In der Strafverteidigung gehört es zum Tagesgeschäft, moralisch nicht ganz einwandfreie Personen zu vertreten. Die wenigsten Mandantinnen und Mandanten sind völlig unbescholten, es sind Mörderinnen, Vergewaltiger, Steuerhinterzieherinnen, Betrüger, eine große Bandbreite menschlicher Abgründe. Doch unter vielen Bösen sind manche eben besonders Böse.
So sieht es offenbar die Berliner CDU. Sie will die Nominierung der Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız für das Berliner Landesverfassungsgericht, den sogenannten Verfassungsgerichtshof, verhindern. Dies berichten seit vergangenem Freitag der Tagesspiegel und die Süddeutsche Zeitung. Grund für die Bedenken der Unionsabgeordneten soll sein, dass Başay-Yıldız in ihrer langjährigen Strafverteidigerinnen-Tätigkeit auch diverse Menschen mit islamistischem Hintergrund verteidigt hat. Dies ruft offenbar in den Augen der Hauptstadt-CDU Zweifel an ihrer Eignung für den Richterinnenposten hervor.
Başay-Yıldız dürfte vielen aus der juristischen Welt bereits bekannt sein. Sie verteidigte Sami A., einen mutmaßlichen Leibwächter Osama bin Ladens. Er war im Juli 2018 per Flugzeug nach Tunesien abgeschoben worden, obwohl das zuständige VG Gelsenkirchen am Vorabend ein Abschiebeverbot festgestellt hatte. Başay-Yıldız erstritt in der Folge ein Zwangsgeld gegen die Stadt Bochum. Außerdem verteidigte sie Jennifer W. und Sarah O., die wegen ihrer Mitgliedschaft im sogenannten Islamischen Staat und der Versklavung zweier Jesidinnen vor Gericht standen. Sie verteidigt diese Menschen nicht nur juristisch, sie meldet sich mitunter auch medial zu Wort, kritisiert rassistische Vorurteile und aktivistische Politik. Başay-Yıldız vertritt aber nicht nur Täter, sondern auch Opfer rassistischer Gewalt. So erlangte sie weitere Bekanntheit als Nebenklage-Vertreterin im NSU-Prozess und Anwältin der Familien von Opfern des Anschlags von Hanau.
Drohungen vom "NSU 2.0"
Ab 2018 geriet Başay-Yıldız schließlich selbst ins Visier von Rechtsextremen: Sie war unter den Personen, die zwischen 2018 und 2021 E-Mails, Faxe und SMS mit rechtsextremem und volksverhetzendem Inhalt unter dem Absender "NSU 2.0" erhielten. Für diese Taten wurde ein Mann aus Berlin später rechtskräftig zu fünf Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt. Die genauen Umstände, die auch eine Abfrage der Daten der Betroffenen von einem Frankfurter Polizeicomputer umfassten, sind aus Sicht der Betroffenen, wie Başay-Yıldız, jedoch bis heute nicht vollständig aufgeklärt.
Nach alledem ist Başay-Yıldız eine vergleichsweise prominente Vertreterin ihrer Zunft, die damit aber nicht nur Fürsprecher gewonnen zu haben scheint. Die zur Bestätigung ihrer Nominierung im Berliner Abgeordnetenhaus notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit wackelt wohl aufgrund von Widerstand in den Unionsreihen. Dieser dürfte kaum mit ihren fachlichen Qualifikationen zu tun haben, die Voraussetzungen für die Wählbarkeit an den Verfassungsgerichtshof sind zudem – jedenfalls auf dem Papier – recht dünn:
Nach § 3 des Berliner Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof muss, wer Richterin oder Richter werden will, im Wesentlichen das 35. Lebensjahr vollendet haben und darf kein Mitglied einer gesetzgebenden Körperschaft oder Regierung sein oder dem öffentlichen Dienst außerhalb von Richteramt und Hochschulen angehören. Von den neun ehrenamtlich tätigen Richterinnen und Richtern müssen drei aus der Richterschaft gewählt werden, drei weitere müssen die Befähigung zum Richteramt haben. Nicht einmal ein zweites Staatsexamen ist damit zwingende Voraussetzung.
Schweigen aus Berlin, Erinnerung an Linken-Kandidatin Kreck
Wie den Medienberichten zu entnehmen ist, stören sich CDU-Abgeordnete vielmehr an Başay-Yıldız‘ Tätigkeit für Menschen mit islamistischem Hintergrund. Das wirft die Frage auf: Kann sich eine Strafverteidigerin für ein solches Amt dadurch disqualifizieren, dass sie "die Falschen" verteidigt? Oder ist es nicht gerade Kernelement des Rechtsstaats, dass jede und jeder eine bestmögliche Verteidigung erhält, selbst wenn er oder sie die freiheitlich-demokratische Grundordnung am liebsten abschaffen würde? Ist nicht jemand wie Başay-Yıldız, die sich so engagiert für rechtsstaatliche Verfahren eingesetzt hat, dass sie selbst zur Zielscheibe rechtsextremen Hasses wurde, womöglich gar eine Zierde für ein Verfassungsgericht?
All das wären Fragen, die man den Berliner Abgeordneten gerne stellen würde. Doch in der Hauptstadt ist man aktuell bemüht, das Thema nicht allzu hoch kochen zu lassen. Auf beck-aktuell-Anfrage wollte sich die Unionsfraktion nicht äußern. Aus der Grünen-Fraktion teilte der Abgeordnete Werner Graf lediglich mit: "Wir sind in konstruktiven Gesprächen. Zu Personalfragen und Details interner Verhandlungen äußern wir uns nicht." Hintergrund ist wohl, dass es in den Gesprächen nicht nur um Başay-Yıldız und ihren möglichen Posten am Gericht geht. Tatsächlich ist eine ganze Reihe von Sitzen am Berliner Verfassungsgericht neu zu verteilen. Manche Richterinnen und Richter haben noch Posten inne, die eigentlich seit 2021 neu zu besetzen gewesen wären. Wie aus Berliner Kreisen zu hören ist, will man daher die Gespräche möglichst noch vor der parlamentarischen Sommerpause erfolgreich beenden. Aus diesem Grund scheint auch niemand daran interessiert, durch öffentliche Äußerungen einen Kompromiss zu gefährden. Woher die Medieninformationen über den Vorschlag der Grünen und den CDU-Widerstand stammen, ist nicht bekannt.
Es ist nicht das erste Mal, dass eine Verfassungsrichterinnen-Wahl in Berlin für bundesweites Aufsehen sorgt: 2019 fiel Lena Kreck, die Kandidatin der Linken, in der Wahl im Abgeordnetenhaus durch, da sie das nötige Quorum von 100 Stimmen verfehlte. Auch damals galt die CDU als wichtigster Blockierer, wobei die Wahl stets geheim stattfindet. Anschließend schimpften Abgeordnete über eine "Sauerei", angeblich soll die Wahl Krecks vorher mit Unionsabgeordneten unkontrovers besprochen worden sein. Insofern ist die Vorsicht, mit der man nun das Thema angeht, durchaus verständlich, will man doch Überraschungen wie damals unbedingt verhindern.
Başay-Yıldız selbst wollte sich auf Anfrage von beck-aktuell ebenfalls nicht zu den Diskussionen äußern.