BSG: Erziehungsbeistand nach § 30 SGB VIII ist selbständig tätig

SGB IV § 7; SGB VIII §§ 8a, 30; SGG § 103

1. Die Tätigkeit als Erziehungsbeistand nach § 30 SGB VIII kann aufgrund eines Vertrages i.V.m. der Vereinbarung gem. § 8a SGB VIII eine selbständige sein, sofern der Erziehungsbeistand weder Weisung seitens des Jugendamtes von erheblichem Gewicht unterliegt noch in dessen Arbeitsorganisation eingegliedert ist.

2. Am Fehlen eines Weisungsrechts ändert auch die Verpflichtung des Erziehungsbeistands auf die im Hilfeplan genannten Ziele nichts. Liegt das vereinbarte Honorar deutlich über dem Arbeitsentgelt einen vergleichbar eingesetzten sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und lässt es dadurch Eigenvorsorge zu, ist dies ein gewichtiges Indiz für eine selbstständige Tätigkeit. (Leitsätze des Verfassers)

BSG, Urteil vom 31.03.2017 - B 12 R 7/15 R, BeckRS 2017, 114148

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 14/2017 vom 21.7.2017

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Sachverhalt

Der klagende Landkreis ist Träger der öffentlichen Jugendhilfe. Zur Erfüllung seiner Aufgaben schließt er mit freien Trägern sowie Einzelpersonen Verträge ab, die Leistungen der Jugendhilfe vor Ort in Familien erbringen. Neben einer Vollzeittätigkeit war der beigeladene Heilpädagoge für etwa vier bis sieben Stunden pro Woche als Erziehungsbeistand auf der Basis einzelner mit der Klägerin abgeschlossener Honorarverträge tätig. Hierfür erhielt er ein Honorar i.H.v. 40 EUR bis 41,50 EUR je Betreuungsstunde.

Die beklagte DRV Bund stellte fest, dass der Heilpädagoge in dieser Tätigkeit als Beschäftigter der Sozialversicherungspflicht unterliegt. Auf die dagegen gerichtete Klage hat das SG den Bescheid aufgehoben, weil der Heilpädagoge in seiner Tätigkeit für den Kläger nicht sozialversicherungspflichtig gewesen sei. Das LSG hat die Berufung der beklagten DRV Bund zurückgewiesen. Abhängige Beschäftigung werde beim Kläger weder durch die Honorarverträge noch durch die Bescheide über die Bewilligung ambulanter Jugendhilfeleistungen noch durch andere Vereinbarungen oder die tatsächliche Durchführung der Tätigkeit begründet. Dagegen richtet sich die Revision der Beklagten, die u.a. auch eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht gem. § 103 SGG rügt.

Entscheidung

Das BSG weist die Revision zurück. Die vom Beklagten erhobenen Rügen mehrerer Verstöße gegen den Amtsermittlungsgrundsatz seien teils unzulässig, teils unbegründet. Unzulässigkeit liegt vor, weil nicht ausreichend Tatsachen bezeichnet seien, aus denen sich der Verstoß gegen § 103 SGG ergebe. Dies betrifft z.B. die Qualifikation des beigeladenen Heilpädagogen. Unbegründet sei die Rüge, soweit nicht ausreichend aufgeklärt sei, ob der Beigeladene an einer Supervision ausreichend oder nicht ausreichend teilgenommen habe. Dazu hat das LSG in der mündlichen Verhandlung den Beigeladenen befragt.

