OLG Koblenz: Nur unvermeidliche Beschränkungen in der Untersuchungshaft zulässig

StPO § 119; GG Art. 6 I

1. Untersuchungsgefangenen dürfen nach § 119 StPO nur solche Beschränkungen auferlegt werden, die der Zweck der Untersuchungshaft oder die Ordnung in der Vollzugsanstalt erfordert. Die Auslegung der Vorschrift hat der Tatsache Rechnung zu tragen, dass ein Untersuchungsgefangener noch nicht verurteilt ist und deshalb allein den unvermeidlichen Beschränkungen unterworfen werden darf.

2. Besuche durch Familienangehörige können nur bei Vorliegen schwerwiegender Gründe abgelehnt werden, insbesondere wenn einer Flucht- oder Verdunkelungsgefahr durch die Überwachung des Besuches nicht ausreichend begegnet werden kann. (Leitsätze des Gerichts)

OLG Koblenz, Beschluss vom 29.09.2016 - 2 Ws 428/16, BeckRS 2016, 110321

Anmerkung von 
Rechtsanwalt Björn Krug, Fachanwalt für Strafrecht und Steuerrecht, Knierim & Krug Rechtsanwälte, Mainz

Aus beck-fachdienst Strafrecht 01/2017 vom 19.1.2017

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Sachverhalt

A wurde am 1.7.2016 festgenommen und befindet sich seitdem aufgrund Haftbefehls des AG vom 7.6.2016 in Untersuchungshaft. Ihm wird u. a. gemeinschaftlicher erpresserischer Menschenraub in Tateinheit mit schwerer räuberischer Erpressung und gefährlicher Körperverletzung sowie eine weitere versuchte Erpressung zum Nachteil eines Zeugen zur Last gelegt. Der Haftbefehl ist auf Flucht- und Verdunkelungsgefahr gestützt. Die StA hat gegen A am 4.7.2016 Anklage zum LG erhoben. Mit dem angegriffenen Beschluss vom 29.7.2016 hat der Vorsitzende der Strafkammer die Anträge des A vom 19.7.2016 auf Erteilung von Besuchserlaubnissen für seine Eltern, seinen Bruder und seine Schwester mit der Begründung abgelehnt, die Besuche dieser Personen könnten dazu missbraucht werden, Verdunklungshandlungen vorzunehmen, insbesondere auf Zeugen Einfluss zu nehmen. Hiergegen wendet sich A mit seiner Beschwerde vom 18.8.2016, welcher der Kammervorsitzende mit Beschluss vom 22.8.2016 nur insoweit abgeholfen hat, als der Schwester eine Einzel-Besuchserlaubnis mit der Einschränkung akustischer und optischer Überwachung erteilt wurde. Die GenStA hat beantragt, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.

Rechtliche Wertung

Die Beschwerde ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg. Den betroffenen Angehörigen des A ist eine Besuchserlaubnis zu erteilen.

Untersuchungsgefangenen dürften nach § 119 StPO nur solche Beschränkungen auferlegt werden, die der Zweck der Untersuchungshaft oder die Ordnung in der Vollzugsanstalt erfordert. Wie alle grundrechtseinschränkenden Bestimmungen sei auch diese Vorschrift an den durch sie eingeschränkten Grundrechten zu messen; ihre Auslegung habe der Tatsache Rechnung zu tragen, dass ein Untersuchungsgefangener noch nicht verurteilt ist und deshalb allein den unvermeidlichen Beschränkungen unterworfen werden darf. Dabei müssten konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Freiheitsentziehungszwecks oder der Anstaltsordnung vorliegen; der Umstand allein, dass ein möglicher Missbrauch eines Freiheitsrechts nicht völlig auszuschließen ist, reiche nicht aus. Stelle die einschränkende Maßnahme – wie hier – auch einen Eingriff in das Grundrecht aus Art. 6 I GG dar, bedürfe es einer besonders eingehenden, auch die Dauer der Untersuchungshaft einbeziehenden und am Kriterium der Zumutbarkeit orientierten Prüfung, ob eine Besuchseinschränkung unverzichtbar vom Zweck der Untersuchungshaft oder der Ordnung im Vollzug gefordert wird. Besuche durch Familienangehörige könnten deshalb nur bei Vorliegen schwerwiegender Gründe abgelehnt werden, insbesondere wenn einer Flucht- oder Verdunkelungsgefahr durch die Überwachung des Besuches nicht ausreichend begegnet werden kann.

An diesen Grundsätzen gemessen könne die einschränkungslose Versagung einer Besuchserlaubnis für die Eltern und den Bruder des A keinen Bestand haben. Zwar bestünden aus den in der Stellungnahme der GenStA ausgeführten Umständen hinreichend konkrete Anhaltspunkte dafür, dass A die Besuche seiner Angehörigen missbrauchen und diese dazu instruieren könnte, auf den Geschädigten oder weitere Zeugen einzuwirken, um sich der Strafverfolgung zu entziehen. Dieser Gefahr könne jedoch durch die optische und akustische Überwachung der Besuche, verbunden mit der Auflage, die Unterhaltung ausschließlich in deutscher Sprache zu führen, wirksam begegnet werden. In diesem Fall sei sichergestellt, dass die überwachenden Beamten bei spontanen Einflussnahmeversuchen des A in das Gespräch eingreifen und den Besuch gegebenenfalls abbrechen können. Es bestünden somit mildere Möglichkeiten als die einschränkungslose Versagung der Besuchserlaubnis, welche sich damit nicht als verhältnismäßig erweist. Wie die zu erteilenden Besuchserlaubnisse im Einzelnen auszugestalten seien, bleibe dem Kammervorsitzenden vorbehalten, weshalb der Senat die Sache insoweit an diesen zurückgegeben hat.

Praxishinweis

Die Entscheidung des OLG Koblenz verdient uneingeschränkte Zustimmung. So nachvollziehbar das Sicherungsinteresse der Strafjustiz auch sein mag, zum Zeitpunkt der Untersuchungshaft gilt der Betroffene als unschuldig. Einschränkungen sind daher immer besonders gründlich auf ihre Verhältnismäßigkeit hin zu überprüfen (BVerfG NJW 1976, 1311).

Familienbesuche mit der bloßen Behauptung einer möglichen Flucht- oder Verdunklungsgefahr zu untersagen, ist auch ohne Rückgriff auf Art. 6 I GG, dem Schutz der Familie, höchst bedenklich. Denn in aller Regel wird zumindest einer dieser Haftgründe nach § 112 II StPO vorliegen. Die Einzelfallprüfung ist also notwendig, um nicht pauschal sämtliche (Familien-)Besuche zu untersagen. Dabei ist die optische und/oder akustische Überwachung zwar eine gravierende Beschränkung, die eingehender Prüfung und Begründung bedarf. In jedem Fall aber ist sie das mildere Mittel gegenüber einem vollständigen Besuchsverbot (BVerfG NStZ 1996, 613), dieses kann allenfalls in besonders gelagerten Extremfällen die richtige Lösung sein (vgl. auch Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 119 Rn. 9 f. mwN).

Redaktion beck-aktuell, 20. Januar 2017.