BVerfG zur VBL-Zusatzversorgung: Vorerst kein höherer Zahlungsanspruch für benachteiligte rentenferne Versicherte – Tarifvertragsparteien dürfen letztmalig nachbessern

Obwohl rentenferne Versicherte durch das reformierte Zusatzversorgungsrecht im öffentlichen Dienst, wie vom Bundesgerichtshof wiederholt gerügt, verfassungswidrig benachteiligt werden, ist es nicht zu beanstanden, dass die Fachgerichte den Tarifvertragsparteien eine letzte Möglichkeit zur Nachbesserung eingeräumt haben, bevor sie einen Anspruch auf Zahlung einer höheren Zusatzrente gewähren. Dies hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 09.05.2018 entschieden. Allerdings sei der zeitliche Rahmen für die erneute Nachbesserung kurz zu bemessen (Az.: 1 BvR 1884/17).

BGH rügte Berechnung der Startgutschriften bei rentenfernen Versicherten wiederholt als gleichheitswidrig

Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes erhalten nach Renteneintritt regelmäßig eine Zusatzversorgung über die Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL). Die Höhe der Versorgung beruht auf einem Tarifvertrag, dessen Inhalt die VBL in ihre Satzung übernimmt. 2002 führten die Tarifvertragsparteien ein neues, beitragsorientiertes Berechnungssystem ein. Bis dahin erworbene Ansprüche wurden durch Startgutschriften in das neue System übertragen. Bei rentennahen Versicherten werden die Startgutschriften weitgehend nach altem Recht ermittelt. Dagegen wird für die Startgutschriften der etwa 4,2 Millionen rentenfernen Versicherten ein vereinfachtes und für die Versicherten weniger günstiges Berechnungsverfahren verwendet. Dieses enthält ein sogenanntes Näherungsverfahren, das pauschal von 45 Versicherungsjahren ausgeht. Der Bundesgerichtshof beanstandete 2007 das Berechnungsverfahren, verzichtete aber auf eine abschließende Bewertung des Näherungsverfahrens. Zur daraufhin vorgenommenen Änderung des Berechnungsverfahrens entschied er im Jahr 2016, Personen mit ausbildungsbedingt spätem Diensteintritt würden weiterhin unter Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG unangemessen benachteiligt. Die Berechnung der Startgutschriften sei daher nicht verbindlich.

Rentenferne Versicherte begehrte höhere Zusatzrente

Die 1947 geborene Beschwerdeführerin gehört zu den rentenfernen Versicherten. Sie verlangte im Ausgangsverfahren die Zahlung einer höheren Zusatzrente nach altem Recht und hilfsweise die Feststellung, dass die Berechnung der Zusatzrente nach neuem Recht unverbindlich ist. Das Oberlandesgericht gab dem Hilfsantrag statt, wies die Zahlungsklage aber - wie schon das Landgericht - ab. Der BGH wies die Revision der Beschwerdeführerin zurück. Mit ihrer anschließend erhobenen Verfassungsbeschwerde rügte die Beschwerdeführerin, die Entscheidungen verletzten ihren Anspruch auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

BVerfG: Fachgerichte durften Tarifvertragsparteien letzte Nachbesserungsmöglichkeit einräumen

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Der Anspruch der Beschwerdeführerin auf effektiven Rechtsschutz sei nicht verletzt. Die Entscheidung der Fachgerichte, ein letztes Mal davon abzusehen, die VBL zur Zahlung einer höheren Zusatzrente an rentenferne Versicherte zu verurteilen, sei mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes in diesem Fall vereinbar. Der BGH und das OLG hätten zwar wiederholt entschieden, dass das Verfahren zur Berechnung der Zusatzrente gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt. Rentenferne Versicherte und damit auch die Beschwerdeführerin erhielten somit weiterhin eine Zusatzrente, deren Höhe nach Maßgabe verfassungswidriger Regelungen berechnet worden sei. Allerdings hätten die Gerichte die Berechnung für unverbindlich erklärt und in den Entscheidungsgründen die Tarifvertragsparteien ausdrücklich aufgefordert, zeitnah ein verfassungskonformes Berechnungsverfahren zu schaffen. Zudem hätten sie in Aussicht gestellt, andernfalls die VBL zur Zahlung einer höheren Zusatzrente zu verurteilen.

Nachbesserungsfrist allerdings kurz zu bemessen

Das BVerfG hält dies in der vorliegenden besonderen Fallkonstellation für vertretbar. Die Fachgerichte wollten einer Entscheidung der Tarifvertragsparteien, denen grundsätzlich die Ausgestaltung des Zusatzversorgungsrechts obliege, nicht vorgreifen. Allerdings gehe dies inzwischen seit geraumer Zeit mit einer Benachteiligung der rentenfernen Versicherten einher. Die Fachgerichte hätten den Tarifvertragsparteien deshalb letztmalig die Möglichkeit eröffnet, ein in jeglicher Hinsicht mit dem Grundgesetz vereinbares Berechnungsverfahren der Zusatzversorgung zu schaffen. Durch dieses müssten nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlungen dann auch rückwirkend beseitigt werden. Der zeitliche Umfang der dafür vom OLG angesetzten "nicht mehrjährigen Prüfungsphase" sei aus rechtsstaatlichen Gründen kurz zu bemessen.

Frauenbenachteiligung per Näherungsverfahren durch Fachgerichte zu klären

Ob das Berechnungsverfahren darüber hinaus entgegen Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG Frauen gegenüber Männern ungleich behandle, weil typisch weibliche Erwerbsbiografien mit Kindererziehungszeiten nach dem Näherungsverfahren regelmäßig zu einer geringeren Zusatzrente führen, sei in den angegriffenen Entscheidungen nicht entscheidungserheblich geworden, so das BVerfG weiter. Zwar sei es für Frauen, die bislang tatsächlich weit häufiger als Männer zur Kindererziehung ihre Arbeitstätigkeit unterbrechen, strukturell nachteilig, wenn bei der Berechnung der Zusatzrente eine fiktive Rente für einen Zeitraum von 45 Pflichtversicherungsjahren zugrunde gelegt wird. Es könne aber nicht ausgeschlossen werden, dass dieser strukturell nachteilige Effekt des Näherungsverfahrens durch andere Rechenfaktoren beseitigt worden sei. Ob im Ergebnis eine Benachteiligung wegen des Geschlechts vorliege, müssten die Fachgerichte in künftigen Entscheidungen über Zusatzrenten prüfen.

BVerfG, Beschluss vom 09.05.2018 - 1 BvR 1884/17

Redaktion beck-aktuell, 19. Juni 2018.