozess in Zukunft leisten muss. Darin spricht die Kommission auch davon, Verfahrensgrundsätze sorgfältig weiterzuentwickeln, KI – im aktuellen rechtlichen Rahmen – einzusetzen und mehr auf bundeseinheitliche Lösungen zu setzen.
Gerade aus der Feder von Ministerialbeamten wirkt das Leitbild insgesamt sehr digitalaffin und vermittelt Aufbruchstimmung. OLG-Präsidentin Otte beschreibt die Stimmung in der Kommission gegenüber beck-aktuell als mitreißend: "Es gibt in allen juristischen Berufsfeldern Menschen, die wirklich etwas verändern wollen. Die sagen: Ja, wir haben Visionen. Und davon waren viele in der Reformkommission versammelt."
Im Zentrum steht die digitale Kommunikation
Viele der Ideen in dem Kommissionspapier sind an sich aber nicht neu. Das Vorhaben etwa, ein reines Online-Verfahren zur Durchsetzung kleiner Zahlungsansprüche zu etablieren, hatte es in der nun endenden Legislaturperiode sogar schon zum Gesetzentwurf gebracht. Auch ein Justizportal, das Bürgerinnen und Bürgern als niedrigschwellige Informationsquelle und kommunikativer Zugang zur Justiz dienen soll, hat das BMJ in Ansätzen schon umgesetzt. Nach dem Willen der Reformkommission – und übrigens auch der OLG-Präsidenten – soll sich dieses Portal künftig zum digitalen Eingangstor der Gerichte mausern, wo Rechtssuchende Anträge bei einer digitalen Rechtsantragsstelle stellen, aber auch Klagen erheben und alle wichtigen Informationen per Chatbot erlangen können.
Ein weiterer – und in beiden Papieren prominent platzierter – Vorschlag war ebenfalls schon Gegenstand zahlreicher Debatten: eine cloudbasierte Kommunikationsplattform, die den elektronischen Rechtsverkehr ersetzt und über die das gesamte Verfahren vor den Zivilgerichten abgewickelt wird. Die Reformkommission entwickelt diesen Vorschlag mit Fokus auf die digitale Kommunikation weiter. Demnach sollen alle Verfahrensdokumente auf der Plattform bereitstehen, perspektivisch sollen sie maschinenlesbar und automatisiert zu bearbeiten sein. Zudem sollen ein Terminierungstool und ein Videokonferenztool integriert werden. Das Empfangsbekenntnis soll wegfallen.
Schließlich sieht der Vorschlag auch eine (aktive) Nutzungspflicht für alle Beteiligten vor. Das gilt nicht nur für das Gericht, die Anwaltschaft und quasi-professionelle Beteiligte wie Sachverständige oder Dolmetscher. Auch die Naturparteien sollen perspektivisch in gewissem Maße zur Nutzung verspflichtet werden. Die Plattform solle aber zunächst im Reallabor getestet werden.
Plattform bedeutet nicht gleich Strukturierung
Die Kommunikationsplattform muss aber nicht notwendigerweise den – sehr umstrittenen – strukturierten Parteivortrag umfassen, also die Pflicht für Parteien, ihre Schriftsätze in eine bestimmte Form zu gießen. Die Reformkommission hält sich mit Strukturvorgaben sehr zurück und betont, das "Modell des digitalen Parteivortrags" entspreche nicht dem strukturierten Parteivortrag. Insbesondere solle es keine Umfangsbeschränkungen oder Gliederungsvorgaben für anwaltliche Schriftsätze geben.
Hier zeigt sich deutlich, dass die Perspektive der Anwaltschaft in den Bericht der Reformkommission eingeflossen ist. In dem Papier der OLG-Präsidentinnen und -präsidenten sieht die Sache nämlich anders aus: Die Richterschaft wünscht sich eine Begrenzung der Schriftsätze, umfassende Strukturvorgaben für die anwaltlichen Schreiben und weniger Fristverlängerungen.
