LSG Bayern: Sozialversicherungsbeiträge im Rahmen einer Kündigungsschutzklage

SGB III § 143; SGB IV §§ 7, 23; SGB VI § 170

Bei einer Kündigungsschutzklage werden Beitragsansprüche zur Sozialversicherung ausnahmsweise erst mit Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens fällig, auch wenn zwischenzeitlich die Arbeitsentgeltansprüche des Beschäftigten bereits verfallen sind. (Leitsatz des Gerichts)

LSG Bayern, Urteil vom 15.02.2017 - L 10 AL 116/16, BeckRS 2017, 118963

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 20/2017 vom 13.10.2017

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Sachverhalt

Streitig ist, ob die Klägerin Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung an die beklagte Agentur für Arbeit zu zahlen hat, die die Beklagte anlässlich der Zahlung von Arbeitslosengeld für einen Arbeitnehmer der Klägerin im Wege der Gleichwohlgewährung aufzubringen hatte.

Ein Arbeitnehmer der Klägerin meldete sich am 17.02.2003 bei der Beklagten (Agentur für Arbeit) arbeitslos und beantragte die Zahlung von ALG I. Die Klägerin hatte das Arbeitsverhältnis mit S. fristlos mit Schreiben vom 02.01.2003 und bereits vorausgehend unter Einhaltung der Kündigungsfrist mit Schreiben vom 20.12.2002 zum 31.03.2003 gekündigt. Hierauf bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 12.03.2003 ALG I für die Zeit ab 17.02.2003. Nachdem S. gegen die Klägerin eine Kündigungsschutzklage erhoben hatte, zeigte die Beklagte gegenüber der Klägerin erstmals auch den Anspruchsübergang in Bezug auf Arbeitsentgeltansprüche des S. an. Die damit verbundene Anfrage, die Klägerin möge auf die Einrede der Verjährung und die Geltendmachung eventuell einschlägiger Ausschlussfristen verzichten, blieb seitens der Klägerin unbearbeitet. Jahre später, nämlich im Jahre 2008 hat das LAG festgestellt, dass auch durch die ordentliche Kündigung vom 20.12.2002 das Arbeitsverhältnis nicht beendet worden sei. Die Klägerin lehnt den seitens der Arbeitsagentur geltend gemachten Anspruch auf rückständigen Lohn (übergegangen gem. § 115 SGB X) ab, weil dieser Lohanspruch verjährt bzw. verfallen gemäß einer Ausschlussklausel im Haustarifvertrag ist. Mit angefochtenem Bescheid machte die Beklagte gegenüber der Klägerin geltend, es seien ihr die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung zu erstatten, die anlässlich der Zahlung von ALG I im Zeitraum vom 01.04.2003 bis 21.09.2004 durch die Beklagte an den Träger der gesetzlichen Rentenversicherung von ihr abgeführt worden sind. Dem Bescheid widersprach die Klägerin. Die Forderung sei verjährt und die Entgeltansprüche verfallen.

Die Klage gegen den ablehnenden Widerspruchsbescheid war erfolgreich. Die Klägerin habe ihrem Arbeitnehmer für den Zeitraum vom 01.04.2003 bis 21.09.2004 kein Arbeitsentgelt geschuldet. Der Arbeitnehmer habe keine Leistungsklage gegen seinen Arbeitgeber erhoben. Damit seien Beitragsansprüche, die die Einzugsstelle hätte geltend machen können, nicht fällig geworden, so dass eine Einziehung ausgeschlossen gewesen sei. Dagegen richtet sich die Berufung der Beklagten. Maßgeblich sei allein, dass ein Arbeitsentgeltanspruch für den streitigen Zeitraum des ALG I-Bezuges überhaupt bestanden habe.

