BVerfG: Gottesdienste müssen in Ausnahmefällen möglich sein

Gottesdienste in Kirchen, Moscheen und Synagogen sowie Zusammenkünfte anderer Glaubensgemeinschaften zur gemeinsamen Religionsausübung dürfen im gegenwärtigen Stadium der Corona-Pandemie nicht generell verboten werden. Dies hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 29.04.2020 auf einen Eilantrag eines muslimischen Vereins hin entschieden. Vorläufig müssten Ausnahmen im Einzelfall möglich sein (Az.: 1 BvQ 44/20).

Muslimischer Verein wandte sich gegen Gottesdienst-Verbot

Der Antragsteller, ein eingetragener Verein mit rund 1.300 Mitgliedern, beabsichtigt, insbesondere in den noch ausstehenden Wochen des Fastenmonats Ramadan das Freitagsgebet in der von ihm genutzten Moschee durchzuführen. Er hat beim Oberverwaltungsgericht Lüneburg eine Normenkontrollklage mit dem Ziel eingelegt, das in der niedersächsischen Corona-Verordnung enthaltene Verbot von Gottesdiensten insoweit für ungültig zu erklären, als die für Verkaufsstellen und Ladengeschäfte geltenden Schutzvorkehrungen eingehalten werden.

OVG lehnte Eilantrag ab

Den mit der Normenkontrollklage verbundenen Antrag auf eine einstweilige Außervollzugsetzung des Verbots lehnte das OVG ab. Zwar stelle das ausnahmslose Verbot des gemeinsamen Freitagsgebets im Fastenmonat Ramadan einen überaus schwerwiegenden Eingriff in die grundrechtlich geschützte Glaubensfreiheit dar. Dem Freitagsgebet komme insbesondere in dieser Zeit eine zentrale liturgische Bedeutung zu. Das Verbot sei jedoch zur Vermeidung von Infektionen weiterhin erforderlich. Das Gefährdungspotenzial von Gottesdiensten sei wesentlich höher als bei Einkäufen in Verkaufsstellen und Ladengeschäften. Im Unterschied zu Einkäufen seien Gottesdienste durch gezielte, auf längere Dauer ausgerichtete gemeinsame Aktivitäten geprägt, bei denen insbesondere wegen der Gleichzeitigkeit von Gebeten und Gesängen mit einem hohen Virenausstoß zu rechnen sei. Anschließend begehrte der Antragsteller beim BVerfG, die Durchführung von Gottesdiensten per einstweiliger Anordnung zu ermöglichen.

BVerfG: Gottesdienste müssen im Einzelfall zugelassen werden können

Das BVerfG hat das entsprechende Verbot in der niedersächsischen Corona-Verordnung insoweit vorläufig außer Vollzug gesetzt, als danach ausgeschlossen ist, auf Antrag im Einzelfall Ausnahmen von dem Verbot zuzulassen. Einstweiliger Rechtsschutz sei zu gewähren, weil ein Abwarten bis zum Abschluss eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens die vom Antragsteller vor allem erstrebte Durchführung von Freitagsgebeten während des Fastenmonats Ramadan mit hoher Wahrscheinlichkeit vereiteln und ihm auf lange Zeit das gemeinsame Beten als eine wesentliche Form der Ausübung seiner Religion unmöglich machen würde, obwohl eine Verfassungsbeschwerde gegen den Ablehnungsbeschluss des Oberverwaltungsgerichts voraussichtlich Erfolg hätte.

