BGH: Ersatzpflichtigkeit des Rentenkürzungsschadens

BGB § 249; SGB X §§ 116, 119; SGB VI §§ 77, 187a

1. Ob eine Kürzung der Altersrente wegen des Bezugs der vorgezogenen Altersrente nach § 77 Abs. 2 SGB VI auch dann gerechtfertigt ist, wenn in einem Haftpflichtschadensfall der Schädiger oder dessen Haftpflichtversicherer den nach §§ 116 und 119 SGB X regressierenden Rentenversicherungsträger durch Erstattung der jeweiligen Rentenzahlungen und Zahlung der entgangenen Pflichtbeiträge wirtschaftlich so stellt, als sei der Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersrente erwerbstätig gewesen, ist eine sozialversicherungsrechtliche Vorfrage, die im Hinblick auf den Rechtsgedanken des § 118 SGB X im sozialgerichtlichen Verfahren zu entscheiden ist.

2. Ein nach § 249 BGB ersatzpflichtiger Rentenkürzungsschaden des Geschädigten könnte in einem solchen Fall nicht verneint werden, wenn dieser nach sozialversicherungsrechtlichen Grundsätzen gleichwohl eine Kürzung seiner Altersrente hinnehmen müsste.

3. Dass der Geschädigte einen entsprechenden Rentenabschlag durch Zahlung von zusätzlichen Beiträgen in Form eines Einmalbetrages i.S.d. § 187a Abs. 2 SGB VI hätte vermeiden können, begründet weder nach § 116 SGB X noch nach § 119 SGB X einen Übergang dieses (höchstpersönlichen) Gestaltungsrechts des Versicherten auf den Rentenversicherungsträger. (Leitsätze des Gerichts)

BGH, Urteil vom 20.12.2016 - VI ZR 664/15, BeckRS 2016, 115035

Anmerkung von 
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 05/2017 vom 17.03.2017

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Sachverhalt

Der 1945 geborene Kläger nimmt die Beklagte auf Schadenersatz aus einem Verkehrsunfall vom 08.05.2003 in Anspruch. Die volle Einstandspflicht des Beklagten als Kfz-Haftpflichtversicherer ist dem Grunde nach unstreitig. Wegen der Verletzungsfolgen war der Kläger zunächst arbeitsunfähig und schließlich arbeitslos. Auf Anraten der Beklagten stellte er bei der Deutschen Rentenversicherung Bund einen Antrag auf Bezug vorgezogener Altersrente wegen Arbeitslosigkeit nach § 237 SGB VI, die ihm ab 01.03.2006 bis zum 31.05.2010 bewilligt wurde. Ab dem 01.06.2010 bezieht er Regelaltersrente (ab Vollendung des 65. Lebensjahres). Die Altersrente wegen Arbeitslosigkeit wurde gem. § 237 Abs. 3 SGB VI vorzeitig in Anspruch genommen, da die Altersgrenzen gem. § 237 Abs. 3 Satz 3 SGB VI i.V.m. der Anlage 19 entsprechend heraufgesetzt worden sind. Der Abschlag beträgt 15,3 % gem. § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 a) SGB VI. Die Beklagte hat der DRV Bund im Regresswege das vorzeitig gezahlte Altersruhegeld in vollem Umfang erstattet und zudem für den Zeitraum, in dem die vorzeitige Altersrente gewährt wurde, Beiträge nach § 119 SGB VI in einer Höhe gezahlt, die bei einer Fortdauer der Erwerbstätigkeit des Klägers bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze von 65. Jahren angefallen wäre. Neben der Altersrente erhält der Kläger von der Berufsgenossenschaft eine Verletztenrente. Der Kläger verlangt von der Beklagten Ersatz des Schadens, der ihm durch die Kürzung seiner Altersrente entstanden ist und noch entstehen wird. LG und OLG haben die Klage abgewiesen. Dagegen richtet sich die Revision des Klägers.

Entscheidung

Der BGH weist die Revision zurück. Ein nach § 249 BGB ersatzpflichtiger Rentenkürzungsschaden des Klägers besteht auch dann, wenn er nach sozialversicherungsrechtlichen Grundsätzen trotz durchgehender Beitragszahlung gem. § 119 SGB X gleichwohl eine Kürzung seiner Rente im Vergleich zu seiner Vermögenssituation ohne den Verkehrsunfall hinnehmen müsste. Dies auch dann, wenn es nach Auffassung der DRV zutrifft, dass es bei dem Rentenabschlag verbleibt, obwohl der Schädiger die vorgezogene Altersrente der DRV im Regresswege gem. § 116 SGB X erstattet hat. Ist eine verletzungsbedingte Verkürzung späterer Versicherungsleistungen möglich, muss der Schädiger – so ausdrücklich § 119 SGB X – zwar bereits bei der Entstehung dieser Beitragslücke dafür sorgen, dass die soziale Fürsorge fortgesetzt wird und eine Verkürzung nicht eintritt. Dies schließt jedoch nicht aus, dass beim unmittelbar Geschädigten trotz des Regresses ein Restschaden hinsichtlich seiner Alterssicherung verbleibt.

