BVerfG lehnt Eilantrag zum EU-Wiederaufbaufonds ab
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Mit 750 Milliarden Euro aus gemeinsamen Schulden will die Europäische Union nach der Corona-Pandemie wieder auf die Beine kommen. Aber in Deutschland haben Kritiker das Bundesverfassungsgericht eingeschaltet. Deren Eilantrag gegen das Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz hat das BVerfG nun nach Vornahme einer Folgenabwägung abgelehnt. Damit kann der Bundespräsident das Gesetz zum EU-Wiederaufbaufonds ausfertigen.

Eigenmittelbeschluss ermächtigt Kommission zu Aufnahme von Krediten bis 750 Milliarden Euro

Auf der Tagung des Europäischen Rates im Juli 2020 vereinbarten die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Europäischen Union den Mehrjährigen Finanzrahmen MFR 2021-2027 und das temporäre Aufbauinstrument "Next Generation EU" (NGEU). Mit letzterem sollen - mit einem Volumen von 750 Milliarden Euro - die gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Corona-Pandemie in den Mitgliedstaaten eingedämmt und gemildert werden. Ein Teil der Mittel soll als Zuschüsse, ein Teil als Darlehen gegeben werden. Herzstück von NGEU ist die Aufbau- und Resilienzfazilität. Der Eigenmittelbeschluss des Rates der Europäischen Union vom 14.12.2020 regelt die Grundlagen der Finanzierung dieser Maßnahmen. Darin wird die Europäische Kommission - ausschließlich zur Bewältigung der Folgen der Corona-Pandemie - ermächtigt, im Namen der EU an den Kapitalmärkten Mittel bis zu einem Betrag von 750 Milliarden Euro zu Preisen von 2018 aufzunehmen. Er tritt erst nach Zustimmung aller Mitgliedstaaten in Kraft. Der Deutsche Bundestag nahm den Gesetzentwurf zum ERatG am 25.03.2021 an. Der Bundesrat stimmte ihm am 26.03.2021 zu.

Antragsteller: Eigenmittelbeschluss 2020 wandelt EU in Fiskalunion um

Dagegen hat das "Bündnis Bürgerwille" um den früheren AfD-Vorsitzenden Bernd Lucke Verfassungsbeschwerde eingelegt. Mit dem Eilantrag wollte es erreichen, dass dem Bundespräsidenten bis zur Entscheidung des BVerfG in der Hauptsache untersagt wird, das Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz auszufertigen. Die Antragsteller tragen vor, der Eigenmittelbeschluss 2020 wandle die EU in eine Fiskalunion um. Sie machen im Wesentlichen geltend, das Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz verletze sie in ihren Rechten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG, Art. 79 Abs. 3 GG.

BVerfG: Antrag im Hauptsacheverfahren nicht offensichtlich unbegründet

Das BVerfG hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach Vornahme einer Folgenabwägung abgelehnt. Zwar sei der Antrag im Hauptsacheverfahren nicht offensichtlich unbegründet. Die Einwände der Antragsteller ließen es jedenfalls nicht ausgeschlossen erscheinen, dass die Ermächtigung der Europäischen Kommission zur Aufnahme von 750 Milliarden Euro auf dem Kapitalmarkt über die in Art. 311 Abs. 3 AEUV enthaltene Ermächtigung hinausgeht. Ferner sei nach ihrem Vortrag nicht auszuschließen, dass Deutschland unter bestimmten Umständen hierfür haften müsste und dass dadurch die durch Art. 110 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG und Abs. 2  in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG geschützte haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Bundestages berührt wird.

Verletzung haushaltspolitischer Gesamtverantwortung des Bundestages nicht sehr wahrscheinlich

Bei summarischer Prüfung lasse sich eine hohe Wahrscheinlichkeit für einen Verstoß gegen die durch Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 110 GG und Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG geschützte haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Bundestages allerdings nicht feststellen. Der Senat habe bislang nicht entschieden, ob und inwieweit sich unmittelbar aus dem Demokratieprinzip eine justiziable Begrenzung der Übernahme von Zahlungsverpflichtungen oder Haftungszusagen herleiten lässt. Dabei komme es mit Blick auf das Demokratieprinzip nur auf eine evidente Überschreitung von äußersten Grenzen an. Eine unmittelbar aus dem Demokratieprinzip folgende Obergrenze könnte allenfalls überschritten sein, wenn sich die Zahlungsverpflichtungen und Haftungszusagen im Eintrittsfall so auswirkten, dass die Haushaltsautonomie jedenfalls für einen nennenswerten Zeitraum nicht nur eingeschränkt würde, sondern praktisch vollständig leerliefe, wobei der Gesetzgeber namentlich mit Blick auf die Frage der Eintrittsrisiken und die zu erwartenden Folgen für die Handlungsfreiheit des Haushaltsgesetzgebers über einen weiten Einschätzungsspielraum verfügt.

