EuGH: Vernehmung als Zeuge in abgeschlossenem Verfahren schützt nicht vor späterer Vollstreckung eines EU-Haftbefehls

Die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls kann nicht mit der Begründung abgelehnt werden, dass ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren durch eine Entscheidung der Staatsanwaltschaft eingestellt wurde, wenn die gesuchte Person in diesem Verfahren nur als Zeuge befragt wurde. Dies hat der Europäische Gerichtshof entschieden. In dem Urteil vom 25.07.2018 stellt er zugleich klar, dass die Justizbehörden der Mitgliedstaaten verpflichtet sind, zu jedem Europäischen Haftbefehl, der ihnen übermittelt wird, eine Entscheidung zu erlassen (Az.: C-268/17).

Kroatische Behörden bitten Ungarn um Rechtshilfe bei Ermittlungen gegen ungarischen Staatsangehörigen

AY ist ungarischer Staatsangehöriger und Vorstandsvorsitzender eines ungarischen Unternehmens. Gegen ihn ist in Kroatien ein Strafverfahren eingeleitet worden. AY wird verdächtigt, es akzeptiert zu haben, einen erheblichen Geldbetrag an den Inhaber eines hohen Amtes in Kroatien im Gegenzug zum Abschluss einer Vereinbarung zwischen dem ungarischen Unternehmen und der kroatischen Regierung zu zahlen. Nachdem in Kroatien Ermittlungen gegen AY wegen Bestechung eingeleitet worden waren, baten die kroatischen Behörden die ungarischen Behörden mehrfach (erstmals am 10.06.2011) um zwischenstaatliche Rechtshilfe und ersuchten sie, AY als Verdächtigen zu vernehmen und ihm eine Vorladung zuzustellen.

Ungarische Behörden vernehmen Verdächtigen im Rahmen eigener Ermittlungen nur als Zeugen

Die ungarischen Behörden kamen diesen Ersuchen nicht nach, leiteten jedoch ebenfalls Ermittlungen ein, um zu prüfen, ob eine Straftat gegen die Integrität des öffentlichen Lebens in Form von Bestechung im internationalen Maßstab nach dem ungarischen Strafgesetzbuch begangen worden war. Diese Ermittlungen wurden mit Entscheidung der zentralen ungarischen Ermittlungsbehörde vom 20.01.2012 mit der Begründung eingestellt, dass die begangenen Handlungen keine Straftat darstellten. Die Ermittlungen der ungarischen Behörden waren allerdings nicht gegen AY als Verdächtigen, sondern nur im Zusammenhang mit der mutmaßlichen Straftat eingeleitet worden, und AY war im Zuge dieser Ermittlungen nur als Zeuge vernommen worden.

Ungarn verweigert Vollstreckung später ausgestellten Europäischen Haftbefehls

Am 01.10.2013, nach dem Beitritt Kroatiens zur Europäischen Union, stellten die kroatischen Behörden einen Europäischen Haftbefehl gegen AY aus. Die Vollstreckung dieses Haftbefehls wurde von den ungarischen Justizbehörden jedoch mit der Begründung verweigert, dass ein Strafverfahren wegen der Handlungen, auf die der Haftbefehl gestützt sei, in Ungarn bereits abgeschlossen worden sei. Am 15.12.2015 stellte der Županijski Sud u Zagrebu (Gespanschaftsgericht Zagreb, Kroatien), bei dem das Strafverfahren gegen AY anhängig ist, einen neuen Europäischen Haftbefehl gegen diesen aus. Hinsichtlich dieses Haftbefehls lehnten die ungarischen Behörden den Erlass jeglicher förmlicher Entscheidung mit der Begründung ab, dass es in Ungarn rechtlich nicht möglich sei, AY festzunehmen oder ein neues Verfahren zur Vollstreckung des fraglichen Haftbefehls einzuleiten.

Kroatisches Gericht ruft EuGH an

Vor diesem Hintergrund möchte das kroatische Gericht vom EuGH im Wesentlichen wissen, ob der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl (2002/584/JI) es einer Behörde eines Mitgliedstaats erlaubt, einen solchen Haftbefehl mit der Begründung nicht zu vollstrecken, dass ein Strafverfahren wegen der in dem Haftbefehl bezeichneten Handlungen in diesem Mitgliedstaat bereits abgeschlossen wurde, selbst wenn die Person, gegen die der Haftbefehl erlassen wurde, in diesem Strafverfahren lediglich die Stellung eines Zeugen und nicht die eines Verdächtigen oder Beschuldigten hatte. Das kroatische Gericht möchte auch wissen, ob eine nationale Behörde verpflichtet ist, eine Entscheidung über jeden ihr übermittelten Europäischen Haftbefehl zu erlassen, auch wenn sie bereits eine Entscheidung zu einem früheren Haftbefehl in Bezug auf dieselbe Person und dasselbe Strafverfahren getroffen hat.

EuGH-Generalanwalt hielt Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig

In seinen Schlussanträgen vom 16.05.2018 hat Generalanwalt Szpunar dem Gerichtshof vorgeschlagen, sich für die Beantwortung von Fragen, mit denen die Justizbehörde, die einen Europäischen Haftbefehl ausgestellt hat, wissen möchte, ob die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung dieses Haftbefehls verweigern kann, für unzuständig zu erklären (BeckRS 2018, 8535).