OLG-Präsidenten restriktiver – auch beim KI-Einsatz
Es ist einer von vielen Punkten, in denen die Vorschläge der Reformkommission weit über das hinausgehen, was die OLG-Präsidentinnen und -präsidenten erarbeitet haben. Ein wichtiges Beispiel – und tatsächlich ein relativ neuer Gedanke – ist die Zweitverwertung von Zeugenaussagen in Parallelverfahren durch Ton- und Videoaufzeichnungen. Außerdem finden sich in dem Kommissionspapier Vorschläge für ein digitales Vollstreckungsregister und ein automatisiertes Kostenfestsetzungsverfahren. Das Thema Künstliche Intelligenz – das bei den OLG-Präsidenten gar nicht vorkommt – hat die Kommission ebenfalls beschäftigt. Sie hält den Einsatz von KI als "Richter-Assistent" grundsätzlich für wünschenswert, auch für die Geschäftsstellen.
Viele andere Vorschläge der Kommission finden sich aber so oder so ähnlich auch in dem Tagungsband der OLG-Präsidentinnen und -präsidenten. So wollen beide Gremien das Kammerprinzip stärken und damit den Einzelrichter oder die Einzelrichterin zur Ausnahme machen. Auch schlagen beide eine weitergehende Spezialisierung samt entsprechender Fortbildungspflicht für Richterinnen und Richter vor. Spezialspruchkörper sollen gerichtsverfassungsrechtlich angeordnet, der Spezialgebietskatalog gemäß § 72a Abs. 1 und § 119a Abs. 1 GVG erweitert werden. Dafür solle sich der Gesetzgeber an den Spezialgebieten der Anwaltschaft orientieren. Und: Auf die eine oder andere Art wollen sowohl die Reformkommission als auch die OLG-Präsidentinnen das Verfahren beschleunigen bzw. effektiver gestalten. Während die Kommission mit der Idee aufwartet, auch den Gerichten Fristen für verfahrensfördernde Maßnahmen aufzuerlegen und "schnelle Termine" anzuberaumen, sind die Richterinnen und Richter dabei naturgemäß etwas restriktiver.
Wie geht es weiter?
Nun sind beide Berichte in der Welt und buhlen um die Aufmerksamkeit der Branche und des neuen Gesetzgebers. Der Bericht der Reformkommission ist dafür natürlich bestens platziert: Die Landesjustizministerinnen und -minister werden ihn beim Bund-Länder-Digitalgipfel im Frühjahr diskutieren und dafür sorgen, dass die Vorschläge auf dem Schreibtisch der neuen BMJ-Leitung landen. Auch wenn einige Pläne wie häufig im Justizkontext in den Mühlen des Föderalismus zerrieben werden könnten, stehen die Chancen doch gut, dass jedenfalls diejenigen Projekte relativ schnell auf die Agenda kommen, für die die aktuelle Regierung schon Vorarbeit geleistet hat – etwa das Gesetz zur Entwicklung und Erprobung eines Online-Verfahrens. "Gerade bei den technischen Änderungen – etwa der Kommunikationsplattform – braucht es eine bundeseinheitliche Steuerung", meint Otte. "Der Bund wird zentral Entscheidungen treffen und auch Geld in die Hand nehmen müssen."
Der Reformbedarf bleibt, auch nach einem politischen Wechsel. Doch natürlich hängt hier vieles vom politischen Willen und neuen Mehrheiten ab – auch die Frage, wie viel Bedeutung ein neuer Bundesjustizminister oder -ministerin dem Bericht beimessen wird. Genau an dem Punkt sieht Otte den Einsatz der OLG-Präsidentinnen und -Präsidenten. Die Reformkommission hat ihren Job gemacht und sich nun wieder aufgelöst – die Richterinnen und Richter wollen am Ball bleiben. "Die Gerichte unterstützen den Reformprozess des Bundes und der Landesjustizministerien. Wir werden den Diskussionsprozess fortsetzen und auf die Umsetzung drängen, auch wenn sich politische Mehrheiten verändern. Wir sind der doppelte Boden – die Wächter über den Reformprozess."