Schuldenhöhe und mögliche Haftung Deutschlands begrenzt

Vor diesem Hintergrund sprächen bei summarischer Prüfung vorliegend folgende Gründe gegen eine Berührung der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung des Bundestags: Die Ermächtigung der Europäischen Kommission, am Kapitalmarkt Mittel bis zu 750 Milliarden Euro zu Preisen von 2018 aufzunehmen, führe nicht zu einer unmittelbaren Haftung Deutschlands und des Bundeshaushalts. Eine solche komme nur in Betracht, wenn die Mittel der Europäischen Union nicht ausreichen, um den Verpflichtungen aus der Mittelaufnahme nachzukommen, und die Kommission die erforderlichen Mittel nicht auf andere Weise, etwa durch kurzfristige Kassenkredite, bereitstellen könne. In diesem Fall hafteten die Mitgliedstaaten grundsätzlich anteilsmäßig ("pro rata") entsprechend ihrem Finanzierungsanteil am Budget der EU. Nur wenn ein Mitgliedstaat einem derartigen Kapitalabruf ganz oder teilweise nicht rechtzeitig nachkomme, könne die Kommission von anderen Mitgliedstaaten zusätzliche Mittel abrufen, wobei wiederum der jeweilige Finanzierungsanteil zugrunde zu legen sei. Schließlich sehe der Eigenmittelbeschluss vor, dass die Tilgung zum 31.12.2058 abgeschlossen sein muss. Höhe, Dauer und Zweck der von der Europäischen Kommission aufzunehmenden Mittel seien daher ebenso begrenzt wie die mögliche Haftung Deutschlands. Die entsprechenden Mittel seien zudem ausschließlich zur Bewältigung der Folgen der COVID-19-Krise einzusetzen. Eine zusätzliche Kreditaufnahme durch die Europäische Union sei nicht vorgesehen.

Genauere Prüfung Sache des Hauptsacheverfahrens

Ob die Ausgestaltung des Eigenmittelbeschlusses 2020 den sich aus Art. 79 Abs. 3 GG ergebenden Anforderungen an den Schutz der Haushaltsautonomie des Deutschen Bundestages vollständig Rechnung trage, werde im Verfahren der Hauptsache zu klären sein. Dabei werde insbesondere zu prüfen sein, ob durch den Eigenmittelbeschluss 2020 dauerhafte Mechanismen begründet werden, die auf eine Haftungsübernahme für Willensentscheidungen anderer Staaten hinausliefen, ob Verpflichtungen entstehen könnten, die für das Budgetrecht des Bundestages von struktureller Bedeutung seien, sowie ob gewährleistet sei, dass ein hinreichender parlamentarischer Einfluss auf die Art und Weise des Umgangs mit den zur Verfügung gestellten Mitteln besteht. Ausgeschlossen sei eine Berührung der Verfassungsidentität insoweit angesichts des Umfangs des Haftungsrisikos, seiner Dauer und der begrenzten Mitwirkungsmöglichkeiten des Bundestages nicht.

Folgenabwägung: Nachteile bei verzögertem Inkrafttreten überwiegen

Da sich der Ausgang des Hauptsacheverfahrens als offen erweise, habe das BVerfG grundsätzlich eine Folgenabwägung vorzunehmen. Diese gehe hier zulasten der Antragsteller aus. Erginge die einstweilige Anordnung, könnte der Eigenmittelbeschluss 2020 bis zur Entscheidung in der Hauptsache nicht in Kraft treten. Das Hauptsacheverfahren werde voraussichtlich einen erheblichen Zeitraum in Anspruch nehmen. Ein verzögertes Inkrafttreten des Eigenmittelbeschlusses 2020 würde dessen wirtschaftspolitische Zielsetzung beeinträchtigen. Die damit verbundenen Nachteile könnten sich zudem als irreversibel herausstellen und – da das Aufbauinstrument NGEU gerade der Bewältigung der Folgen der COVID-19-Pandemie dienen solle und die Maßnahmen über einen relativ kurzen Zeitraum erfolgen sollen – angesichts der mit dieser Pandemie verbundenen Dynamik ihren Zweck verfehlen. Ein verspätetes Inkrafttreten hätte nach Einschätzung der Bundesregierung, der bei der Bewertung außenpolitisch erheblicher Sachverhalte ein weiter Einschätzungs- und Prognosespielraum zukomme, zudem erhebliche außen- und europapolitische Verwerfungen zur Folge.

Eigenmittelbeschluss bei späterer Verfassungswidrigkeit nicht irreversibel

Demgegenüber wögen die Nachteile erheblich weniger schwer, die sich ergäben, wenn die einstweilige Anordnung nicht erlassen wird, sich das Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz später jedoch als verfassungswidrig erweisen sollte. Der Eigenmittelbeschluss 2020 könnte nach der Zustimmung aller Mitgliedstaaten in Kraft treten und die Europäische Kommission wäre ermächtigt, bis 2026 im Namen der EU Mittel bis zu 750 Milliarden Euro zu Preisen von 2018 an den Kapitalmärkten aufzunehmen. Für den Bundeshaushalt könnten sich daraus nur dann zusätzliche Belastungen ergeben, wenn die Gesamtguthaben der EU ihren Kassenmittelbedarf nicht decken. Für den Fall, dass sämtliche andere EU-Mitgliedstaaten ihrer Nachschusspflicht nicht nachkämmen, könnte sich bis 2058 rechnerisch nach Darstellung der Bundesregierung eine jährliche Belastung des Bundeshaushalts von etwa 21 Milliarden Euro ergeben. Dieses Szenario hielten Bundestag und Bundesregierung für unrealistisch. Sollte sich der Eigenmittelbeschluss 2020 im Hauptsacheverfahren als Ultra-vires-Akt erweisen, bestehe die Möglichkeit, dass der – vom BVerfG nach Art. 267 AEUV zu befassende – EuGH den Eigenmittelbeschluss für nichtig erklärt. Stelle der Senat einen Ultra-vires-Akt fest oder sollte er entgegen der summarischen Prüfung im vorliegenden Beschluss eine Berührung der Verfassungsidentität durch den Eigenmittelbeschluss bejahen, müssten Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat die ihnen zu Gebote stehenden Maßnahmen ergreifen, um die Verfassungsordnung wiederherzustellen.

BVerfG, Beschluss vom 15.04.2021 - 2 BvR 547/21

Redaktion beck-aktuell, 21. April 2021 (dpa).