BVerfG: Zwei Tschetschenen dürfen nicht nach Russland ausgeliefert werden

Zwei Tschetschenen waren mit ihren Verfassungsbeschwerden gegen ihre drohende Auslieferung nach Russland erfolgreich. Das Bundesverfassungsgericht hat die entsprechenden Entscheidungen des Oberlandesgerichts Brandenburg mit Beschlüssen vom 30.10. und 22.11.2019 aufgehoben und die Sachen zurückverwiesen. Ein einseitiger Vorbehalt in der Auslieferungsbewilligung des Inhalts, dass das künftige Strafverfahren außerhalb des nordkaukasischen Föderalbezirks durchgeführt werden müsse, genüge in Anbetracht der russischen Erklärungen und Praxis nicht, um die Gefahr politischer Verfolgung in Tschetschenien auszuräumen (Az.: 2 BvR 828/19 und 2 BvR 517/19).

Tschetschenische Beschwerdeführer wehren sich gegen Auslieferung

Beide Verfassungsbeschwerden betreffen die Auslieferung russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Herkunft zur Strafverfolgung nach Russland. Die Beschwerdeführer wurden jeweils durch die Russische Föderation über Interpol ausgeschrieben. Den Ausschreibungen lagen Haftbefehle eines Bezirksgerichts in der russischen Teilrepublik Tschetschenien zugrunde, in denen den Beschwerdeführern ein Raub- beziehungsweise ein Drogendelikt zur Last gelegt wird. Auf seinen Asylantrag hin wurde dem Beschwerdeführer im Verfahren 2 BvR 828/19 in Polen der Flüchtlingsstatus versagt, subsidiärer Schutzstatus aber zuerkannt. Das Asylverfahren gegen den Beschwerdeführer im Verfahren 2 BvR 517/19 wurde eingestellt, nachdem dieser Polen verlassen hatte. Die in Deutschland gestellten Asylanträge wurden abgelehnt. Die Auslieferungshaftbefehle wurden jeweils außer Vollzug gesetzt.

OLG erklärte Auslieferung unter Bedingungen für zulässig

Das Oberlandesgericht erklärte die Auslieferung der Beschwerdeführer für zulässig, allerdings dürften das Ermittlungsverfahren, die Untersuchungshaft und eine mögliche Strafhaft nicht im nordkaukasischen Föderalbezirk durchgeführt werden. Mitglieder des deutschen Konsulardienstes müssten den Beschwerdeführer jederzeit besuchen und am Strafverfahren teilnehmen dürfen. Die Zulässigkeitserklärung stehe unter der weiteren Voraussetzung, dass seitens des Bundesamts für Justiz die Bewilligungserklärung "davon abhängig gemacht" werde, dass das künftige Gerichtsverfahren außerhalb des nordkaukasischen Föderalbezirks durchgeführt werde.

BVerfG: Vertrauensgrundsatz im Auslieferungsverkehr

Die Verfassungsbeschwerden waren erfolgreich. Das BVerfG hat die Beschlüsse des OLG aufgehoben und die Sachen zurückverwiesen. Die zulässige Verfassungsbeschwerde im Verfahren 2 BvR 828/19 sei begründet, soweit der Beschwerdeführer geltend mache, dass die angegriffenen Entscheidungen gegen seine Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG verstoßen. Zwar gelte im allgemeinen völkerrechtlichen Auslieferungsverkehr der Vertrauensgrundsatz. Dies gelte aber nicht, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass im Fall einer Auslieferung die unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze, das unabdingbare Maß an Grundrechtsschutz oder der verbindliche völkerrechtliche Mindeststandard gemäß Art. 25 GG nicht eingehalten werden. Dafür müssten stichhaltige Gründe gegeben sein, nach denen gerade im konkreten Fall eine beachtliche Wahrscheinlichkeit bestehe, dass in dem ersuchenden Staat die völkerrechtlichen Mindeststandards nicht beachtet werden.

Gerichtliche Aufklärungspflicht bei Anhaltspunkten für politische Verfolgung

Soweit ernstliche Gründe für die Annahme einer politischen Verfolgung im Zielstaat sprächen, müsse das Gericht die beantragte Auslieferung grundsätzlich für unzulässig  erklären. Ob die Voraussetzungen dieses Auslieferungshindernisses vorlägen, müsse es eigenständig und unabhängig von etwaigen Entscheidungen im Asylverfahren prüfen.

