KG: Erkenntnisse aus längerfristiger Observation unterliegen in anderen Strafverfahren der Verwendungsbeschränkung des § 477 II 2 StPO

StPO §§ 163f, 477 II 2; StVG § 21 I

1. Der in § 477 II 2 StPO gewählte Terminus der bestimmten Straftaten erfasst nicht nur konkret und numerisch bezeichnete Katalogtaten, sondern auch generalklauselartig umschriebene Delikte wie etwa Straftaten von erheblicher Bedeutung (§ 163f I StPO).

2. Ergibt sich bei einer wegen des Verdachts der Rauschgiftkriminalität angeordneten längerfristigen Observation (§ 163f StPO) als Zufallsfund, dass der Beschuldigte ein ganz anderes Delikt minderer Bedeutung (hier: Fahren ohne Fahrerlaubnis) begangen hat, so verbietet § 477 II 2 StPO in der Regel einen Export dieser Erkenntnis in ein anderes Strafverfahren. (Leitsätze des Gerichts)

KG, Beschluss vom 20.12.2018 - 3 Ws 309/18, BeckRS 2018, 35802

Anmerkung von 
Rechtsanwalt Thomas Malsy, Ignor & Partner GbR, Berlin

Aus beck-fachdienst Strafrecht 03/2019 vom 07.02.2019

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Sachverhalt

Der Beschwerdeführer (B) wurde aufgrund eines Haftbefehls, nach dem er 22 Vergehen des vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis, eines Vergehens der falschen Verdächtigung und eines versuchten Einbruchsdiebstahls dringend verdächtig sei, festgenommen. In den Fällen 1-20 gründete sich der Verdacht des vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis auf Erkenntnisse, welche die polizeilichen Zeugen in einem anderen Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts einer Straftat nach § 29a BtMG durch längerfristige Observation des B gem. § 163f StPO gewonnen hatten. Der Haftbefehl wurde noch vor Anklageerhebung außer Vollzug gesetzt. Nachdem die StA Anklage zum Schöffengericht erhoben hatte, beantragte der Verteidiger (V) die Aufhebung des Haftbefehls in Bezug auf die Fälle 1-20, um die Rechtsfrage eines Verwertungsverbots nach § 477 II 2 StPO höchstrichterlicher Klärung zuzuführen. Die Beschwerde gegen den ablehnenden Beschluss des AG verwarf das LG. V focht den Beschluss des LG durch weitere Beschwerde an, wobei er seinen Beschwerdeantrag wiederholte.

Entscheidung

Das KG hob die vorbezeichneten Beschlüsse des AG und LG sowie in Bezug auf die Fälle 1-20 den Haftbefehl auf. Zwar richte sich die weitere Beschwerde nicht gegen den Haftbefehl, sondern ziele darauf ab, im Vorfeld der Hauptverhandlung die im Gerichtsbezirk des KG streitige Rechtsfrage der Anwendbarkeit des § 477 II 2 StPO zu klären. Indes sei zweifelhaft, ob es im Strafprozessrecht eines über die – wegen des Haftbefehls formell bestehende – Beschwer hinausgehenden besonderen Rechtsschutzbedürfnisses bedürfe. Zudem könne angesichts der bestehenden Beschwer im Falle einer Behandlung als unzulässig sofort ein Rechtsmittel mit angepasster Begründung nachgeschoben werden. Die damit statthafte und als zulässig zu behandelnde Beschwerde sei auch begründet, weil wegen der Vorwürfe vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in den Fällen 1-20 ein Beweisverwertungsverbot nach § 477 II 2 StPO bestehe. Der Wortlaut der Vorschrift erlaube es, den Terminus Verdacht bestimmter Straftaten iS eines Verdachts auf einen in irgendeiner Form eingeschränkten Kreis von Taten zu verstehen. Der Gesetzgeber habe das Gesamtsystem der strafprozessualen heimlichen Ermittlungsmethoden harmonisieren und systematisieren sowie grundrechtssichernd und dem datenschutzrechtlichen Zweckbindungsgrundsatz entsprechend ausgestalten wollen. Die Gesetzesvorlage erläutere zu § 101 III StPO, dass die in § 101 I StPO aufgeführten Maßnahmen – zu denen auch die längerfristige Observation (§ 163f StPO) zähle – vom Verdacht bestimmter, in den jeweiligen Regelungen näher umschriebener Straftaten abhängig seien und damit das Eingreifen der Verwendungsbeschränkungen in § 477 II StPO auslösen. Nach der systematischen, historischen und teleologischen Auslegung werde deutlich, dass unter bestimmte Straftaten iSd § 477 II 2 StPO nicht nur so genannte Katalogtaten – also konkret und gegebenenfalls enumerativ bezeichnete Straftatbestände – sondern auch generalklauselartig umschriebene Delikte wie Straftaten von erheblich Bedeutung iSd § 163f I StPO zu verstehen seien. Zur Aufklärung des vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis hätte eine längerfristige Observation – auch bei serieller Tatbegehung – nicht angeordnet werden dürfen, weil es sich dabei nicht um Straftaten von erheblicher Bedeutung handele. Sie seien nicht dem Bereich mittlerer Kriminalität zuzuordnen und wiesen eine geringe Strafrahmenobergrenze von einem Jahr aus. Zudem entsprechen sie vorliegend einem durchschnittlichen Erscheinungsbild. Zwar gelte das Verwendungsverbot des § 477 II 2 StPO dann nicht, wenn die zufälligen Erkenntnisse, die bei einer zulässig angeordneten Überwachung gewonnen wurden (sog. Zufallsfunde), eine Straftat betreffen und belegen, die im Zusammenhang mit der in der Anordnung bezeichneten Katalog stehe. Indes bestehe ein solch enger innerer Zusammenhang zwischen der Tat nach § 29a BtMG, wegen der die Maßnahme der längerfristigen Observation angeordnet worden sei, und der tatsächlich festgestellten Tat des Fahrens ohne Fahrerlaubnis offensichtlich nicht. Schließlich sei nicht von einer Einwilligung des B auszugehen. Mangels dringenden Tatverdachts hinsichtlich der 20 Taten des Fahrens ohne Fahrerlaubnis sei der Haftbefehl insoweit aufzuheben.

Praxishinweis

Die besondere Bedeutung des Beschlusses ergibt sich daraus, dass nach der Auffassung des KG unter den Begriff bestimmter Straftaten iSd § 477 II 2 StPO nicht nur konkret und numerisch bezeichnete Katalogtaten, sondern auch generalklauselartig eingegrenzte Delikte wie etwa Straftaten von erheblicher Bedeutung gem. § 163f StPO fallen. Es handelt sich – soweit ersichtlich – um die erste obergerichtliche Entscheidung, bei der eine solche Auslegung vorgenommen wurde. Das KG hat sich damit einer in der Lit. im Vordringen befindlichen Meinung angeschlossen. Danach werden von der Verwendungsbeschränkung des § 477 II 2 StPO Daten aus allen (heimlichen und offenen) Erhebungsmaßnahmen erfasst, bei denen sich der Verdacht auf einen in irgendeiner Form eingeschränkten Kreis von Taten beziehen muss (vgl. nur BeckOK StPO/Wittig § 477 Rn. 5 mwN). Es bleibt abzuwarten, ob sich andere Obergerichte und der BGH der Auffassung des KG anschließen werden.

Redaktion beck-aktuell, 7. Februar 2019.