Der Talmud lehrt, dass der letzte Wille des Verstorbenen zu erfüllen sei (Traktat Gittin 14b). Das ist häufig gar nicht so einfach, wie die Nachlassangelegenheit des Schriftstellers und Juristen Franz Kafka zeigt. Kafka hinterließ zwei Verfügungen, die regelten, was mit seinen Erzählungen, Briefen, Romanen und Tagebüchern nach seinem Tod zu geschehen habe. Er verfügte wenige Jahre vor seinem Tod, dass sein langjähriger Freund Max Brod seinen literarischen Nachlass annähernd vollständig zu vernichten habe.
Kafka und Brod kannten sich zu diesem Zeitpunkt fast 20 Jahre. Ihre Freundschaft begann im Jahr 1902, als sich die beiden an der Prager Karls-Universität kennenlernten. Max Brod hielt einen Vortrag über Schopenhauer, der Kafka so beeindruckte, dass er ihn ansprach. Brod spielte dann eine entscheidende Rolle in Kafkas literarischer Karriere. Er erkannte früh das außergewöhnliche Talent seines Freundes und ermutigte ihn, seine Werke zu veröffentlichen. Es war Brod, der Kafka dazu brachte, ein Tagebuch zu führen, und der ihn in seinen literarischen Bestrebungen unterstützte.
"...alles dieses ist ausnahmslos zu verbrennen..."
Im Herbst/Winter 1921 schrieb Kafka, der seit August 1917 an Tuberkulose litt, auf einem gefalteten Bogen mit Feder und Tinte:
"Liebster Max, meine letzte Bitte: alles was sich in meinem Nachlass (also im Bücherkasten, Wäscheschrank, Schreibtisch zuhause und im Bureau, oder wohin sonst irgendetwas vertragen worden sein sollte und Dir auffällt) an Tagebüchern, Manuscripten, Briefen, fremden und eigenen, Gezeichnetem u. s. w. findest, restlos und ungelesen zu verbrennen, ebenso alles Geschriebene oder Gezeichnete, das Du oder andere, die Du in meinem Namen darum bitten sollst, haben. Briefe, die man Dir nicht übergeben will, soll man wenigstens selbst zu verbrennen sich verpflichten.
Dein
Franz Kafka"
Das zweite Schreiben (ein vergilbter, mit Bleischrift geschriebener Zettel) datiert vom 29. November 1922. Es lautet:
"Lieber Max, vielleicht stehe ich diesmal doch nicht mehr auf, das Kommen der Lungenentzündung ist nach dem Monat Lungenfieber genug wahrscheinlich und nicht einmal, dass ich es niederschreibe wird sie abwehren, trotzdem es eine gewisse Macht hat.
Für diesen Fall also mein letzter Wille hinsichtlich alles von mir Geschriebenem:
Von allem was ich geschrieben habe, gelten nur die Bücher: Urteil, Heizer, Verwandlung, Strafkolonie, Landarzt und die Erzählung: Hungerkünstler. (Die paar Exemplare der "Betrachtung" mögen bleiben, ich will niemandem die Mühe des Einstampfens machen, aber neu gedruckt darf nichts daraus werden). […] Dagegen ist alles, was sonst an Geschriebenem von mir vorliegt (in Zeitschriften Gedrucktes, im Manuskript oder in Briefen) ausnahmslos soweit es erreichbar oder durch Bitten von den Adressaten zu erhalten ist […]— alles dieses ist ausnahmslos am liebsten ungelesen (doch wehre ich Dir nicht hineinzuschauen, am liebsten wäre es mir allerdings wenn Du es nicht tust, jedenfalls aber darf niemand anderer hineinschauen) — alles dieses ist ausnahmslos zu verbrennen und dies möglichst bald zu tun bitte ich Dich
Franz"
Ausgehend von diesen zwei Dokumenten, welche die israelische Nationalbibliothek vor kurzem digital zugänglich gemacht hat, unternimmt der Frankfurter Arbeitsrechtler Ulrich Fischer in einem kürzlich erschienenen Buch eine juristische Analyse dieser großen Bürde, die Kafka seinem Freund auferlegt hatte.
Bloß vorübergehender Selbsthass und Nihilismus?
Was sollte Max Brod, schon zu Lebzeiten ein großer Verehrer der literarischen Werke seines Freundes, tun? Schließlich entschied er sich, diesem letzten Willen seines Freundes nicht zu entsprechen. Er veröffentlichte ein Jahr nach Kafkas Tod (1924) das Romanfragment "Der Process". Im Nachwort berichtet Brod, dass Kafka kein Testament, aber zwei "Zettel" hinterlassen habe, welche ihm die Vernichtung seines Werkes auferlegten. Er habe diese "herostratische Tat" aber nicht durchführen können.
Brod gibt dafür mehrere Gründe an. So hatten Kafka und er 1921 über testamentarische Verfügungen gesprochen. In diesem Gespräch – in einem "scherzhaften Ton" und einem "heimlichen Ernst" geführt – machte Brod Kafka klar, dass er die von diesem gewünschte Verbrennung seines Werkes nicht vornehmen werde. Kafka habe später, so führt Brod aus, selbst erlaubt, dass der Kurzgeschichten-Sammelband "Betrachtung" nachgedruckt und weitere Novellen veröffentlicht würden. Auch habe Kafka sich zu diesem Zeitpunkt in einer Lebensphase befunden, in der seine "selbstkritischen Tendenzen" einen Höhepunkt erfahren hätten. Den "Selbsthaß und Nihilismus" habe er später überwunden, fand Brod.
"Mein Testament wird ganz einfach sein – die Bitte an Dich, alles zu verbrennen."
