AG Wittlich: Es bestehen keine datenschutzrechtlichen Bedenken bei der Herausgabe der gesamten Messreihe im Rahmen der Akteneinsicht bei einem Geschwindigkeitsverstoß

StVO §§ 41, 49; StPO § 147 I; OWiG § 46 I

1. Im Rahmen der Akteneinsicht in einem Bußgeldverfahren wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung sind dem Betroffenen bzw. seinem Verteidiger folgende Unterlagen zur Verfügung zu stellen: Die gesamten digitalen Falldaten im gerätespezifischen Format für die gesamte Messreihe inklusive der Rohmessdaten, die Statistikdatei/Case-List der Messreihe, alle Wartungs- und Instandsetzungsnachweise für das gegenständliche Messgerät seit der letzten Eichung vor der gegenständlichen Messung, die Eichnachweise des Messgeräts seit der ersten Inbetriebnahme sowie die Baumusterprüfbescheinigung Konformitätsbewertung des Messgeräts.

2. Soweit Persönlichkeitsrechte anderer Verkehrsteilnehmer durch die Einsicht betroffen sind, ist das Recht auf ein faires Verfahren höherrangig.

AG Wittlich, Beschluss vom 06.08.2018 - 36b OWi 8011 Js 21030/18 jug, BeckRS 2018, 18700

Anmerkung von 
Rechtsanwalt Dr. Saleh R. Ihwas, Knierim & Kollegen Rechtsanwälte, Mainz

Aus beck-fachdienst Strafrecht 19/2018 vom 27.09.2018

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Sachverhalt

Durch Bußgeldbescheid vom 22.2.2018 hat die Zentrale Bußgeldstelle beim Polizeipräsidium gegen den Betroffenen (B) wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 34 km/h ein Bußgeld i.H.v. 120 EUR verhängt. Die Geschwindigkeitsmessung hat das Polizeipräsidium ausweislich des Messprotokolls mit dem Messgerät Vitronic Poliscan FM 1, Seriennummer 777544 mit der Softwareversion 4.4.5 durchgeführt. Gegen den Bescheid hat B form- und fristgerecht Einspruch eingelegt.

Rechtliche Wertung

Bei dem Geschwindigkeitsmessverfahren Vitronic Poliscan FM 1 handele es sich um ein standardisiertes Messverfahren, bei dem die Physikalisch-Technische-Bundesanstalt (PTB) im Wege eines antizipierten Sachverständigengutachtens die grundsätzliche Zuverlässigkeit der Messung festgestellt habe. B müsse daher, um Zweifel an der Richtigkeit der Messung begründen zu können, im jeweiligen Verfahren konkrete Anhaltspunkte darlegen, die für die Unrichtigkeit der Messung sprächen. Eine pauschale Behauptung, mit der die Richtigkeit der Messung angezweifelt werde, genüge nicht. Ein solch dezidierter Vortrag sei B jedoch nur dann möglich, wenn er oder seine Verteidigerin Zugang zu den Messunterlagen habe. Die Verwaltungsbehörde habe ihnen daher bereits vor Erlass des Bußgeldbescheids Zugang zu Informationen zu gewähren, die für die Verteidigung von Bedeutung sein könnten. Dies folge aus dem Recht auf Akteneinsicht und dem Recht auf ein faires Verfahren. Um diese Rechte effektiv gewähren zu können, sei es erforderlich, dem B bzw. seiner Verteidigerin Einsicht in die genannten Unterlagen und Daten zu gewähren, um mithilfe dieser Daten ggf. Fehlmessungen oder Fehlfunktionen des Messgeräts aufzeigen zu können, die Zweifel auch an der Messung des B begründen könnten. Das LG Trier habe hierzu bereits ausgeführt:

Darüber hinaus kann nicht verlangt werden, dass bereits vor Einsicht in die Messserie konkrete Mängel vorgetragen werden, da sich bestimmte Fehlerquellen erst aus einem Vergleich der eigenen Falldatei mit den anderen im Messzeitraum durchgeführten Messungen ergeben können. Zudem können ggf. erst anhand der weiteren Falldaten der Messreihe Fehler aufgedeckt werden, die allen Messungen der Messserie anhaften, aber aus der konkreten Messung bei B nicht ersichtlich sind. Ferner besteht die Möglichkeit, durch Aufzeigen mehrerer Fehlerquellen bei anderen Messungen die aus dem standardisierten Verfahren folgende Vermutung korrekter Messungen der gesamten Messserie zu. Der Verteidigerin sind daher die digitalen Falldatensätze inklusive unverschlüsselter Rohmessdaten der gesamten Messserie auf einem von ihr bereitgestellten Speichermedium zur Verfügung zu stellen. Datenschutzrechtliche Bedenken bestehen insoweit nicht. Zwar sind bei Zurverfügungstellung der gesamten Messreihe auch die Persönlichkeitsrechte anderer Verkehrsteilnehmer betroffen. Dieser Eingriff ist jedoch hinzunehmen. Der Anspruch auf ein faires Verfahren ist insoweit höherrangig, zumal es sich um einen relativ geringfügigen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte Dritter handelt. Mit der Zurverfügungstellung der gesamten Messserie werden zwar Foto und Kennzeichen übermittelt, nicht aber die Fahrer- oder Halteranschrift. Zudem besteht bei der Übermittlung an den Verteidiger als Organ der Rechtspflege grundsätzlich auch keine Gefahr der Weitergabe der Daten an Dritte.

Dieser Rechtsauffassung schließe sich das Gericht vollumfänglich an.

Praxishinweis

Der Beschluss befasst sich mit dem im Straßenverkehrsrecht häufig auftretenden Problem, in welche Unterlagen der Betroffene bzw. sein Verteidiger im Falle eines Geschwindigkeitsverstoßes Einsicht erhält. Diese Thematik ist bereits Gegenstand einer Vielzahl gerichtlicher Entscheidungen gewesen, die je nach den Umständen des Einzelfalles zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen (ein Einsichtsrecht bejaht bspw. das OLG Celle, BeckRS 2016, 20705, verneint das OLG Frankfurt a.M.,  BeckRS 2016, 104714).

Die vorliegende verteidigerfreundliche Entscheidung unterstreicht noch einmal in begrüßenswerter Weise, dass das Recht auf ein faires Verfahren den Einblick in die gesamte Messreihe gebietet. Darüber hinaus stellt der Beschluss klar, dass das Recht auf ein faires Verfahren etwaige datenschutzrechtliche Bedenken – trotz der zwischenzeitlich in Kraft getretenen Datenschutzverordnung – überwiegt.

Redaktion beck-aktuell, 28. September 2018.