BVerfG: Tarifeinheitsgesetz weitgehend verfassungsgemäß

GG Art. 9 III; TVG § 4a; ArbGG §§ 2a, 58, 99

Das Tarifeinheitsgesetz lässt das Streikrecht der Gewerkschaften unangetastet, auch wenn die Mehrheitsverhältnisse im Betrieb bekannt sind.

BVerfG, Urteil vom 11.07.2017 - 1 BvR 1571/15, 1 BvR 1588/15, 1 BvR 2883/15, 1 BvR 1043/16, 1 BvR 1477/16, BeckRS 2017, 116172

Anmerkung von
Rechtsanwältin Dr. Kathrin Haußmann, Gleiss Lutz, Stuttgart

Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 27/2017 vom 13.7.2017

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Sachverhalt

Mehrere Berufsgruppen-Gewerkschaften, Branchen-Ge­werkschaften, ein Spitzenverband und ein Gewerkschafts­mitglied rügten vor dem BVerfG die Verletzung ihrer Koalitionsfreiheit durch das Tarifeinheitsgesetz. Nachdem das BAG 2010 seine Rechtsprechung zur Tarifeinheit im Betrieb aufgegeben hatte, regelte das Tarifeinheitsgesetz vom 10.7.2015 mit § 4a TVG, wie Konflikte zwischen der Geltung mehrerer Tarifverträge innerhalb eines Betriebes aufzulösen seien. Es sieht vor, dass der Tarifvertrag der jeweiligen Gewerkschaft verdrängt wird, die weniger Mitglieder im Betrieb hat. In einem gerichtlichen Beschlussverfahren soll diese Mehrheit festgestellt werden. Der Arbeitgeber muss die Aufnahme von Tarifverhandlungen mit einer Gewerkschaft den anderen tarifzuständigen Gewerkschaften bekanntgeben und muss sich deren tarifpolitische Forderungen anhören. Die Gewerkschaft, deren Tarifvertrag verdrängt wird, hat einen Anspruch auf Nachzeichnung des verdrängenden Tarifvertrags. Die Vorschrift soll einer Entsolidarisierung der Belegschaft entgegenwirken. Nach der Gesetzesbegründung wäre der Streik um einen nicht zur Anwendung kommenden, verdrängten Tarifvertrag     – je nach Einzelfall – unverhältnismäßig.

Entscheidung

Einen Einfluss des Tarifeinheitsgesetzes auf das Verhältnis von Druck und Gegendruck im Verhältnis zum tariflichen Gegenspieler erkennt das Gericht nicht. Das Streikrecht bliebe unangetastet. Auch ein Haftungsrisiko hätte eine Gewerkschaft bei Arbeitskampfmaßnahmen weder bei klaren noch bei unsicheren Mehrheitsverhältnissen. Die Arbeitsgerichte hätten durch verfassungskonforme Anwendung der Haftungsregeln sicherzustellen, dass kein Haftungsrisiko aus einem Streik um einen Tarifvertrag entstünde, der später verdrängt würde. Die Verdrängung eines Tarifvertrags nach dem Tarifeinheitsgesetz greift in die Koalitionsfreiheit ein. Die Regelung des § 4a TVG könne grundrechtsbeeinträchtigende Vorwirkungen entfalten. Schon bei der Mobilisierung der eigenen Mitglieder für Arbeitskämpfe schwächte die Aussicht auf eine Verdrängung des Tarifvertrages einer tarifzuständigen Gewerkschaft. Ihre tarifpolitische Ausrichtung und Strategie werde dadurch beeinflusst. Auch die Entscheidung, ob und inwieweit mit anderen Gewerkschaften kooperiert werde und welches Profil sich eine Gewerkschaft geben wolle, sei eine grundrechtlich geschützte Entscheidung, die durch diese Aussicht auf eine Verdrängung von Tarifverträgen beeinflusst werde.