Ob eine Kürzung der Altersrente wegen des Bezugs der vorgezogenen Altersrente auch dann gerechtfertigt ist, wenn in einem Haftpflichtschadenfall der Schädiger dem Rentenversicherungsträger die vorgezogene Altersrente erstattet, haben die Sozialgerichte zu entscheiden. An deren Entscheidung sind die Zivilgerichte gem. § 118 SGB X gebunden. Im vorliegenden Fall bedarf es keiner Aussetzung des Verfahrens, weil auch dann, wenn es bei der Rentenkürzung verbleibt, der Kläger selbst keinen Schadenersatzanspruch geltend machen kann, da die Rentenkürzung durch die mit dem Verdienstausfall kongruente Verletztenrente der Berufsgenossenschaft ausgeglichen wird.

Praxishinweis

1. Die Entscheidung betrifft eine seit längerem diskutierte und bekannte Konfliktsituation: Der Schädiger gewährt vollen Ersatz; der Geschädigte nimmt ein vorgezogenes Altersruhegeld in Anspruch und es bleibt trotz Beitragsregress gem. § 119 SGB X ein "Rentenschaden" (dazu schon Meyer, NZS 2014, 849; ausführlich Jahnke, VersR 2016, 1283). Die Entscheidung des BGH zeigt, dass es sich um ein sozialrechtliches Problem handelt, und zwar auf der Ebene des § 77 SGB VI: Darf die Rentenversicherung es beim Abschlag tatsächlich belassen, nachdem der Schädiger die vorgezogene Altersrente gem. § 116 SGB X regressiert hat, also der Solidargemeinschaft ein „Verlust“ durch die vorzeitige Inanspruchnahme der Rente nicht (mehr) entsteht, der aber Rechtsgrund für den Rentenabschlag ist.

2. Das SG Hildesheim (vom 14.09.2016 – S 41 R 194/15, n.v., Revision anhängig unter B 13 R 34/16 R) meint, dass dieser Fall nicht identisch ist mit dem Tatbestand des § 77 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 SGB VI, wonach der Rentenabschlag bei der Regelaltersrente entfällt, wenn die vorgezogene Altersrente „nicht mehr vorzeitig in Anspruch genommen“ wird. DRV und SG Hildesheim meinen, dass dieser Tatbestand nur dann vorliegt, wenn die vorgezogene Altersrente eingestellt wird wegen eines rentenschädlichen Hinzuverdienstes. Kommt es erst im Nachhinein zu einer Korrektur der Rente nach §§ 45, 48 SGB X (dazu z.B. LSG Bayern, BeckRS 2016, 115307) und einer Erstattung, soll es bei dem Abschlag verbleiben, eben weil die Rente (jedenfalls zunächst) tatsächlich in Anspruch genommen wurde. Diese Auffassung widerspricht dem vom Gesetzgeber verfolgten Ziel und der Tatsache, dass die Rentenanwartschaft eigentumsgleich geschützt ist, so dass der Rentenabschlag einer besonderen im Gesetz geregelten Legitimation bedarf (BVerfG, NZS 2011, 740)

3. Verbleibt es bei der Auffassung des SG Hildesheim, werden Schädiger künftig den Regressanspruch der Rentenversicherung in Bezug auf die vorgezogene Altersrente ablehnen. Sie werden dann auch die Beitragszahlung nach § 119 SGB X für die Dauer der vorgezogenen Altersrente überprüfen (oder ablehnen) mit dem Argument, dass während der vorgezogenen Altersrente entsprechende Einkünfte nicht erzielt werden dürfen (§ 34 Abs. 3 SGB VI). Mit dem Geschädigten wäre dann zu prüfen, ob es Sinn macht, zur Vermeidung des Abschlags einen Ausgleichsbetrag nach § 187 a) SGB VI zu zahlen. Der Ausgleichsbetrag ist relativ hoch, so dass Schädiger und Versicherter sich fragen müssen, ob der zu erwartende Rentenschaden diesem Betrag wirklich entspricht – sprich: wie lange der Verletzte noch zu leben gedenkt. Je kürzer die Lebenserwartung, desto unwirtschaftlicher der Ausgleichsbetrag gem. § 187a SGB VI. Eine "Kalkulation", der sich auch der Geschädigte nicht entziehen kann – jedenfalls soweit ihn am Unfall ein Mitverschulden trifft.

4. Der sich aus dem Abschlag errechnete Minderbetrag kommt als Schaden in dieser Höhe keinesfalls in Betracht, da der Schädiger mit dem Beitragsregress gem. § 119 SGB X während der vorgezogenen Altersrente zusätzliche Entgeltpunkte verschafft hat, die ihm wegen der Hinzuverdienstgrenzen ansonsten nicht zustünden (dazu im Einzelnen H. Plagemann, VersR 2016, 879).

Redaktion beck-aktuell, 21. März 2017.