LSG Baden-Württemberg: Arbeitsunfall durch Organisationspflichtverletzung

SGB VII §§ 2, 7, 8

Eine Organisationspflichtverletzung des Arbeitgebers, wegen der eine Nothilfemaßnahme für eine berufsunabhängige Gesundheitsstörung unterbleibt, erfüllt insoweit nicht die Voraussetzungen eines Arbeitsunfalls. (Leitsatz des Verfassers)

LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 14.12.2018 - L 8 U 4654/17, BeckRS 2018, 33754

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 02/2019 vom 01.02.2019

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Sachverhalt

Der Kläger erlitt auf der Arbeitsstelle am 27.04.2015 einen Herzinfarkt. Der Kläger, geboren 1960, war seit 1992 bei der DB Netz AG tätig, und zwar als Gleisarbeiter. Am 27.04.2015 brach er zu Beginn der Nachtschicht, während seine Kollegen das Schienenfahrzeug zur Abfahrt vorbereiteten, auf dem Betriebshof seines Arbeitgebers zusammen. Er erlitt einen Herzinfarkt, war zunächst bewusstlos und wurde durch seine Arbeitskollegen bzw. andere Laien über ca. 55 Minuten reanimiert. Der Kläger erlitt eine hypoxische Hirnschädigung. Er wurde stationär intensivmedizinisch behandelt und befindet sich seitdem im Wachkoma. Auf den Antrag der Ehefrau (zugleich Betreuerin), das Ereignis als Arbeitsunfall anzuerkennen, erging der mit der Klage angefochtene Bescheid. Danach wird ein Versicherungsfall abgelehnt. Der Kläger sei im Gleisbereich ohnmächtig geworden. Ein eigentliches Unfallereignis läge nicht vor. Es handele sich um eine innere Erkrankung.

Gegen den ablehnenden Widerspruchsbescheid erhob der Kläger Klage, mit der er geltend machte, dass seine Tätigkeit als Gleisarbeiter eine sehr schwere körperliche Arbeit sei. Die Notfallmanagerin sei nicht sofort erreichbar gewesen. Der Krankenwagen sei erst ca. eine Stunde nach dem Unfall gekommen. Der Herzinfarkt sei durch extreme arbeitsbedingte Belastung ausgelöst worden. Er war mit schweren Verladetätigkeiten beschäftigt. Bei dem Sturz erlitt er eine starke Prellmarke an der linken Augenbraue. Ein normaler Herzinfarkt führe nicht zu einer Hirnschädigung. Das SG hat ein Gutachten eingeholt und die Klage dann abgewiesen mit dem angefochtenen Gerichtsbescheid. Das Ereignis vom 27.04.2015 habe keinen Arbeitsunfall dargestellt, sondern es liege eine als schicksalsmäßig zu bewertende innere Ursache für das Auftreten des Herzinfarkts vor. Dagegen richtet sich die Berufung des Klägers. Zu diesen schweren Folgen wäre es nicht gekommen, hätte der Arbeitgeber sofort reagiert und wären sofort die ärztlich notwendigen Maßnahmen durchgeführt worden. Die Tatsache, dass erst Stunden später die ärztlich notwendigen Maßnahmen in die Wege geleitet worden seien, führten dazu, dass zumindest für die Hirnschädigung das Ereignis als Arbeitsunfall anerkannt werden müsse.

Entscheidung: Organisationspflichtverletzung ist kein Versicherungsfall

Das LSG weist die Berufung des Klägers nach Anhörung sowohl der Ehefrau als auch verschiedener Zeugen zurück. Fest steht, dass der Kläger am 27.04.2015 einen Hinterwandinfarkt mit Kammerflimmern sowie nachfolgend eine hypoxische Hirnschädigung erlitten hat. Dass diese Gesundheitsschäden rechtlich wesentlich auf die versicherte Tätigkeit des Klägers zurückgeführt werden können, sei dagegen nicht festzustellen. Der Kläger hatte zwar seine versicherte Tätigkeit aufgenommen, u.a. Werkzeug aus seinem Transportbus herausgegeben, zum Zeitpunkt des Herzinfarkts und kurz davor aber nicht die behauptete schwere Tätigkeit verrichtet. „Innere Ursachen“ lösen nicht ein Unfallereignis aus. Dies bestätigt schon das Gesetz in § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII, wonach für die Definition des Unfalls es auf äußere Einwirkungen ankommt. Zwar könne auch der auf eine Arbeitsschicht bezogene betriebsbedingte Stress ausnahmsweise als derartige äußere Einwirkung in Betracht kommen. Hier lag ein derart „schichtbezogener“ Stress jedoch nicht vor.

Ausnahmsweise führt jedoch eine durch unversicherte innere Umstände in Gang gesetzte Kausalkette dann zu einem den Versicherungsschutz der gesetzlichen Unfallversicherung auslösenden Unfall, wenn die Folgen des Unfalls durch die Besonderheit der versicherten Verrichtung wesentlich verschlimmert wurden, wie z.B. beim Sturz bei der Arbeit wegen eines nicht versicherten Schwächeanfalls von der Leiter. Ein solcher Geschehensablauf konnte hier aber nicht festgestellt werden. Die Schädelprellung hat zu den Gesundheitsschäden allenfalls geringfügig beigetragen.

Soweit der Kläger vorträgt, die Einstandspflicht der BG werde schon dadurch ausgelöst, dass der Arbeitgeber seinen Organisationsverpflichtungen nicht nachgekommen sei, folgt ihm der Senat nicht. Bei der gesetzlichen Unfallversicherung handelt es sich nicht um eine das gesamte Verhalten des Arbeitgebers erfassende Versicherung. Versichert sind nur die Folgen im Gesetz definierter Versicherungsfälle. Hierzu gehört aber nicht eine Organisationspflichtverletzung des Arbeitgebers. Unabhängig davon konnte der Senat ein schuldhaftes Zögern bei der Leistung von erster Hilfe durch die am Ereignisort, einem Betriebshof, anwesenden Arbeitskollegen nicht feststellen. Die Vorhaltung eines Defibrillators zur Anwendung durch Laien ist nicht verpflichtend gesetzlich geregelt.

Praxishinweis

1. Man kann umgekehrt aus der Entscheidung durchaus herauslesen, dass schwerwiegende Verstöße gegen Arbeitsschutzvorschriften und sich daraus ergebende negative gesundheitliche Folgen nach einem Sturz aus „innerer Ursache“ eine Leistungsverpflichtung der BG auslösen könnten – unabhängig davon, dass es nicht Sache der BG ist, den Arbeitsschutz zu realisieren, sondern des Arbeitgebers.

2. Das LSG Bayern hatte mit Urteil vom 06.11.2017 (BeckRS 2017, 134514, dazu auch Ricken, NZA 2018, 96) über einen vergleichbaren Fall zu entscheiden gehabt: Ein Vorarbeiter befand sich auf Dienstreise und verstarb an einem Herzinfarkt/Schlaganfall im Hotelzimmer. Er wurde offensichtlich erst Stunden nach dem Anfall (tot) gefunden. Die Witwe möchte geltend machen, ohne die betriebsbedingte Dienstreise wäre es nicht zum Tod des Versicherten gekommen, weil z.B. zuhause umgehend eine Notfallbehandlung realisiert worden wäre. Diese Argumentation ist das LSG Bayern – ebenso wie vorstehend das LSG Baden-Württemberg – nicht gefolgt und hat den für den Anspruch auf Hinterbliebenenrente erforderlichen betrieblichen Zusammenhang verneint.

Redaktion beck-aktuell, 4. Februar 2019.