Recht auf mündliche Widerspruchs-Erörterung im Rechtsausschuss trotz Pandemie

Haben Bürger Widerspruch gegen den Verwaltungsakt einer kommunalen Behörde eingelegt und verzichten sie nicht auf eine mündliche Erörterung ihres Widerspruchs vor dem Rechtsausschuss, so ist dieser nicht berechtigt, im Hinblick auf die bestehende Corona-Pandemie über den Widerspruch ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden. Dies geht aus einem Urteil des Verwaltungsgerichts Neustadt an der Weinstraße hervor.

Ausdrücklich nicht auf mündliche Erörterung verzichtet

Der beklagte Landkreis Kusel erließ gegenüber der Klägerin im Oktober 2019 einen auf das Bundesbodenschutzgesetz gestützten belastenden Bescheid, gegen den die Klägerin Widerspruch einlegte. Der Kreisrechtausschuss des Beklagten fragte unter Bezugnahme auf die Covid-19 Pandemie und die damit indizierte Reduzierung privater und öffentlicher Kontakte zweimal bei der Klägerin an, ob sie auf eine mündliche Erörterung ihres Widerspruchs verzichte, was die Klägerin ausdrücklich verneinte. Der Widerspruch wurde dennoch ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung beschieden. Unter Berücksichtigung des aktuellen Infektionsgeschehens im Landkreis Kusel mit einer Sieben-Tage-lnzidenz größer als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner sei die Durchführung einer mündlichen Erörterung, bei der mindestens sechs Personen aus jeweils unterschiedlichen Haushalten anwesend wären, nicht vertretbar. In der Sache sei der zulässige Widerspruch unbegründet.

Klägerin wendet sich gegen Entscheidung im schriftlichen Verfahren

Die Klägerin hat im März 2021 isoliert gegen den Widerspruchsbescheid Klage erhoben und die Auffassung vertreten, der Kreisrechtsausschuss sei aufgrund ihres fehlenden Verzichts auf eine mündliche Erörterung des Widerspruchs nicht berechtigt gewesen, im schriftlichen Verfahren zu entscheiden. Das VG Neustadt an der Weinstraße hat der Klage stattgegeben. Nach § 16 des Landesgesetzes zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung (AGVwGO) habe der Rechtsausschuss vor Erlass des Widerspruchsbescheids den Widerspruch mit den Beteiligten mündlich zu erörtern. Die Verhandlung sei öffentlich, der Rechtsausschuss könne die Öffentlichkeit aber aus wichtigem Grund ausschließen. Mit Einverständnis aller Beteiligten könne von der mündlichen Erörterung abgesehen werden. Dieses Einverständnis habe die Klägerin jedoch nicht erteilt.

§ 16 AGVwGO wird nicht durch Infektionsschutzrecht verdrängt

Soweit der Kreisrechtsausschuss des Beklagten sich in diesem Zusammenhang unter Bezugnahme auf die Corona-Bekämpfungsverordnung Rheinland-Pfalz darauf berufen habe, über den Widerspruch habe er ohne mündliche Erörterung mit den Beteiligten entscheiden können, könne dem nicht gefolgt werden. Aufgrund der Ausgestaltung des Verfahrens, insbesondere im Hinblick auf die prinzipielle Erforderlichkeit einer mündlichen Verhandlung und den Öffentlichkeitsgrundsatz, handele es sich bei dem Widerspruchsverfahren vor den Rechtsausschüssen um ein gerichtsähnliches Verfahren. § 16 AGVwGO werde nicht durch die Bestimmungen des Infektionsschutzrechts verdrängt. Es sei daher Aufgabe des Beklagten, für die Durchführung von mündlichen Verhandlungen im Vorverfahren ein Hygienekonzept zu entwickeln, das mit der jeweiligen Corona-Bekämpfungsverordnung Rheinland-Pfalz in Einklang stehe und einen angemessenen Ausgleich zwischen Infektionsschutz und Anspruch auf effektiven Rechtsschutz herstelle. Ferner könne er die Öffentlichkeit aus wichtigem Grund, nämlich auch aus Gründen des Gesundheitsschutzes, ausschließen oder zugangsbeschränkende Maßnahmen ergreifen.

Nicht jedwedes Risiko auszuschließen

Unter diesen Voraussetzungen sei dem Kreisrechtsausschuss des Beklagten die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht unzumutbar. Soweit der Kreisrechtsausschuss mit seiner Argumentation letztlich auf den Ausschluss eines jeden Risikos abziele, könne er damit verfassungsrechtlich nicht durchdringen. Gegen das Urteil kann innerhalb eines Monats nach Zustellung Antrag auf Zulassung der Berufung zum Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz eingelegt werden.

VG Neustadt a.d. Weinstraße, Urteil vom 22.04.2021 - 5 K 274/21

Redaktion beck-aktuell, 10. Mai 2021.