Haftbefehl ausstellende Justizbehörde darf EuGH anrufen

Der EuGH stellt dagegen zunächst fest, dass die Zulässigkeit eines Vorabentscheidungsersuchens nicht durch den Umstand in Frage gestellt wird, dass sich die Vorlagefragen auf die Verpflichtungen der vollstreckenden Justizbehörde beziehen, während das vorlegende Gericht die Justizbehörde ist, die den Europäischen Haftbefehl ausgestellt hat. Da die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls die individuelle Freiheit der gesuchten Person beeinträchtigt und nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs in erster Linie der Ausstellungsmitgliedstaat für die Gewährleistung der Grundrechte verantwortlich ist, muss die ausstellende Justizbehörde nämlich über die Möglichkeit verfügen, den Gerichtshof mit einer Vorlage zur Vorabentscheidung zu befassen.

Vollstreckende Justizbehörde muss ausstellender zumindest eine Entscheidung übermitteln

Danach weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Mitgliedstaaten die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls – abgesehen von außergewöhnlichen Umständen – nur in den in dem Rahmenbeschluss abschließend vorgesehenen Fällen ablehnen können. Folglich verletze eine vollstreckende Justizbehörde, die sich nach der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls nicht äußert und somit der ausstellenden Justizbehörde keinerlei Entscheidung übermittelt, die ihr nach dem Rahmenbeschluss obliegenden Verpflichtungen.

Ablehnung der Vollstreckung wegen rechtskräftiger Verurteilung durch anderen Mitgliedstaat greift nicht

Anschließend prüft der EuGH, ob der in Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses vorgesehene zwingende Grund für die Ablehnung im vorliegenden Fall Anwendung findet. Dieser Ablehnungsgrund betreffe den Fall, dass die vollstreckende Justizbehörde darüber informiert wird, dass die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Mitgliedstaat rechtskräftig verurteilt worden ist. Hierzu stellt der Gerichtshof klar, dass eine rechtskräftige Verurteilung voraussetzt, dass gegen die gesuchte Person zuvor ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde. Im vorliegenden Fall könne AY somit mangels gegen ihn geführter strafrechtlicher Ermittlungen nicht als rechtskräftig verurteilt im Sinne des Rahmenbeschlusses angesehen werden. Folglich könne die Entscheidung, mit der das Ermittlungsverfahren, in dessen Verlauf AY lediglich als Zeuge befragt wurde, nicht angeführt werden, um die Vollstreckung des Haftbefehls auf der Grundlage dieses Ablehnungsgrundes abzulehnen.

EuGH prüft fakultative Gründe für Ablehnung

Schließlich wendet sich der Gerichtshof der Prüfung zu, ob einer der drei in Art. 4 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen fakultativen Gründe für die Ablehnung im vorliegenden Fall anwendbar ist. Diese Gründe beziehen sich laut EuGH erstens auf den Verzicht der vollstreckenden Justizbehörde, wegen der Straftat, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ausgestellt wurde, ein Verfahren einzuleiten, zweitens auf den Umstand, dass die Justizbehörden im Vollstreckungsmitgliedstaat beschlossen haben, das Verfahren wegen der Straftat, aufgrund deren der Haftbefehl ausgestellt worden ist, einzustellen, und drittens auf den Umstand, dass gegen die gesuchte Person in einem Mitgliedstaat aufgrund derselben Handlung eine rechtskräftige Entscheidung ergangen ist, die einer weiteren Strafverfolgung entgegensteht.

Keiner der fakultativen Ablehnungsgründe einschlägig

Nach den Feststellungen des Gerichtshofs sind der erste und der dritte der oben genannten Gründe im vorliegenden Fall nicht einschlägig. Zum zweiten Grund betont der EuGH, dass eine Auslegung, nach der die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls dann abgelehnt werden könnte, wenn sich der betreffende Haftbefehl auf eine Handlung bezieht, die identisch ist mit einer Handlung, die bereits Gegenstand einer älteren Entscheidung war, ohne dass es auf die Identität der Person, gegen die sich die Ermittlungen richten, ankäme, offensichtlich zu weit wäre und die Gefahr einer Umgehung der Verpflichtung zur Vollstreckung des Haftbefehls mit sich brächte. Da dieser Grund für die Ablehnung der Vollstreckung eine Ausnahme darstellt, sei er eng und im Licht der Notwendigkeit auszulegen, die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität zu fördern. Im vorliegenden Fall sei das von den ungarischen Behörden eingeleitete Ermittlungsverfahren nicht gegen AY geführt worden, sondern gegen Unbekannt, und die Entscheidung über die Einstellung dieses Ermittlungsverfahrens sei nicht gegenüber AY getroffen worden. Der Gerichtshof schließt daraus, dass der zweite oben genannte Grund für eine Ablehnung der Vollstreckung ebenfalls keine Anwendung findet.

EuGH, Urteil vom 25.07.2018 - C-268/17

Redaktion beck-aktuell, 26. Juli 2018.