Bundesrechtsanwaltskammer fordert "Rechtsstaat 2.0"

Mit einem am 28.09.2020 veröffentlichten Positionspapier formuliert die Bundesrechtsrechtsanwaltskammer (BRAK) sieben Forderungen an Gesetzgeber und Justiz. Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie sollten demnach die Abläufe bei Gericht und in Gesetzgebungsverfahren auf den Prüfstand gestellt werden. Die Einschränkungen bei Gericht durch die Infektionswelle hätten das Funktionieren des Rechtsstaats teilweise spürbar beeinträchtigt.

Funktionierender Rechtsstaat nicht selbstverständlich

Der Zugang zum Recht für Bürger sei auch durch die nicht flächendeckende Anerkennung der Anwaltschaft als "systemrelevant" gefährdet. Sie sei ein elementarer Teil der Rechtspflege. Angesichts dieser Gefahren wirbt die Körperschaft mit dem Positionspapier dafür, eine Zwischenbilanz zu ziehen und den Rechtsstaat für Krisenzeiten generell zukunftssicher zu gestalten. Zentrales Ziel sei es, dass Gesetzgeber, Justiz und Anwaltschaft handlungsfähig blieben. "Das Funktionieren unseres Rechtsstaats in und nach einer Krise ist keine Selbstverständlichkeit", sagte BRAK-Präsident Ulrich Wessels gegenüber LTO. Die Kammer regte die Einrichtung einer Expertengruppe an. Diese solle aus allen mit der Justiz befassten Gruppen gebildet werden und die Vorschläge des Positionspapiers weiter ausarbeiten.

Öffentlichkeit auch in Krisenzeiten

Die Forderungen betreffen zunächst die Arbeitsfähigkeit und Verfahrensgestaltung bei den Gerichten. Recht dürfe nicht hinter verschlossenen Türen gesprochen werden. Damit unterstreicht die Selbstverwaltungseinrichtung die aus ihrer Sicht wesentliche Bedeutung des Öffentlichkeitsgrundsatzes auch in Krisenzeiten. Die Parteiöffentlichkeit müsse gewährleistet bleiben. Passend dazu fordert die Kammer flächendeckend funktionierende Hygienekonzepte für die Justiz. Diese sollten im Internet veröffentlicht werden. Zutrittsbeschränkungen für die allgemeine Öffentlichkeit hält die BRAK außer im Strafprozess aus epidemiologischen Gründen für vertretbar. Allerdings müssten alle Möglichkeiten moderner Technik genutzt werden, um Öffentlichkeit dennoch herzustellen. Genannt werden Ton- und Bildübertragungen in andere Räume und ein Livestream mit Registrierungspflicht.

IT-gestützte Verfahren

Entsprechend müsse die IT-Ausstattung der Gerichte verbessert werden. Die Körperschaft fordert: Die Justizgewährung darf nicht an den Justizhaushalten einzelner Länder scheitern. Bei der Anschaffung von Videokonferenztechnik sei auf den Datenschutz zu achten. Die Möglichkeit der mündlichen Verhandlung mittels Videokonferenz sei in Abstimmung mit den Parteien auch nach der Krise weiterhin vermehrt einzusetzen. An dieser Stelle fehlten indes Regelungen für Beweisaufnahmen, wie sie etwa das Seoul Protokoll aus 2018 für die internationale Schiedsgerichtsbarkeit vorsehe. Abseits dessen werden informelle Konferenzen der Beteiligten auch schon jetzt für möglich gehalten; begrüßt werden sie etwa zum Abstimmen des Verfahrensverlaufs oder für Vergleichsverhandlungen. "Durchlauftermine" ließen sich so vermeiden. 

Mangelhafte Beteiligung der Verbände in der Krise

Schließlich versteckt sich eine deutliche Kritik der BRAK an Bundesministerien und dem Gesetzgeber zwischen den Zeilen: In den zahlreichen Gesetzgebungsverfahren der letzten Monate sei vielfach auf die Verbändeanhörung verzichtet worden, obwohl sich eine solche gerade in Anbetracht der Krisenzeit aufgedrängt habe. Man wolle den Gesetzgeber bei seiner schwierigen Aufgabe unterstützen. Im Fall der BRAK hätten auch mehrfache schriftliche Angebote zu kurzfristigen Stellungnahmen und Fachgesprächen – unter anderem an das BMJV – und Initiativstellungnahmen einzelner Fachausschüsse nicht weitergeholfen. Zu bemängeln sei insbesondere, dass Gesetzesentwürfe nicht zuverlässig veröffentlicht worden seien. Daher fordert die Kammer, dass in Zukunft sämtliche Entwürfe tagesaktuell der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

Gefahren von Krisengesetzgebung

Schließlich erneuert die BRAK ihre Position, dass alle Pandemie-Gesetze eines klaren Ablaufdatums bedürfen. Verhältnismäßigkeitsfragen seien angesichts der sich ändernden Lage immer wieder neu aufzuwerfen. Dringend Abstand nehmen müsse man davon, Pandemie-Gesetze als Mantel für nicht krisenbezogene Änderungen zu nutzen, wie es beispielsweise mit dem Zweiten Corona-Steuerhilfegesetz geschehen sei.

Redaktion beck-aktuell, 29. September 2020.