Zivilprozess der Zukunft: OLG-Präsidenten legen Münchener Thesen vor

Wie soll der Zivilprozess künftig aussehen? Das war ein Schwerpunktthema auf der Jahrestagung der Präsidentinnen und Präsidenten der höchsten Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit, die am 8. Mai in München zu Ende gegangen ist. Diskutiert wurde – aus aktuellem Anlass – auch über Rechtsstaat und Demokratie.

Um den deutschen Zivilprozess zukunftsfähig zu machen, muss er grundlegend transformiert werden – darüber sind sich die Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des KG, des BayObLG und des BGH mit der Rechtsanwaltschaft und der Wissenschaft einig. In seiner traditionellen Form passe er nicht mehr zu neuen gesamtgesellschaftlichen Lebenswirklichkeiten. Schwächen des momentanen Verfahrens hätten insbesondere der digitale Fortschritt, hoch automatisierte und optimierte Strukturen in spezialisierten Kanzleien beziehungsweise bei Legal-Tech-Anbietern und das Phänomen von Massenverfahren aufgezeigt.

Aber wie könnte ein Zivilverfahren der Zukunft zwischen Commercial Courts und Massenverfahren aussehen? Dies skizzieren die Gerichtspräsidenten und -präsidentinnen in ihren "Münchener Thesen", die sich mit Fragen des Zugangs zum Recht, der Qualität und Effizienz der Rechtsprechung und der Besonderheiten der wirtschaftsrechtlichen Streitigkeiten auseinandersetzen.

Digitalisierung, Strukturierung, Spezialisierung

Ein erster Thesen-Block beschäftigt sich mit einem modernisierten Zugang zum Recht, der einfacher und offener gestaltet werden soll. Die Präsidentinnen und Präsidenten haben eine bundeseinheitliche Kommunikationsplattform mit Schnittstellen für Anwaltssoftware und e-Akten im Sinn, die einfache digitale Kommunikation ermöglichen und so beispielsweise aufwendige Zustellungen einzelner Dokumente ersetzen können soll. Für die Anwaltschaft und andere professionelle Nutzer soll die Nutzung verpflichtend sein. Für Bürgerinnen und Bürger dagegen wünschen sich die Präsidenten und Präsidentinnen als zentrale Anlaufstelle für digitale Dienstleistungen der Justiz ein bundeseinheitliches Justizportal. Für rechtliche einfache Massenverfahren wie etwa oft bei den Fluggastrechten soll es ein "Fast-Track-Verfahren" geben.

Die sogenannte "Nullte Instanz" wird in dem Thesenpapier dagegen abgelehnt. Es handelt sich dabei um ein automatisiertes Vorentscheidungsverfahren, eine Art erweitertes Mahnverfahren, bei dem für bestimmte standardisierte Fallkonstellationen in einem kontradiktorischen Verfahren auf der Grundlage einer Plausibilitätsprüfung zeitnah eine vollstreckungsfähige Zwischenentscheidung über die voraussichtlichen Erfolgsaussichten ergeht.

Der zweite Thesen-Block beschäftigt sich mit einer qualitativ hochwertigen und effizienten Rechtsprechung. Dafür sei es unvermeidbar, die Abläufe des Zivilprozesses umfassend zu prüfen: Verfahrensabläufe müssten besser strukturiert und auf eine transparentere Kommunikation ausgerichtet werden. Diverse prozessuale Regelungen seien zu komplex, so die Gerichtspräsidenten und -präsidentinnen: Aufwendige Nebenentscheidungen und die gegen sie gerichteten Rechtsbehelfe sollten ebenso vereinfacht werden wie die Bestimmungen zur vorläufigen Vollstreckbarkeit. Der Qualität der zivilgerichtlichen Rechtsprechung zuträglich sei es, das Kammerprinzip und die Spezialisierung zu stärken und gerichtsübergreifende Spezialzuständigkeiten zu forcieren. Regelmäßige Fortbildungen sollten verpflichtend sein – unter Einbindung von Wissenschaft und Rechtsanwaltschaft.

In einem dritten Teil beschäftigen sich die Richterinnen und Richter mit wirtschaftsrechtlichen Streitigkeiten. Als wesentliche Eckpunkte nennen sie die Vorschläge des Justizstandort-Stärkungsgesetzes mit der Einrichtung von Commercial Courts und Commercial Chambers. Wirtschaftsrechtliche Verfahren erforderten grundsätzlich eine Stärkung des Kammerprinzips und einen höheren Spezialisierungsgrad der Richterschaft. Gerade komplexe Wirtschaftsverfahren mit Spezialmaterien bedürften eines hierfür ausgebildeten Gerichts – was bei der langfristigen Personalentwicklung zu berücksichtigen sei. Die Richter seien gezielt in den betriebswirtschaftlichen Grundlagen und den Spezialgebieten des Wirtschaftsrechts auszubilden und müssten über verhandlungssichere Englischkenntnisse verfügen. Nur so könnten sie auf Augenhöhe mit im internationalen Kontext geschäftlich agierenden Parteien agieren.

Sensibilisierung für Bedeutung des Rechtsstaats

Doch es gab neben dem Thesenpapier auch noch andere Themen auf der Tagung. Angesichts zunehmender verfassungsfeindlicher Tendenzen in Politik und Gesellschaft halten die Gerichtspräsidenten und -präsidentinnen ein größeres Verständnis der Bevölkerung für den Rechtsstaat und seine Bedeutung für die Demokratie für erforderlich. Sie wollen Maßnahmen und Projekte initiieren und unterstützen, die den Dialog mit Bürgerinnen und Bürgern zu der Thematik fördern. Bereits in der schulischen Ausbildung sei das Bewusstsein für die Bedeutung rechtsstaatlicher Prinzipien zu fördern – unter Einbeziehung der Justiz.

(Hinweis der Redaktion: Im ersten Absatz hieß es ursprünglich, die Tagung habe am 8. Juni stattgefunden. Korrekt ist der 8. Mai, die Passage wurde entsprechende geändert. 14.5.2024, 15:28 Uhr, jvh)

Redaktion beck-aktuell, bw, 13. Mai 2024.