Entscheidung

Das LSG gibt der Berufung in vollem Umfang statt. Der Arbeitgeber hat der Bundesagentur die im Falle des § 143 Abs. 3 SGB III geleisteten Beiträge zur Kranken- und Rentenversicherung zu ersetzen, soweit er für dieselbe Zeit Beiträge zur Kranken- und Rentenversicherung des Arbeitnehmers zu entrichten gehabt hätte (vgl. § 335 SGB III). Im Zeitraum vom 01.04.2003 bis 21.09.2004 hat die Beklagte auf der Grundlage des § 143 SGB III ALG I bezahlt, obwohl der Anspruch des Versicherten wegen eines zeitgleich bestehenden Anspruchs auf Arbeitsentgelt gem. § 143 Abs. 1 SGB III dem Grunde nach ruht. Die Pflicht der Klägerin zur Abführung von SV-Beiträgen war mit der Fälligkeit des Arbeitsentgelts entstanden, wobei die Beitragszahlung erst mit dem Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens fällig geworden ist. Das Arbeitsverhältnis dauerte während des Kündigungsschutzprozesses an und damit auch die Beschäftigung gem. § 7 SGB IV. Beitragsansprüche sind also gem. § 22 SGB IV entstanden und auch gem. § 23 Abs. 1 SGB IV fällig geworden, und zwar abweichend von dieser Vorschrift nicht laufend mit dem Anspruch auf Arbeitsentgelt, sondern erst mit Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens. Dies hat das BSG schon mit Urteil vom 25.09.1981 (BSGE 52, 152) entschieden. Hier wurde ein Fälligkeitstatbestand sui generes im Wege richterlicher Rechtsfortbildung geschaffen, um den Besonderheiten der Beitragspflicht und Beitragsentrichtung während eines Kündigungsschutzprozesses und den sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Versicherungspflicht gerecht zu werden, sofern ein Weiterbeschäftigungsanspruch während des Kündigungsschutzprozesses gegenüber dem Arbeitgeber nicht durchzusetzen ist. Zeitgleich habe eine Versicherungspflicht (in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung) bestanden, die durch den Bezug von Entgeltersatzleistungen begründet wird.

Soweit die Klägerin dagegen einwendet, dies stehe im Widerspruch zur Rechtsprechung des BAG zur Verjährung des Annahmeverzugslohns, verneint das LSG einen Widerspruch. Dies deshalb, weil die Beitragsansprüche unabhängig vom Fortbestand und einer Durchsetzbarkeit der Arbeitsentgeltansprüche zu beurteilen sind und allein deren Entstehen voraussetzen. Auch die Bezugnahme der Klägerin auf die Rechtsprechung zur Verjährung von Beitragsansprüchen (dazu BSG, NZS 2016, 469) führen zu keiner anderen Betrachtungsweise: Diese Entscheidung behandelt lediglich die Erstattung zu Unrecht gezahlter Beiträge, so dass in der Entscheidung dort die Fragen des Bestandes eines Pflichtversicherungsverhältnisses und der Klarheit über den Versicherungsschutz keine tragenden Aspekte dargestellt habe.

Praxishinweis

1. Dass Arbeitsentgeltansprüche während des Kündigungsschutzprozesses verfallen sind, ändert an der Pflicht zur Zahlung der SV-Beiträge nichts. Dies entspricht dem Schutzkonzept des Gesetzes. Von dieser Beitragspflicht dem Grunde nach zu trennen ist die Frage, wann diese Beiträge fällig werden. Dies ist erst nach Abschluss der Kündigungsschutzklage der Fall, was das LSG überzeugend aus der Entscheidung des BSG vom 25.09.1981 (a.a.O.) ableitet.

2. Die Beitragsansprüche sind jedoch nicht verjährt, da Beiträge erst vier Jahre nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem sie fällig geworden sind, gem. § 25 Abs. 1 SGB IV verjähren. Dem Arbeitgeber mag diese Pflicht zur Beitragszahlung Jahre nach der Kündigung unbillig erscheinen. Diese Beitragspflicht ist aber Konsequenz der Tatsache, dass eine Kündigung als unwirksam aufgehoben wurde. Dass während des Kündigungsschutzprozesses der Arbeitnehmer offensichtlich keine Arbeiten verrichtet hat, reicht für den Wegfall des Entgeltanspruchs und damit den Wegfall der Beitragspflicht nicht aus, wenn der Arbeitnehmer seine Arbeitskraft zur Verfügung gestellt hat. Man kann wohl davon ausgehen, dass irgendwann während des Rechtsstreits der Arbeitnehmer einen neuen Job angenommen hat. Dies war dann aber offensichtlich zu einem Zeitpunkt der Fall als der Anspruch auf Alg I erschöpft war.

Redaktion beck-aktuell, 17. Oktober 2017.