OLG sieht aber selbst Gefahr politischer Verfolgung

Das OLG selbst gehe davon aus, dass der Beschwerdeführer Gefahr läuft, im nordkaukasischen Föderalbezirk der politischen Verfolgung ausgesetzt zu sein, so das BVerfG weiter. Diese Gefahr stelle einfachrechtlich beziehungsweise nach den entsprechenden auslieferungsvertraglichen Vorschriften ein Auslieferungshindernis dar. Einer Auslieferung stünden zudem die in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG geschützten materiellen Rechtspositionen und der Rechtsgedanke des Art. 16a Abs. 1 GG, Schutz vor politischer Verfolgung im Zielstaat zu bieten, entgegen, der auch zu beachten sei, wenn – wie hier – aus Art. 16a Abs. 1 GG kein Asylanspruch folge.

Einseitiger Vorbehalt in Verbalnote kann Bedenken nicht ausräumen

Laut BVerfG wird der durch das OLG unterstellten Gefahr politischer Verfolgung auch nicht dadurch begegnet, dass in der Bewilligungsnote eine einseitige Annahme formuliert werde, nach der die Auslieferung in dem Verständnis erfolge, dass das Strafverfahren außerhalb des nordkaukasischen Föderalbezirks durchgeführt werde. Dabei könne offenbleiben, ob ein einseitiger Vorbehalt in der Verbalnote, mit der dem Zielstaat die Bewilligung der Auslieferung mitgeteilt und der durch Entgegennahme der betroffenen Person durch seine Behörden konkludent angenommen werde, rechtlich gleich einer Zusicherung zu behandeln sei. Denn eine solche Gleichbehandlung setze voraus, dass ein einseitiger Vorbehalt ohne Zweifel in den jeweils geschlossenen völkerrechtlichen Auslieferungsvertrag einbezogen wird und demnach rechtlich in gleicher Weise Verbindlichkeit erlangt wie eine von dem ersuchenden Staat abgegebene rechtsverbindliche Zusicherung.

Russische Erklärungen und Praxis konterkarieren Vertrauen in Gerichtsstandsverlagerung

Durch einseitige Formulierungen in der Bewilligungsnote, wie sie das OLG im Zulässigkeitsverfahren angeordnet habe, sei jedenfalls nicht hinreichend sichergestellt, dass der Beschwerdeführer nicht einem Strafverfahren im nordkaukasischen Föderalbezirk unterzogen wird, erläutert das BVerfG weiter. Mit einer solchen Annahme formuliere die Bundesrepublik Deutschland ihr Vertrauen in ein konkretes Verhalten des Zielstaats, obwohl die Russische Föderation bereits förmlich und mit Bezug zum vorliegenden Einzelfall bekundet habe, sie könne das von der deutschen Seite gewünschte Ergebnis einer Verlagerung des örtlichen Gerichtsstandes aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht sicherstellen und deshalb auch keine rechtlich verbindliche Zusicherung abgeben. Vor diesem von der russischen Seite detailliert geschilderten Hintergrund sei nicht ersichtlich, weshalb das OLG davon ausgehe, dass im Fall des Beschwerdeführers die in der deutschen Verbalnote einseitig aufgestellte Erwartung mit "an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" von der russischen Seite erfüllt werden wird. Zudem werde diese Erwartung durch die Handhabung derartiger Fälle durch die Behörden der Russischen Föderation in der Vergangenheit in Zweifel gezogen.