Infektionsrisiko kann bei Gottesdiensten höher sein als in Geschäften

Nicht zu beanstanden sei die Annahme des OVG, dass die Gefährdungslage bei Einkäufen und Gottesdiensten unterschiedlich zu beurteilen sein kann, so das BVerfG. Aus dem Vorbringen des Antragstellers selbst ergebe sich, dass die Einschätzung des Risikos von Infektionen durch Kontakte zwischen Personen bei der Veranstaltung von Gottesdiensten in Moscheen in größerem Umfang von den konkreten Umständen des Einzelfalles etwa hinsichtlich der Größe und Struktur der jeweiligen Glaubensgemeinschaft abhänge als bei der Erledigung von Einkäufen in Verkaufsstellen. So weise er etwa darauf hin, dass es auf die jeweils vertretene Lehre ankomme, ob beim Freitagsgebet gesungen und das Gemeinschaftsgebet von allen Gläubigen laut gesprochen werde. Außerdem mache er für seinen Fall geltend, dass ihm die Mitglieder seiner Gemeinde bekannt seien, was es ihm ermögliche, diese individuell zu jeweils einem Freitagsgebet einzuladen, wodurch Warteschlangen vor der Moschee vermieden werden könnten.

Komplettverbot aber derzeit nicht vertretbar

Mit Blick auf den schwerwiegenden Eingriff in die Glaubensfreiheit, den das Verbot von Gottesdiensten in Moscheen nach dem Vorbringen des Antragstellers jedenfalls insoweit bedeute, als auch Freitagsgebete während des Fastenmonats Ramadan erfasst seien, sei kaum vertretbar, dass die Verordnung keine Möglichkeit für eine ausnahmsweise Zulassung solcher Gottesdienste in Einzelfällen eröffne, in denen bei umfassender Würdigung der konkreten Umstände – eventuell unter Hinzuziehung der zuständigen Gesundheitsbehörde – eine relevante Erhöhung der Infektionsgefahr zuverlässig verneint werden könne. Das gelte jedenfalls angesichts der derzeitigen Gefahrensituation und der sich hieran anschließenden aktuellen Strategie zur Bekämpfung der epidemiologischen Gefahren. Es sei nicht erkennbar, dass eine einzelfallbezogene positive Einschätzung in keinem Fall erfolgen kann.

Umfassende Schutzvorkehrungen möglich

Das Vorbringen des Antragstellers mache deutlich, welche Möglichkeiten insoweit in Betracht kämen. Er weise darauf hin, dass in den von ihm durchgeführten Freitagsgebeten nicht gesungen werde und beim Gemeinschaftsgebet nur der Imam laut vorbete. Als Schutzvorkehrungen würden eine Pflicht der Gläubigen zum Tragen von Mund-Nasen-Schutz, die Markierung derjenigen Stellen in der Moschee, welche die Gläubigen zum Gebet einnehmen könnten und eine Vergrößerung des Sicherheitsabstands gegenüber den für Verkaufsstellen geltenden Vorgaben um das Vierfache angeboten. So solle eine gegenüber der Einkaufssituation erhöhte Infektionsgefahr durch das längere Beisammensein einer größeren Personengruppe vermieden werden. Auch habe der Antragsteller nach Rücksprache mit den zuständigen theologischen Instanzen die Genehmigung erhalten, in der von ihm genutzten Moschee mehrere Freitagsgebete durchzuführen und damit die einzelnen Veranstaltungen klein zu halten.

Vorgaben für Abwägung im Einzelfall

Bei einem Antrag auf eine ausnahmsweise Zulassung von Gottesdiensten, wie er nunmehr auch vom Antragsteller gestellt werden könne, sei maßgeblich für die Risikoeinschätzung das Gewicht des mit dem Verbot verbundenen Eingriffs in die Glaubensfreiheit, das hier insbesondere hinsichtlich des Freitagsgebets im Fastenmonat Ramadan besonders groß sei, aber auf der anderen Seite unter anderem auch die Möglichkeit, die Einhaltung von Auflagen und Beschränkungen effektiv kontrollieren zu können, die örtlichen Gegebenheiten sowie Struktur und Größe der jeweiligen Glaubensgemeinschaft und nicht zuletzt die – gegebenenfalls auch auf die Region bezogene – aktuelle Einschätzung der von sozialen Kontakten ausgehenden Gefährdungen für Leib und Leben.

BVerfG, Beschluss vom 29.04.2020 - 1 BvQ 44/20

Redaktion beck-aktuell, 30. April 2020.