Das Gesetz müsse aber nur teilweise nachgebessert werden. Es fehlten Vorkehrungen, die in dem verdrängenden Tarifvertrag die Interessen derer sicherstellen, deren Tarifvertrag verdrängt werde. Um „gestörte Paritäten wieder herzustellen“ oder um einen fairen Ausgleich auf einer Seite zu schaffen, dürfte der Gesetzgeber auch die Bedingungen der Aushandlung von Tarifverträgen zur Entfaltung der Koalitionsfreiheit verändern. Es stünde kein zweifelsfrei gleich wirksames Mittel zur Verfügung, um das Verhältnis konkurrierender Gewerkschaften untereinander zu regeln. Dieses Verhältnis dürfe geregelt werden, wenn der Gesetzgeber das legitime Ziel verfolge, Anreize für ein kooperatives Vorgehen der Arbeitnehmerseite zu setzen. Die sich daraus ergebenden Belastungen, dies ist insbesondere die Verdrängung von Tarifverträgen, sei überwiegend zumutbar und müsse eventuell verfahrensrechtlich geschärft und durch eine weite Interpretation des Nachzeichnungsanspruchs ausgeglichen werden.

Die abweichende Meinung zweier Richter sieht eine „gefährliche Tendenz“, die Interessen aller Arbeitnehmer als einheitlich aufzufassen. Nur unter dieser fragwürdigen Annahme könne das Nachzeichnungsrecht angeführt werden, um die Zumutbarkeit der Verdrängung eines Tarifvertrages zu begründen. Genau dies widerspricht dem Grundgedanken des Art. 9 III GG, der ein selbstbestimmtes, gegebenenfalls auch berufsgruppenspezifisches tarifpolitisches Engagement sichern solle.

Praxishinweis

Das Streikrecht einer Gewerkschaft, deren Tarifverträge verdrängt würden, zweifelt das Gericht nicht an: Insofern wird jedenfalls der Befriedungszweck nicht erreicht, den politisch das Gesetz aus Sicht der Arbeitgeberverbände mit veranlasst hatte.

Die öffentliche, politische Diskussion um das Tarifeinheitsgesetz erweckte leicht den Eindruck, das Gesetz soll Streiks verhindern. Im Vordergrund der öffentlichen Diskussion stand weniger das Problem, dass ein Arbeitgeber an mehrere Tarifverträge gebunden sein könnte als das Problem, dass mehrere Gewerkschaften in kurzen Abständen hintereinander immer wieder streiken könnten, insbesondere in der Daseinsvorsorge. Dass daran das Tarifeinheitsgesetz nichts ändern solle, ist in der Entscheidung klar formuliert. Selbst dann, wenn schon absehbar sei, dass ein Tarifvertrag nie zur Geltung gelangen werde und auf jeden Fall verdrängt würde, bliebe das Streikrecht unangetastet.

Wenn das Bundesverfassungsgericht den Arbeitsgerichten aufgibt, auch sich daraus evtl. ergebende Haftungsrisiken durch verfassungskonforme Auslegung zu vermeiden, könnte dies heißen, dass auch die Verhältnismäßigkeit eines Streiks nicht dadurch in Frage gestellt würde, dass er auf Abschluss eines absehbar unanwendbaren Tarifvertrages zielt. Die Begründung des Tarifeinheitsgesetzes hatte in diesem Fall die Verhältnismäßigkeit eines Streiks und damit seine Rechtmäßigkeit verneint. Das Bundesverfassungsgericht befasst sich in diesem Zusammenhang nur mit der Frage, ob die vom Gesetzgeber gewollte Vorwirkung auf die Streikmotivation der Belegschaft die Koalitionsfreiheit der Gewerkschaft in unzumutbarer Weise beeinträchtige und kommt zu dem Ergebnis, dass dieser Effekt hinnehmbar sei.

Redaktion beck-aktuell, 18. Juli 2017.