EGMR-Rechtsprechung spricht auch gegen Gleichstellung mit rechtlich verbindlicher Zusicherung

Auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte spricht dem BVerfG zufolge dagegen, die vom OLG im vorliegenden Fall für erforderlich erachtete einseitig formulierte Erwartung einer rechtlich verbindlichen Zusicherung gleichzustellen. Der EGMR gehe davon aus, dass der ersuchte Staat anhand der Umstände des Einzelfalles überprüfen muss, ob eine abgegebene Zusicherung auch tatsächlich belastbar ist und wieviel Gewicht ihr bei der Gesamtbetrachtung zukommt. Der EGMR beurteile die Belastbarkeit einer Zusicherung unter anderem danach, ob diese konkret oder allgemein und vage formuliert ist, ob eine staatliche Stelle die Zusicherung abgegeben hat, die den Zielstaat rechtlich binden kann, ob erwartet werden kann, dass Regionalregierungen sich an Zusicherungen, die durch Organe der Zentralregierung abgegeben werden, gebunden sehen, ob Zusicherungen in der Vergangenheit beachtet wurden und ob das zugesicherte Verhalten nach dem nationalen Recht des Zielstaats legal oder illegal ist. Diese Grundsätze seien auch bei der verfassungsrechtlichen Bewertung von Zusicherungen heranzuziehen.

Erklärter Vorbehalt in Bewilligungsnote nicht belastbar

Hier habe sich keine russische Behörde ausdrücklich dazu bekannt, das von der deutschen Seite gewünschte Ergebnis eines Strafverfahrens außerhalb des nordkaukasischen Föderalbezirks verbindlich zu gewährleisten. Vielmehr habe die russische Seite bekundet, dieses Ergebnis angesichts der alleinigen Entscheidungskompetenz des – unabhängigen – örtlich zuständigen Tatgerichts nicht sicherstellen zu können. In der Vergangenheit seien derartige Erwartungen nach den Angaben des Bundesjustizministeriums zudem in einigen Fällen, die relativ gesehen einen nicht zu vernachlässigenden Anteil ausmachten, nicht erfüllt worden.

2 BvR 517/19: OLG hätte Situation im nordkaukasischen Föderalbezirk aufklären müssen

Die Verfassungsbeschwerde im Verfahren 2 BvR 517/19 hat das BVerfG für begründet erachtet, soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 19 Abs. 4 GG rügte. Das OLG habe die Umstände, die den Beschwerdeführer bei einem möglichen Strafverfahren im nordkaukasischen Föderalbezirk erwarten würden, nicht aufgeklärt. Es habe sich von der Aufklärung und der rechtlichen Prüfung, ob im Rahmen eines solchen Strafverfahrens die unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze beziehungsweise das unabdingbare Maß an Grundrechtsschutz und der völkerrechtliche Mindeststandard eingehalten würden, als entbunden angesehen, weil es davon ausgegangen sei, dass der Beschwerdeführer nicht dorthin überstellt werde. Dabei führe es selbst aus, dass angesichts der Situation in Tschetschenien einer Auslieferung dorthin vorgebeugt werden müsse.

Belastbarkeit des einseitigen Vorbehalts nicht geprüft

Laut BVerfG ist bereits zweifelhaft, ob das Gericht für die Widerlegung eines von ihm für möglich erachteten Auslieferungshindernisses, welches durch die Situation in der Zielregion entstehe, auf weitergehende, im späteren Bewilligungsverfahren einzuholende Sicherungsmechanismen habe verweisen dürfen. Denn die betroffene Person habe im Bewilligungsverfahren nur noch eingeschränkte Rechtsschutz- und Einflussmöglichkeiten. Jedenfalls aber hätte das OLG, bevor es sich auf im Bewilligungsverfahren aufzustellende einseitige Bedingungen hätte berufen und die weitere Aufklärung des Sachverhalts im Hinblick darauf unterlassen können, prüfen müssen, inwiefern mit einer solchen Bedingung im Bewilligungsverfahren sichergestellt werden könne, dass eine Auslieferung des Beschwerdeführers nach Tschetschenien mit hinreichender Sicherheit auszuschließen ist. Der Vorbehalt der Verlagerung des örtlichen Gerichtsstandes aus dem nordkaukasischen Föderalbezirk erweise sich vor dem Hintergrund der russischen Rechtslage aber jedenfalls als nicht hinreichend belastbar. Daher hätte es der weiteren Aufklärung des Sachverhalts im Zulässigkeitsverfahren unter Einbeziehung der Situation im nordkaukasischen Föderalbezirk bedurft.

BVerfG, Beschluss vom 30.10.2019 - 2 BvR 828/19

Redaktion beck-aktuell, 11. Dezember 2019.