Aber wie war die Rechtslage als Kafka 1924 starb? Handelte Brod mit der Veröffentlichung der Werke Kafkas rechtmäßig oder hätte er den letzten Willen des Verstorben nach dem Gesetz erfüllen müssen?
Im jungen Staat der Tschechoslowakei galt weiterhin das österreichische "Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch" (ABGB) von 1811. Das ABGB kennt in § 552 die "Erklärung des letztens Willens", die ein Testament (§ 553) sein kann, wenn Personen als Erben eingesetzt werden. Möglich war es auch, ein "Codicill" zu erstellen, also weitere letztwillige Verfügungen vorzunehmen. Kafka hatte weder durch die beiden "Zettel" noch durch andere Schriftstücke die Bestimmung von Erben vorgenommen, so dass es bei der gesetzlichen Erbfolge blieb. Nach § 731 ADGB waren dies Kafkas Eltern Herman und Julie und seine Schwestern Gabriele, Valerie und Ottilie.
Zur Erbmasse gehörten auch die beiden Kodizille mit den Anweisungen zur Werkvernichtung an Max Brod. Da es kein Testament Kafkas gibt, konnte Brod auch nicht sein - wie es häufig in der Literatur zu lesen ist – "Testamentsvollstrecker" sein. Auch wenn die "Kodizille" wirksam errichtet worden waren, fielen die Werke Kafkas in die Erbmasse, über die die Erbengemeinschaft aus Eltern und Schwestern verfügungsbefugt war. Im Ergebnis waren die Kodizille rechtlich bedeutungslos, da Kafka keine gewillkürten Erben eingesetzt hatte und diesen sein Erbe nicht mit einer Auflage nach § 709 ADGB zugewendet hatte, nach der sie die Werke ggf. hätten vernichten müssen. Da Max Brod durch die "Zettel" keine Erbenstellung eingeräumt wurde, konnte er nur im Einverständnis mit den Erben handeln.
Kafkas Eltern und Schwestern: Veröffentlichung statt Vernichtung
Am 11. Juli 1924 schlossen dann die Erbengemeinschaft und Max Brod einen Vertrag. Die Kafkas beauftragten seinen besten Freund mit der Herausgabe der Werke. Brod erhielt dafür kein Honorar. Etwaige Einkünfte wurden zwischen den Eltern (55 %) und Kafkas letzter Lebensgefährtin Dora Diamant (44%) aufgeteilt. Durch den Verwertungsvertrag vom 11. Juli 1924 wurde der rechtliche Wille der Erbengemeinschaft konkretisiert, der keine Vernichtung, sondern eine Verwertung der Werke Kafkas beinhaltete.
Schließlich prüft Fischer auch die Frage, ob Kafkas Manuskripte überhaupt noch Teil der Erbmasse waren. Denn Brod schrieb nur fünf Wochen nach Kafkas Tod in der Zeitschrift "Weltbühne", dass Kafka ihm "Das Schloss" und den "Prozess" schon 1920 bzw. 1923 übergeben habe. Weitere Dokumente wie Manuskripte und Tagebücher lagen bei Kafkas früherer Geliebten und Übersetzerin Milena Jesenská. Diese schrieb Mitte Juli 1924 an Brod, dass die Dokumente bei ihr "zur Disposition" Brods lägen. Aus diesem Schreiben in Verbindung mit den Kodizillen schließt Fischer, dass zu Lebzeiten keine Eigentumsübertragung aufgrund einer Schenkung vollzogen wurde. Die Tagebücher, Erzählungen usw. bei Milena Jesenská sollten von dieser, die Romanmanuskripte durch Max Brod verwahrt werden.
Ulrich Fischer hat ein akribisches Quellenstudium betrieben und sorgfältig die bisherige Literatur zum Thema der beiden kafkaschen "letztwilligen Verfügungen" gesichtet. Seine mit Dokumenten und Fotos reich bebilderte Darstellung ist mehr als eine – schon für sich spannende – historische "Nachsubsumption" eines Erbfalles von weltliterarischer Bedeutung. Sie ist auch eine große Huldigung von Max Brod, dessen Gesinnungstat der Werkrettung mit der juristischen Bewertung des Werkvernichtungsverbotes übereinstimmt.
Und so schließt Fischer, dass nicht nur mit Fug, sondern auch mit Recht gesagt werden könne, dass Max Brods Handeln bzw. sein Unterlassen nicht nur moralisch, sondern auch juristisch in vollem Umfang gerechtfertigt gewesen sei: "Keine Leserin, kein Leser der von Max Brod geretteten kafkaschen Werke, seine literarischer oder persönlich-intimer Natur, muss – wenn auch nur unbewusst – fürchten, beteiligt oder nutznießerisch an einem 'Freundesverrat' beteiligt zu sein".
Übrigens: Die anfänglich zitierte Talmud-Sentenz stammt aus dem Urteil des Obersten Gerichtshof Israels, das im August 2016 über den Nachlass von Max Brod entschied. Aber das ist wiederum eine andere Geschichte.
Ulrich Fischer, „alles … restlos und ungelesen zu verbrennen“. Kafkas letzter Wille - eine juristische Analyse. Wallstein 2024, 112 S., 16 Abb., gebunden, ISBN 978-3-8353-5644-3, 20,00 €.
Über den Nachlass von Max Brod und die darum geführten Prozesse schreibt Benjamin Balint, Kafkas letzter Prozess. Ein Nachlass und seine Geschichte. Berenberg Verlag 2019, 336 S., gebunden, ISBN 9783946334484, 25,00 EUR.
Der Autor Dr. Sebastian Felz ist Mitglied des Vorstandes des „Forum Justizgeschichte“.