Im Übrigen hat das LSG die Gesamtschau aller Umstände des Einzelfalles zutreffend vorgenommen. Das LSG habe – so der Senat ausdrücklich – zu Recht angenommen, dass der beigeladene Heilpädagoge während der einzelnen Einsätze nicht beschäftigt gewesen sei. Nach dem Inhalt der Honorarverträge sowie den jeweiligen Einzelfall betreffenden „Vereinbarungen zur Sicherstellung des Schutzauftrages nach § 8a SGB VIII“ unterlag der Beigeladene weder Weisungen des Klägers noch war er in dessen Arbeitsorganisation eingegliedert. Tatsächlich wurde der Vertrag auch so praktiziert. Die rechtliche Struktur des Leistungserbringerrechts der Kinder- und Jugendhilfe weist die Gesamtverantwortung für die Erbringung von Hilfen zur Erziehung und den besonderen Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung dem Träger der Jugendhilfe zu. Hieraus folgt jedoch nicht, dass die zur Erfüllung dieser Aufgaben und Pflichten nötigen Tätigkeiten (rechtmäßig) nur in Form einer Beschäftigung ausgeübt werden können. Aus den Hilfeplänen ergibt sich die aktuelle Situation in den Familien. Ferner werden erreichte Ziele sowie neue zusätzliche Ziele dargestellt und ergänzende Vereinbarungen dokumentiert. Konkrete Anweisungen zur Zielerreichung enthalten die Hilfepläne nicht. Die Arbeit an der Realisierung der im Hilfeplan vereinbarten Ziele war auch die vom beigeladenen Heilpädagogen geschuldete Hauptleistungspflicht.

Ein für die Statusfeststellung bedeutsames Weisungsrecht kann auch nicht aus der Vereinbarung zur Sicherstellung des Schutzauftrages entnommen werden, schon gar nicht eine Eingliederung des Heilpädagogen in den Betrieb bzw. die Arbeitsorganisation des klagenden Jugendamtes. Schon nach dem Wortlaut der Honorarverträge bestand keine Verpflichtung zur Teilnahme an einer Supervision. Die Teilnahme an Supervision darf nicht verwechselt werden mit der Pflicht zur Teilnahme an Teambesprechungen, was ein Indiz für eine Beschäftigung darstellen kann (BSG, BeckRS 2012, 74813, Rn. 27).

Dass das Honorar nach Stundensätzen errechnet wurde, spricht nicht zwingend für abhängige Beschäftigung. Geht es wie vorliegend um reine Dienstleistungen, ist – anders als bei der Erstellung z.B. eines materiellen Produkts – ein erfolgsabhängiges Entgelt aufgrund der Eigenheiten der zu erbringenden Leistung nicht zu erwarten. Dies würde selbst dann gelten, wenn die Honorare für die jeweiligen Erziehungsbeistandschaften nicht frei ausgehandelt, sondern entsprechend beim Kläger gebräuchlicher Sätze festgelegt worden wären.

Praxishinweis

1. Es handelt sich wohl auch aus Sicht des 12. Senats um eine Grundsatzentscheidung, die in den amtlichen Sammlungen veröffentlich werden soll. Über den Status von Familienhelfern, Erziehungsbeiständen und weiteren Personen, die in großer Zahl im Auftrag der Jugendämter tätig werden, existiert viel Streit. Zwar kommt es auf die Gestaltung des Vertrages im Einzelfall an, jedoch kann man aus diesem Urteil entnehmen, dass der Erziehungsbeistand in der Ausübung seiner Tätigkeit auch wegen seiner Qualifikation selbständig ist. Dass diese Selbständigkeit nicht zu einem sozialen Abstieg führen darf, folgt aus den wichtigen abschließenden Erläuterungen, dass ein Honorar, welches deutlich über dem Arbeitsentgelt eines vergleichbar eingesetzten sozialversicherungspflichtig Beschäftigten liegt und dadurch Eigenvorsorge zulässt, ein gewichtiges Indiz für eine selbständige Tätigkeit darstellt. Wer also meint, die Selbständigkeit mit einem Stundensatz von 15 EUR oder 18 EUR finanzieren zu können, muss dafür sehr gewichtige Argumente vortragen.

2. Der Senat betont erneut, dass Wertungen in anderen Rechtsgebieten zwar als geltendes Recht zu beachten sind, jedoch kein „K.O.-Kriterium“ darstellen (vgl. dazu auch Knickriem/Kreikebohm/Waltermann/Berchtold, Kommentar zum Sozialrecht, 5. Aufl. 2017, § 7 SGB IV Rn. 17).

Redaktion beck-aktuell, 25. Juli 2017.